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Dreizehnte Vorlesung.

Die Gültigkeit der Kausalität hatte Kant gegenüber jener Anzweiflung erwiesen, die sich auf die Unwahrnehmbarkeit dieser Verknüpfungsart stützte. Er zeigte, daß Ursache und Wirkung eine ihrem Wesen nach unsinnliche Art und Form seien, die sinnlichen Gegebenheiten zu verbinden und dadurch aus ihnen das, was wir Erfahrung nennen, zu gestalten. Infolgedessen gelte sie zwar nur für derartige Gegebenheiten und sei außerhalb der Erfahrung ein leeres Schema, dafür aber müßte sie innerhalb der Erfahrung auch unbedingt gelten. Ob äußere oder innere Erfahrung, macht hierin keinen Unterschied; alles Denken, Fühlen, Wollen des Menschen, soweit es eine psychologische, im Bewußtsein wahrgenommene Tatsache ist, unterliegt der kausalen Notwendigkeit nicht weniger, wäre bei hinreichender Kenntnis aller Bedingungen und Gesetze nicht weniger berechenbar, wie ein Vorgang am Sternenhimmel. Allein gegen dieses in sich geschlossene Bild des erkennbaren Lebens empört sich das sittliche Bewußtsein, das den Menschen für seine Willenstaten verantwortlich macht; wie kann er verantwortlich sein, wenn er gar keine Möglichkeit hatte, anders zu handeln, als er es tat, wenn der Mörder sein Opfer mit ebenderselben naturgesetzlichen Notwendigkeit töten mußte, wie ein fallender Dachziegel? Der naive moralische Sinn wird sich nie überzeugen lassen, daß er eine Tat als gut oder als böse beurteilen darf, wenn sie nicht auch anders hätte ausfallen können. Und dies ergibt den Konflikt zwischen der naturwissenschaftlichen Kausalität und der sittlichen Freiheit unsrer Handlungen, in dem jedes von beiden sich nur dadurch scheint behaupten zu können, daß das andere zur Illusion wird. In folgender Weise nun, die vielleicht die frappierendste Anwendung seiner Erkenntnistheorie ist, löst Kant diesen Widerspruch.

Die kausale Determiniertheit gilt unbedingt – aber nur für Erscheinungen; sie gilt also nicht für dasjenige, was in uns den äußerlich oder innerlich erscheinenden Seiten unsres Wesens zugrunde liegt. Gewiß ist alles, was andere oder wir selbst an uns erkennen können, unausweichlich in den Naturlauf und seine Notwendigkeiten verflochten. Aber indem wir so Erscheinungen sind, sind wir doch zugleich dasjenige Wesen, das diese Erscheinungen trägt, das unerkennbare, aber seiende Ding-an-sich unser selbst. Dieses also unterliegt der Kausalität nicht, weil deren ganzer Sinn und Zweck nur ist, Erscheinungen zu Erfahrungen zu formen. In der Unerfahrbarkeit unsres Wesens, da, wo wir sind, aber nicht erscheinen, sind wir von aller Notwendigkeit, die ja nur eine Ordnungskategorie ist, von Ursache und Wirkung frei. Jeder Augenblick unsrer Existenz hat also sozusagen zwei Seiten: die eine, die den Inhalt des erkennenden Bewußtseins bildet, mit der wir der Natur verkettet sind, wie mit den Vorgängen in und mit unsrem Körper, die andre, die nur in und für sich besteht, deren bloße Erscheinung jene andere ist und die durch keine Naturgesetzlichkeit von einem Vorher abhängt.

