August Sperl
Hans Georg Portner
August Sperl

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Hunger.

Man schrieb den fünfzehnten Januar 1632, und Alt-Nürnbergs weiße Dächer glitzerten im Mondlichte des frühen Winterabends.

Es war eine kalte Dachkammer nahe beim Laufer Schlagturm, eine kalte Kammer mit geringem Hausrat. Der Mond schaute vom schwarzblauen Himmel in das kleine Fenster und malte die sechseckigen Scheiblein auf die weißen Dielen. Und im bleichen Mondlichte saß Georg Portners alte Magd auf einem Holzstuhle und hielt Klein-Dorel in ein Tuch gehüllt auf dem Schoße.

»Wie schön der Mond scheint!« staunte das Kind und wandte immer wieder das bleiche Gesichtchen zu der goldfunkelnden Scheibe empor.

»Leis, Dorel, ganz leis, daß die Frau Mutter und das Brüderlein nit aufwachen!« raunte die alte Magd.

»Aber mich hungert, Liesi,« sagte das Kind mit weinerlicher Stimme.

»Leis, Dorel, ganz leis, gut's Dorel, lieb's Dorel!« raunte die Magd. »Nur noch ein bissel Geduld, gleich wird ja der Herr Vater kommen!«

»Wohin ist der Vater gegangen, Liesi, sag?«

»Der Herr Vater ist 'gangen, den reichen Vetter besuchen und Geld holen, Dorel, und wenn er das 381 Geld hat, kauft er Brot, und paß nur auf, wie bald er da sein wird mit dem Brot, der Herr Vater!«

»Liesi, das sagst du jetzt immer schon, und er kommt ja doch nicht. Liesi, da, schau, da brennt mich's, da im Magen!«

»Komm, Dorel, darauf merken wir gar nit! Horch, Dorel, ich will dir was erzählen! Dorel, was soll ich dir denn erzählen, sag?«

»Ach ja, Liesi, erzählen!« bat das Kind und schmiegte sich an die alte Magd.

»Aber was denn, Dorel?«

»Erzählen!« sagte das Kind und schloß die Augen.

»Horch nur, dort, wie gut sie schläft, die Frau Mutter, horch nur, wie tief sie schnauft! Nu, was denn, Dorel? Von den drei steinernen Jungfrauen, Dorel?«

Das Kind schüttelte den Kopf.

»Oder vom Holzfrauerl?«

Das Kind schüttelte abermals den Kopf. »Liesi,« flüsterte es und öffnete die großen Augen, »mich hungert.«

»Oder vom großen Hans?« fragte die Magd eifrig.

»Das Märlein von Theuern, Liesi! Bitte, bitte, das Märlein von Theuern!«

»Aber, Dorel, das ist ja gar kein Märlein!«

»Du hast mir's aber doch so oft erzählt, Liesi?«

»Vorm Herrenhaus zu Theuern stehen hohe Lindenbäum', und führt eine steinerne Brucken über den Graben. Und auf der steinernen Brucken sitzen zwei steinerne Hirschen, rechts einer, links einer –« begann die alte Magd.

»Du, Liesi, was ist denn ein Herrenhaus?«

»Ein großes Haus, wo Herrenleut' wohnen, hat viele Kammern und Stuben.«

382 »Und gelt, Liesi, du bist selber einmal schon in Theuern gewesen?«

»Tapperl, bin ja fünfzig Jahr' drin aus- und eingegangen im Herrenhaus zu Theuern! Und bist ja du selber geboren, Tapperl, im Herrenhaus zu Theuern, weiß noch wie heut.«

Das Kind sah nachdenklich aus den großen Augen. »Sag, Liesi, warum sind wir denn von Theuern fortgegangen, wenn dort solch ein schönes Haus ist?«

»Weil da böse Leut' im Land wohnen zu Amberg, nah' bei Theuern, die sind dem Herrn Vater feind und haben uns vertrieben,« raunte die Greisin und machte ein zorniges Gesicht.

»Und gehen wir also nie mehr nach Theuern, Liesi?« fragte das Kind und sah erwartungsvoll auf.

»Schon, schon, Dorel, aber noch nit gleich, müssen halt noch ein bissel warten,« flüsterte die Magd geheimnisvoll.

»Wie lange denn, Liesi?«

»Nimmer lang, Dorel, dann kommt ein großmächtiger König mit vieltausend Soldaten, und der führt den Herrn Vater schnurstracks nach Theuern zurück.«

»Mit einer goldenen Krone?« fragte das Kind, und seine Augen leuchteten.

»Mit einer Krone von Gold und Edelgestein,« raunte die Magd.

»Aber, Liesi, wo bleiben dann wir?«

»Wir? Ja, Dorel, wir fahren alle nach Theuern, hinter dem großmächtigen König. Und paß auf, Dorel, horch, da wirst schauen! Hinterm Herrenhaus zu Theuern ist auch ein Garten, und in dem Garten stehen hundert und hundert Apfelbäum' und Birnbäum' –«

383 »Voll von Aepfeln und Birnen, Liesi?« fragte das Kind begehrlich.

»Voller Aepfel und Birn', Dorel.«

»Liesi, mich hungert, ich möcht' einen Apfel.«

»Jetzt wart nur, Kind, jetzt muß ich ja doch von Theuern erzählen! Ja, Dorel, in Theuern ist's arg, arg schön. Da rinnt ein Fluß mitten durchs Dorf, und es hat in Theuern einen hohen Kirchturm, und in der Kirchen dort da liegen dein Großvater seliger und deine Großmutter selig begraben, und noch viele, viele Leut' aus deiner Freundschaft.«

»Hast du meinen Großvater und meine Großmutter gekannt, Liesi?«

»Ei freilich, warum sollt' ich denn unsre selige Herrschaft nit gekannt haben, Dorel?«

»Liesi, du mußt aber schon alt sein – sag?«

»Zweiundsiebenzig, Dorel.«

»Und ich fünfe vorbei,« sagte das Kind nachdenklich. »Und wie alt bin ich denn gewesen, da wir in dem schönen Hause wohnten, Liesi?«

»Ein Jahr bist alt gewesen, Dorel, da sind wir fortgezogen.«

»Du, Liesi, hat der Ohm Hansjörg auch dort gewohnt?«

»Ei ja freilich, wo denn?«

»Du, Liesi, wo ist er denn jetzt?«

»Der ist zu dem großmächtigen König geritten, Dorel,« raunte die Magd.

»Und die Muhme?«

»Die ist auch bei ihm, Dorel.«

»Du, Liesi, mich hungert, ich halt's nimmer aus,« jammerte das Kind. »Da, schau, da brennt mich's im Magen. Gieb mir doch ein Stückel Brot, Liesi!«

»Aber, Herr Jesus, Dorel, ich hab' ja kein Krümmel 384 Brot. Wart nur, Kind, noch ein bissel nur wart, gleich muß der Herr Vater kommen und bringt uns Brot. Ich will dir ja auch noch viel erzählen von Theuern, sei gut, liebs Dorel.«

»Ich mag das Märlein von Theuern nimmer hören! Liesi, bitte, geh mit mir zum Bäcker, der hat ja doch Brot, Liesi, weißt, vorn an der Ecke!« bettelte das Kind.

Der alten Magd rannen zwei dicke Thränen herunter: »Das halt' aus, wer will,« murmelte sie.

»Was, Liesi?«

»Sei gut, liebs Dorel.«

»Bitte, Liesi, bitte!« schmeichelte das Kind und versuchte, sich aus der Hülle zu befreien.

»Jetzt wart nur ein bissel, Dorel, ich will horchen, ob die Frau Mutter nichts brauchen thut. So – da – nu bleib ganz ruhig stehen.«

Sie ging auf den Fußspitzen an die Kammerthüre und lauschte. Dann kam sie zurück, schlug hastig das Tuch kreuzweis um das Kind, nahm es an der Hand und ging leise mit ihm aus der Thüre.

*

Hans Andre Portner von Rieden stand in seiner warmen Wohnstube, und vor ihm stand sein Neffe Georg.

»So, so, Jörg, hm. Also auch in Nürnberg? Ich möchte dir gerne Platz anbieten, aber ich habe einen wichtigen Gang – na, soll mir nicht ankommen auf etliche Minuten, bitte, setze dich!«

»Danke,« kam die Antwort zurück. »Ich will den Herrn Vetter nicht lange stören.«

»Von stören hab' ich nichts gesagt,« murmelte Hans Andre und blickte an Georg vorbei. »Also in Nürnberg? Das ist ja eine rechte Ueberraschung.«

385 »Ich habe den Herrn Vetter jüngst schon vor der Lorenzerkirche gegrüßt, aber da hat mich der Herr Vetter nicht beachtet, und also wollt' ich ihn auch nicht mit meinem Besuche –«

»I, da hast du wohl jemand andern für mich angesehen, Jörg!«

»Nein, es ist der Herr Vetter mit der Frau Muhme gewesen,« wiederholte Georg.