Soweit erscheint die Entwicklung durchaus konsequent und von der größten Bedeutung für die Probleme des Innenlebens, die aus dessen Verhältnis zu dem wissenschaftlichen Geist der Neuzeit aufsteigen. Seit mit dem 17. Jahrhundert die mechanistische Betrachtungsweise alles Geschehen ergriffen hat, die Ordnungen des Firmaments wie die der geschichtlichen Gesellschaft, die lebenerhaltenden Prozesse in den Organismen wie die Bewußtseinsakte unsrer Seele; seit alle Werte und Zwecke, die die religiöse und anthropozentrische Denkart in den Lauf der Dinge hineingesehen hatte, aus ihm vertrieben und durch die Gleichgültigkeit berechenbarer Druck- und Stoßwirkungen ersetzt worden waren – seitdem schien dieses ganze ungeheure Treiben sinnlos und die Seele in ihm heimatlos geworden zu sein. Die Frage nach dem Wozu? und nach der inneren Bedeutung des Daseins konnte nun nicht mehr gestellt werden, des Daseins, von dem der Mensch doch selbst ein Teil war, mit all den religiösen und sittlichen, individuellen und metaphysischen Bedürfnissen, deren Befriedigung ihm mindestens so wichtig war, wie das naturwissenschaftliche Weltverständnis, und ihm doch durch die Unerbittlichkeit dieses versagt wurde. Darum ist es wohl das fundamentalste Motiv der gesamten neueren Philosophie, die Werte des Gemüts, einen Endzweck des Lebens, einen Sinn des Weltlaufs zu retten, ohne die streng kausale, mehr oder weniger mechanistische Naturansicht aufzugeben, die von sich aus für all jenes keinen Platz mehr zu haben scheint, sondern gerade durch ihre eigengesetzliche Notwendigkeit solchen Ansprüchen mit der blinden Zufälligkeit, sie bald zu gewähren und bald zu versagen, gegenübersteht. Der Kantische Lösungsversuch ist im ganzen der Typus aller späteren geblieben. Soweit man ihm darin folgt, daß alle Natur Erscheinung ist, d. h. Vorstellung vorstellender Subjekte und nach Inhalt und Form durch deren geistige Energien bestimmt, ist ebendamit als das notwendige Korrelat dieser Erscheinung dasjenige gesetzt, was erscheint: indem die Dinge etwas für uns sind, sind sie doch auch etwas an sich. In dieses An-sich nun kann der spekulative Gedanke, die mystische Ahnung, das sittliche Interesse alle die Zwecke, Werte und Bedeutsamkeiten verlegen, die aus der Natur vertrieben waren und damit so lange aus dem Dasein überhaupt, wie die erscheinende Natur den ganzen Bezirk des Möglichen ausfüllte.

Es ist begreiflich, daß die Genialität dieses Gedankens – dessen Bedeutung für das Freiheitsproblem seine allgemeine Erörterung fordert – zu einer schrankenlosen Verwertung anlockte. Jetzt war der lückenlose kausale Zusammenhang der natürlichen Welt gewährleistet und doch die Möglichkeit übersinnlicher Wirklichkeiten gerettet, und zwar hatte gerade das, was jenen Zusammenhang so ganz undurchbrechlich machte, sein Erscheinungscharakter, diese Ergänzung notwendig erzeugt: die beiden Welten forderten sich gegenseitig, ohne daß diese Gegenseitigkeit einen Eingriff der einen in die andere nötig machte oder auch nur gestattete; denn wo die eine war, konnte, ihrem Begriffe nach, die andre nicht sein. Dies aber spricht schon die ungeheure Gefahr aus, an deren Rande dieses Weltbild erwuchs – die Gefahr, das schlechthin Unerkennbare der Dinge-an-sich doch zu einer Welt auszubauen, der Erkenntnis einen, wie auch indirekten oder symbolischen Zugang zu diesem Jenseitsihrer zu eröffnen und es damit unvermeidlich mit einem Inhalt auszustatten, der schließlich nirgends anders her als aus der Erfahrungswelt genommen sein kann. Tatsächlich ist der Gegensatz: Erscheinung und Ding-an-sich – zum Schema erstarrt, schon bei Kant selbst, als wären es zwei Kategorien, von denen die eine aufnimmt, was in der andren nicht unterzubringen ist; das Ding-an-sich ist gleichsam die Vorratskammer geworden, aus deren Unerschöpflichkeit man allen metaphysischen, ethischen, ästhetischen und religiösen Nöten beikam, indem verhängnisvollerweise seine vorgeblichen Bestimmungen, da sie von wirklichen Bedürfnissen getragen waren, durch ihre Unwiderleglichkeit mehr an Sicherheit gewannen, als ihre Unerweislichkeit ihnen nehmen konnte. Wenn Kant die Schwierigkeiten des Gottesbegriffs dadurch erledigt, daß er ihn für ein »Ding-an-sich« erklärt; wenn er den Widerstreit zwischen der Individualität des Geschmacksurteils und seiner beanspruchten Allgemeingültigkeit dadurch löst – das Detail gehört nicht hierher –, daß er den Bestimmungsgrund dieser Urteile in dem »übersinnlichen Substrat der Menschheit« sucht; wenn er die Zweckmäßigkeit im Bau der Lebewesen und den ganzen zweckfremden Mechanismus, dessen Herrschaft wir daneben an ihnen voraussetzen müssen, verträglich findet, weil das Ding-an-sich, dessen Erscheinung die beiden Erklärungsarten fordert, die Einheit beider in sich enthielte – so tritt dieses Ding-an-sich eigentlich als ein deus ex