»Na, und es gefällt dir in Nürnberg?«

»Gefallen?« Georg lächelte schmerzlich. »Das ist ein teures Pflaster, Herr Vetter.«

»Na freilich, Geld muß einer haben in der Stadt Nürnberg,« sagte der andre lauernd. »Aber daran wird's ja wohl nicht fehlen?«

»Ach, das ist's eben, Herr Vetter,« seufzte Georg und trat einen Schritt näher.

»Ja, warum bist du denn – 's geht mich freilich nichts an, aber ich muß doch fragen –, warum bist du denn nicht da draußen in Happurg geblieben?«

»Aber, Herr Vetter, Ihr wißt ja doch, daß da draußen kein ehrlicher Mensch bleiben kann, weil die Kaiserlichen sengen und brennen und schänden und morden!«

»Jawohl, und dann packt man auf und verzieht sich in die Stadt!« polterte Hans Andre heraus. »Und was treibst du denn hier?«

»Es hat keinen andern Ausweg gegeben,« sagte Georg ruhig. »Ich suche Arbeit, aber es ist alles überfüllt. Und dennoch, wäre nicht mein Bruder Hansjörg schon acht Tage länger aus der Stadt, als er vorhatte –«

»Ja, der Hansjörg!« fuhr Hans Andre auf. »Das ist auch solch ein Kapitel: läßt sich anwerben von der Stadt, mir nichts, dir nichts, fragt keinen Menschen 386 um Rat, und nun reitet er zum Schwedenkönig, – der Henker soll ihn holen, den Schlingel!«

»Ich dächte, der Herr Vetter spricht von meinem Bruder, dem Ehrenmanne,« sagte Georg Portner. »Und wen hätt' er denn um Rat fragen sollen, als er sich anwerben ließ? Ich dächte, er macht der Familie keine Schande als nürnbergischer Fähnrich!«

»Davon ist nicht die Rede,« unterbrach ihn Hans Andre mürrisch.

»Und warum hätte er sich weigern sollen, als man ihn zum König schickte?«

»Das ist's eben,« brach Hans Andre wieder los. »Freilich hätt' er sich weigern sollen. Wer wird denn die Nase immer vorndran haben? Ich wollt', es könnt' mir gleich sein, wenn er sich die Nase verbrennt. Aber so darf mir's nicht gleich sein.«

»Ich dächte, das kann uns wohl allen sogar noch nützen,« sagte Georg. »Wenn nun das Bündnis zwischen der Stadt Nürnberg und dem König zu stande kommt –«

»Ja, wenn!« rief Hans Andre. »Aber das ist eben die große Frage.«

»Ich dächte, das ist so gut wie abgeschlossen!«

»Jawohl, hat sich was – abgeschlossen? Und wenn auch – was muß er dann die Nase, ich sag's noch einmal, die Nase vorndran haben?«

»Ist er nicht Manns genug, sich selber zu entscheiden?« fragte Georg.

»Für seine Person kann er meinetwegen zu den Türken gehen!« schrie Hans Andre. »Was für einen Schaden aber ich von seinen Abenteuern haben werde, das ist ein ander Ding.«

Georg Portner sah dem Vetter ruhig ins Antlitz.

»Oder hat er dir vielleicht die zwölftausend Gulden 387 Kapital samt Zins und Zinseszins gegeben, die ich auf Theuern stehen habe, und du willst mir das Geld aufzählen, Jörg? Ei, recht so, nur her – dort ist ein Tisch, mach nur immer die Taschen auf!«

Georg Portner senkte das Haupt.