machina auf, beliebig herbeizurufen, wenn die natürlichen Erscheinungen sich unsrer Sehnsucht nach Wert, Bedeutsamkeit, Einheit, nicht von selbst fügen wollen. Aus der dargestellten Erkenntnislehre Kants ergibt sich als der einzig konsequente Sinn des Ding-an-sich-Begriffs dieser: es ist nichts als ein Ausdruck dafür, daß die Welt der Erkennbarkeiten eine durch den Geist bestimmte Erscheinung ist. Früher habe ich gezeigt, daß das Ding-an-sich als Ursache unsrer Sinnesempfindungen ausschließlich das innere, psychologisch-erkenntnistheoretische Wesen dieser letzteren charakterisieren soll; keineswegs werden von ihm unsere Empfindungen kausal hergeleitet und erklärt, sondern den Charakter der Passivität, den diese für unser Bewußtsein tragen, können wir nicht anders ausdrücken, denn als Bewirktheit; und das Ding-an-sich ist das durch unsere Denk- und Sprachgewohnheit konstruierte Korrelat der Empfindung, das nur als Verdeutlichung von deren Wesen, nicht aber an und für sich irgendeine Bedeutung oder Existenzrecht hat. Nicht anders verhält es sich mit seinem allgemeineren Sinn, in dem es die absolute Wirklichkeit, das Jenseits aller Erscheinung, das Übersinnliche zu der sinnlichen Gegebenheit bedeuten soll. Der Schluß, daß, wenn unsere Welt Erscheinung ist, auch etwas da sein müsse, was da erscheint – hat nicht ganz so viel Durchschlagskraft, wie es zunächst scheint. Denn daß wir nur Erscheinungen, nur Relatives erkennen, wissen wir keineswegs daher, daß wir ein Ding-an-sich, ein Absolutes, irgendwie ergriffen hätten, von dem her wir nun das Verhältnis unsres Erkennens zu ihm als eines der bloßen Erscheinung begriffen. Vielmehr, die eignen Bestimmtheiten unsres Erkennens, besonders die Tatsachen des Apriori, beweisen, daß es nur mit Erscheinungen zu tun haben kann. Will man dies innere und – richtig verstanden – subjektive Verhalten mit einer objektiven Wendung ausdrücken, so muß man sagen, daß unsrem Weltbild ein absolutes, als solches unergreifbares Objekt zum Grunde liegt; aber dieses An-sich der Dinge ist nur die Projektion, oder da seine Setzung zugleich seine Versagtheit für uns bedeutet, der negative Ausdruck für das allein Positive, daß unser Erkennen nur Objekte für uns liefert. So ist es eine ideelle oder mit dem Negationszeichen versehene Funktion unsrer Erkenntnisse, das diese so treu, aber auch so wesenlos begleitet, wie der Schatten den Körper. Die Überschreitung der selbstgesetzten Grenzen, die Kant durch die metaphysische Verwendung des Dinges-an-sich begeht, basiert darauf, daß er den rein funktionellen Sinn desselben zu einem substanziellen Dasein verfestigt. Er selbst bezeichnet es unübertrefflich als einen »Grenzbegriff«, es markiert die Grenze unsres Erkennens, aber nicht von einem Jenseits her, das uns durch eigene, gleichsam in der Richtung auf uns sich streckende Kräfte einschränkte, sondern das Erkennen erfährt in sich, von sich aus, formende Begrenzungen und nennt die nach der Richtung des Jenseits hin dimensionslose Linie derselben das Ding-an-sich. Indem Kant dieser bloßen Grenze nun später eine selbständige Existenz verleiht, um sie als den Träger gewisser Eigenschaften und Leistungen zwar nicht zu erkennen, aber doch zu denken und zu vermuten, benutzt er die Mehrdeutigkeit des Wortes »Ding«, das jenem Grenzbegriff konsequenterweise nur in einem sehr abgeschwächten Sinne zukommt. Durch die unglückliche Idee, daß die Verstandesbegriffe auf das Ding-an-sich angewendet werden dürften, wenn man es nur durch dieselben nicht erkennen wollte – wozu außer jenen auch noch die versagte Sinneserscheinung gehörte – hat er im Ding-an-sich gleichsam einen locus minoris resistentiae für jede willkürlich mißbrauchte Denkmöglichkeit geschaffen. Damit ist die Erlösung vom Mechanismus, der doch die Welt der Erscheinungen bestimmt, als hinfällig erwiesen: denn sobald das Ding-an-sich seine reine Negativität und Begrenzungsfunktion aufgibt und, statt ein bloßer Ausdruck für den Charakter der Erscheinungswelt zu sein, einen irgendwie bezeichenbaren eignen Inhalt annimmt, wird es ein abgeblaßtes, schemenhaftes theoretisches Gebilde; statt eines prinzipiellen Unterschieds gegen unser Verhältnis zur Erscheinung ergibt es einen nur graduellen und muß, zum Schaden den Spott erleidend, durch seine Unfähigkeit zu wirklichem Erkanntwerden sich zum Tummelplatz aller Phantasterei hergeben; ich erwähne nur das charakteristische Beispiel, daß man einerseits das Gehirn als Ding-an-sich des Gedankens, andrerseits den Gedanken als Ding-an-sich des Gehirns bezeichnet hat. Es ist ein tragisches Verhängnis in der Entwicklung des philosophischen Denkens, daß die genialste Versöhnung des Mechanismus des Daseins mit den transzendenten Bedürfnissen sich als ein Schema enthüllt, das seinen Wert von seiner Ausfüllung erwartet, aber gerade durch sie verliert.