»Aha, so war's nicht gemeint – gelt, Jörg? Aber in nürnbergische Dienste treten, sich herandrängen zu gefährlichen Gesandtschaften, den Rebellen machen, das ist ein ander Ding. Hin ist hin, verloren ist verloren, – was kümmert's die Herren Brüder? ›Bettelleut' han's gut, han's gut‹ – heißt's im Liedel, und ist ja wahr –, ›bricht ihnen kein Ochs ein Horn, pfeift ihnen kein' Maus ins Korn, Bettelleut' han's gut, han's gut.‹ Aber an wem geht's hinaus, wenn der Kurfürst den Rebellen ächtet und Hand auf Theuern legt?«

Georg sah dem Vatersbruder voll ins Angesicht und sagte: »Hat nicht – weiß Gott, wie uns die Schulden drücken –, aber hat nicht jüngst der Herr Vetter selbst im Roten Rössel unter vielen Emigranten eine scharfe Rede für Königliche Würden aus Schweden und gegen den Kurfürsten gehalten? Oder hat man mich angelogen?«

»Zum Teufel,« fuhr Haus Andre auf, und seine Blicke suchten unstet in der Stube herum, »ich kann ja wohl einmal ein freies Wort sagen unter guten Freunden; denn ich für meine Person hab' keinen Maulwurfshaufen mehr zu eigen im Lande der oberen Pfalz. Aber an euch hängt Theuern, und auf Theuern stehen meine Zwölftausend, und da muß einer schon ein Dummkopf sein, wenn er alles auf eine Karte setzt, wie dein Bruder Hansjörg.«

»Ich verbitte mir das, Herr Vetter,« sagte Georg.

»Na, mußt nicht jedes Wort krumm nehmen,« 388 lenkte der andre ein. »Aber sag selber, was wär's gewesen, wenn er nun vorsichtig hätte im Hintertreffen warten wollen? Klug wär's gewesen, Jörg!«

»Klug!« murmelte Georg. »Klug in solchen Zeitläuften, wo's auf jeden Arm ankommt? Wollte Gott, ich verstände auch das Kriegswesen wie mein Bruder, daß sie mich auch nähmen als einen Fähnrich, und ich auch reiten könnte für die evangelische Sache!«

»Jawohl, evangelische Sache! Daß ich mein Geld gesehen hätte für alle Zeiten!«

»Aber es ist ja doch gar kein Zweifel, daß –« Georg wankte und griff nach der nächsten Stuhllehne. »Vergebt, es ist mir, es ist mir – etwas arg schwach.«

»Ein großer Zweifel!« rief Hans Andre. »Fürs erste, ob die Stadt ein Bündnis abschließt, und fürs zweite, ob der König seinen Weg auf die Oberpfalz oder anderswohin nimmt.«

»Vergebt, ich muß mich nun doch ein wenig setzen, es ist mir zu schwach.«

»Und ein Kluger hätte sich freie Hand behalten, und je nachdem hätte er sich so oder so entschieden,« schloß Hans Andre.

»Ich muß Euch nun doch sagen,« begann Georg und erhob sich mit Anstrengung, »bei mir zu Hause sieht's traurig aus: mein Weib liegt in den Wochen, und das Geld ist mir – es ist mir seit etlichen Tagen ausgegangen.«

»Und da hat sich der leichtfertige Mensch mit Weib und Kind nach Nürnberg gesetzt!« rief Hans Andre Portner und schlug die Hände zusammen.

»Ich hätte zwar noch keinen Mangel,« fuhr Georg fort, »aber es ist mir an der oberpfälzischen Grenze ein Wagen mit Getreide angehalten worden, unter 389 dem Vorgeben, man lasse ins Feindesland keine Lebensmittel hinaus.«

»Na, da haben wir's ja schon!« rief Hans Andre und begann in der Stube umherzurennen. »Ich hab's ja gesagt. Angehalten? Das gilt nur dem Rebellen, ich hab's ja gesagt! Oder glaubst du, Jörg, daß die zu Amberg nicht schon längst alles wissen von deinem saubern Herrn Bruder?«

»Ihr höhnt einen Wehrlosen,« sagte Georg mit bebenden Lippen. »Und wär's nicht um meiner hungernden Magd und Kindleins – ich bliebe – ich bliebe keine Minute –.« Er schwankte wieder.

»Höhnen? Ich werd' mich wohl ärgern dürfen über mein verlorenes Geld! Aber da, nimm einen Schluck Wein und einen Bissen Brot, mein Sohn!«

Georg trank und verschlang einen Bissen. »Ich – ich habe seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr über die Lippen gebracht,« murmelte er.

»Zu dumm, wollt' sagen zu leichtsinnig!« jammerte Hans Andre. »Und jetzt auch noch das Unglück in Theuern!«

»Welches Unglück?« fragte Georg.

»Na, das weißt du doch selber schon so gut wie ich.«

»Wissen? Nicht ein Wort, Herr Vetter!«

»Na, das Aergste ist's auch nicht; das Hin- und Herschwedeln, wie's der Hansjörg treibt, ist weit ärger. Also du weißt nicht, daß euch vor acht Tagen das Gesindel in Theuern das Herrenhaus zusammengebrannt hat?«

»Herr Vetter!« schrie Georg und faltete die Hände und stand da mit entsetzten Augen. »Das neue oder das alte?«

»Na, das alte Rattennest haben sie freilich stehen lassen – das neue, Jörg! So, du hast's nicht 390 gewußt? Thut mir leid, aber sagen hab' ich's doch müssen. Und sorg du nur, daß nicht der Fiskal zuletzt auf alles noch die Hand legt! Du hast jetzt einen Vorgeschmack, wie's thäte.«

»Es ist mein Vaterhaus gewesen,« murmelte Georg.

»Na, hat mich auch gekränkt, war ja nicht minder auch mein Stammhaus. Von Theuern!« Er lachte kurz auf. »Aber vergieb, ich habe nunmehr einen wichtigen Gang. Ich wünsche dir alles Gute, mein Sohn.«

Georg stand ruhig da und heftete die Augen auf das Gesicht des kleinen Mannes.

»Ja so, ich habe vergessen, Jörg, freilich – aber du wirst mir zugeben, Bargeld ist rar, und ich bin ein Familienvater mit Weib und vier Kindern – doch soll's mir nicht ankommen auf – na, ich will's der Magd sagen; könntest übrigens gleich selber, ist ja dunkel draußen – einen Topf voll Sauerkraut –«

»Ich danke Euch, bemüht Euch nicht,« sagte Georg Portner mit gebrochener Stimme, wandte sich und ging aus der Thüre, tastete sich mit schweren Schritten die Stiege hinab und durch den dunkeln Flur.

»Jörg, so war's ja nicht gemeint, komm doch!« rief der andre von oben herunter.

»Gute Nacht!« sagte Georg mit fester Stimme und schloß die Hausthüre hinter sich.

›Der echte Bettelstolz!‹ murmelte Hans Andre verdrießlich, ging in die warme Stube und zog die Stiefel aus. »Na, um so besser, Hans Andre Portner von und auf Theuern!«

*

Eilig war das Kind über den gefrorenen Schnee getrippelt und hatte die alte Magd hinter sich hergezogen bis zur Straßenecke an des Bäckers Haus. 391 Dort blieb es stehen und streckte sich zum Schiebfenster empor – aber das Fingerlein konnt's nicht erreichen.

»Nein, Dorel, nit so, nit so,« flüsterte die Alte, »wir gehen in die Stube, so, da komm!«

Und sie bog mit Zögern in den finstern Hausflur und klopfte an der Thüre. Dann standen die zwei in der heißen Bäckerstube.

Begehrlich schaute das Kind auf die Körbe voll Weißbrot an den Wänden, und der Bäcker am Schiebfenster wandte mürrisch das feiste Gesicht herüber: »Was giebt's?«

»Verzeiht schon,« stieß die alte Magd hervor und trat einen Schritt näher, »ich stell mich dumm an zum Borgen, aber –«

»Ich hab' dir's heut' früh schon gesagt, ich borg' nicht,« knurrte der Bäcker, »'naus da!«

»Hernach muß ich was thun, was ich noch meiner Lebtag nit gethan hab',« sagte die Magd mit bebender Stimme. »Schaut Euch das unschuldige Kind an und gebt ihm um Gottes willen ein Stückel Brot, es hat Hunger, daß ihm der Magen weh thut.«

»Das kann jeder sagen,« kam die Antwort zurück, während das Kind unverwandt auf das Brot starrte, »'naus, Bettelvolk!«

»Ich bitt' Euch mit aufgehobenen Händen, Herr, seid barmherzig, wie Euch Gott barmherzig sein soll in Eurer letzten Stund'!«

Der feiste Mann sprang von seinem Sitz auf, daß der Stuhl polternd auf den Boden stürzte, und griff nach einem Stecken: »Heiligs Dunnerwetter, ob du jetzt gleich machst, daß du 'nauskommst mit deinem Balg!«

Wortlos zog die Greisin das Kind aus der Stube durch den Hausflur auf die Straße.

»Bscht, nit weinen, Dorel, nit weinen, du kriegst 392 'n Weck, so wahr ich Liesi Fischerin heiß'. Aber nit weinen, bscht!«

Und sie zog das Kind um die Ecke und ging hastig weiter bis an das nächste enge Gäßlein. »Nit weinen, Dorel, nit weinen! So, Dorel, da stell dich her, da hinter den Prellstein in Schatten – so. Und nit fürchten – ich bring' dir 'n Weck, ich bin gleich wieder da.« Das Kind drückte sich an die Mauer und hielt den Atem an.

Und eilig lief die Magd den kurzen Weg zurück, schlüpfte wieder in den Hausflur und blieb einen Augenblick lauschend an der Stubenthüre stehen. Reden und Lachen klang heraus. Die Greisin aber öffnete vorsichtig die Thüre und spähte durch den Spalt hinein. Dann ballte sie die Hände, atmete tief, murrte vor sich hin – stieß die Thüre auf, schoß wie ein Habicht auf den nächsten Korb, griff ein Brötchen heraus und rannte zurück in den Hausflur, hinaus ins Freie.

»Die war's – Dibio!« kreischte der Bäcker und stürzte ihr nach, und mit Hallo und Dibio rannten die Leute aus der Stube hinter ihm drein.

»Dibio, Dibio!« keuchte der Bäcker. »Die dort ist's – Dibio, festhalten!«

Und Dibio gellte es die Gasse hinunter. –

Wie eine schwarze Furie mit ausgebreiteten Armen stand die Greisin vor dem bebenden Kinde am Eingange in das Gäßlein.

»Die war's!« keuchte der Bäcker und schüttelte sie heftig an der Schulter. »'raus damit!«

Und ein Knäuel von schreienden, schimpfenden, gaffenden Menschen ballte sich vor dem engen Gäßlein zusammen.

Schwer atmend, wortlos, mit funkelnden Augen stand die alte Magd vor dem zornigen Manne.

393 »Was giebt's denn da?« fragte einer mit tiefer Stimme, und es drängte sich ein großer, vornehm gekleideter Mann durch die Menge.

»Eine Diebin haben wir,« sagte der Bäcker, »nicht einmal mehr das Brot in den Ladenstuben ist sicher vor dem Emigrantengesindel, Herr.«

»Ich bin keine Diebin, ich bin des Herrn Portners von Theuern Magd, die Liesi Fischerin, dürft fragen, wen Ihr wollt!« schrie nun die Greisin.

»Aus der Ladenstube hat sie mir das Brot geraubt!« brüllte der Bäcker.

»Weil des Herrn Georg Portner von Theuern Kind nit Hungers verkommen darf!« kreischte die Magd, zog das weinende Kind aus dem Schatten und stellte es vor den Fremden. »Da, Herr, schaut Euch den Wurm an und helft, wenn Ihr ein Herz habt!«

Der Vornehme fragte: »Nochmal, wie hast du gesagt – Georg Portner von Theuern? Ist das nicht ein Oberpfälzischer vom Adel?«

»Da hört Ihr's, der Herr kennt uns, und ich bin keine Diebin!« rief die Magd und bückte sich, die Hand des Fremden zu küssen.

»Was hast du genommen?« fragte dieser und entzog ihr die Hand.

»Einen Arm voll Wecken hat mir das Vieh gestohlen!« schrie der Bäcker.

»Das da hab' ich genommen, weil er mich mit dem Kind aus dem Laden gejagt hat wie einen Hund,« sagte die Greisin und zog das Brötchen aus der Tasche und hielt es dem Fremden hin.

»Nicht wahr ist's!« kreischte der Bäcker.

»So sucht meine Taschen aus!« sagte die Alte mit Abscheu.

Der Fremde zog den Beutel und reichte dem Bäcker 394 ein Geldstück. »Ist das auf Euern Haaren Mehlstaub oder sind sie von Natur so weiß?«

Der Bäcker ließ das Geldstück in die Tasche gleiten, murmelte etwas Unverständliches, wandte sich ab und schob sich durch den Haufen.

»Iß, Dorel!« raunte die Magd, bückte sich und brach das Brötchen. »Tausendmal vergelt's Gott, Herr!«

»Georg Portner von Theuern?« fragte der Fremde noch einmal und strich liebkosend über das Köpflein des Kindes. »Platz da!« herrschte er die Gaffer an. »Und du,« befahl er der Magd, »führst mich zu deinem Herrn!« – –

Es war spät am Abende. Der Mond stand hinter den Dächern, und in der Kammer der Wöchnerin brannte ein kleines Licht.

Georg Portner saß am Lager seines Weibes und lauschte auf die ruhigen Atemzüge der Schläfer.

Da regte sich das Kindlein in der Wiege und begann zu weinen. Frau Anna Felicitas erwachte und richtete sich auf. »Du?« sagte sie schlaftrunken und tastete mit der Hand nach ihrem Manne. »Gieb mir das Kind!«

Georg hob das Kind aus der Wiege und legte es behutsam an ihre Brust.

»Es hat mir so wundervoll geträumt,« murmelte sie nach einer Weile, während das Kindlein in tiefen Zügen trank, »und nun ist alles ganz anders.«

Georg schwieg.

»Es war ein schöner Sommerabend in Theuern. Ich trug dir das Kind entgegen, und neben mir trippelte das Dorel. Da kamst du vom Hammer und nahmst mir das Kind ab, und selbviert gingen wir unterm Betläuten zurück. Es ist mir, als hörte ich noch die Glocke klingen. ›Sieh nur, wie rot, wie 395 feuerrot!‹ rief ich und blieb stehen und wies auf die Fenster. Dann aber lachte ich: ›Es ist ja nur die rote Abendsonne, die spiegelt sich in den Scheiben, als wollten die Flammen daraus brechen; aber fast wäre ich erschrocken!‹«

Georg stöhnte.

»Mit Lachen gingen wir weiter. Hansjörg und Ruth kamen uns entgegen. Ich sehe die weißen, schimmernden Mauern und die grünen Läden, Jörg, und höre die Lerchen jubeln im Felde und – ach, Jörg, es war doch wunderschön im Herrenhause zu Theuern!« – Georg schwieg.

»O, wie dumm bin ich, vergieb mir!« murmelte sie und tastete nach seiner Hand. »Vergieb, ich war noch halb im Traume.«

»Freilich ist's wunderschön gewesen im Herrenhause zu Theuern,« sagte Georg mit Anstrengung. »Und es wird auch wieder schön werden,« setzte er mit fester Stimme bei.

»Aber sag, Jörg, ich rede und träume da wie ein Kind – wie bist du denn über die letzten Tage gekommen?« fragte sie ängstlich.

Da stand Georg Portner auf, beugte sich auf sie herab und küßte sie: »Furchtbar war's, doch es ist alles vorüber, Anna Feli.«

»Furchtbar, sagst du? Ach Gott, und ich habe nicht helfen sorgen können, Jörg! Ist das Getreide freigegeben? Sag!«

»Es ist vorüber, Anna Feli,« wiederholte der Mann. »Wir sind aus aller Not.«

Dann kniete er nieder an ihrem Bett und erzählte ihr flüsternd eine lange Geschichte. Atemlos lauschte das Weib.


396 »Es ist mir fast zu viel auf einmal,« murmelte die Portnerin. »Ein Nürnberger Geschlechter, sagst du? Mit Hansjörg hat er in Bologna studiert?«

»Ja, und dort hat ihm der Bruder das Leben gerettet.«

»Aber davon hat er ja niemals erzählt, Jörg?«

»Niemals.«

»Das sieht ihm gleich. Und in Rothenburg ist das Haus und Gut, das du verwalten sollst? Ach, wie freundlich handelt doch der Herr an den Seinen, Jörg! – Bitte, lege das Kind in die Wiege! Und wie wundersam sind seine Ratschläge, nicht, Jörg?«

Behutsam legte Georg Portner seinen schlummernden Sohn in das Bettlein.

»Er schläft und weiß noch gar nichts – wohl ihm!« flüsterte er.

»Und sind wir denn nicht alle wie die Kinder, die gar nichts wissen von heute auf morgen, Jörg? Ach, Jörg, wird sich die Ruth freuen mit uns!«

Frau Anna Felicitas richtete sich auf und schlang die Arme um seinen Nacken. »Und die Nürnberger haben das Bündnis beschlossen mit dem Schwedenkönige? Lobe den Herrn, meine Seele!«

»Amen!« sagte der Emigrant und küßte sein Weib.


Stille war's in der kleinen Wohnung. Da rührte sich in der Kammer, im Bette der alten Magd, Klein-Dorel und murmelte schlaftrunken: »Liesi – das Märlein von Theuern –!«

»Bscht, bscht!« flüsterte die Greisin, und das Kind wandte sich mit einem tiefen Atemzuge, schlief weiter und träumte das Märlein von Theuern. 397


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