Nun scheint freilich gerade jene einzige Anwendung des Ding-an-sich-Begriffes, um derentwillen er hier erörtert wurde, diesen Bedenken enthoben zu sein. Gott und das vorgebliche transzendente »Wesen« der Naturdinge steht uns gegenüber, und deshalb nützt alle Restriktion unsres Verhältnisses zu ihnen auf bloßes »Denken« oder »Glauben« nichts: es ist doch ein »um die Ecke Sehen«, bei dem man entweder nichts oder das sieht, was man gerade sehen will. Uns selbst aber stehen wir nur gegenüber, insoweit wir Erscheinung sind, aber wenn es ein Nicht-Erscheinendes in uns gibt, so ist es eben kein Außer-uns, wie jene Dinge-an-sich, sondern wir selbst sind es; hier ist nichts mehr zu vermuten und zu glauben, sondern die Unmittelbarkeit des Seins zu fühlen. Und dieses fundamentale, jenseits aller Vorstellungen und Schicksale stehende Sein ist darum der Kausalität enthoben, der es erst, wenn es wieder in das empirische Erkennen aufgenommen ist, anheimfällt. Dennoch leistet auch diese Freiheit nicht, was Kant von ihr verlangt. Denn sie hat, wie das Ding-an-sich überhaupt, rein negativen Sinn, sie bedeutet, daß wir in der Unerkennbarkeit unsres Wesens nicht der Kausalität unterliegen; die Freiheit des Willens, die ein Vermögen ist, statt des einen Tuns ein andres zu produzieren, hat, als dieses Positive, mit ihr nur den Namen gemein. Auf dieser begrifflichen Doppeldeutigkeit ruht die ganze Kantische Freiheitstheorie: die Freiheit in dem durch die Erkenntnistheorie beschaffbaren Sinne ist etwas in der moralischen oder Werthinsicht völlig Gleichgültiges. Freilich erscheint ihm das Sollen als Beweis für die Positivität jenes Freiheitsbegriffs: daß wir dies und jenes sittlich sollen, wenngleich wir vielleicht tatsächlich ganz anders handeln, wäre ganz sinnlos, wenn wir nicht, unabhängig von aller kausalen Bestimmtheit dieses Handelns, auch das erstere gekonnt hätten. Allein daß diese Freiheit des Willens, die Indetermination der positiven Inhalte einer einzelnen seelischen Energie, dasselbe ist, wie jene bloße Entrücktheit unsres nicht-erscheinenden Wesens aus der Welt der Erscheinungen – das hat er unbewiesen vorausgesetzt. Es kommt dazu, daß jener angebliche Wesensgrund unsres Seins doch nicht nur unsren Willen, sondern ganz ebenso alle andren inneren Erscheinungen, unser Denken wie unser Fühlen, unsere Phantasie wie unsren seelischen Gesamtrhythmus zu begründen hätte und so diesen keine geringere Freiheit gewährleistet als jenen. Daß Kant sie aber nur dem Willen zukommen läßt, entspringt seinem Moralismus, für den ganz selbstverständlich aller Gewinn der Freiheit unsres Wesens-an-sich nur dem Träger der Sittlichkeit zugute kommen kann. Daß Kant sich dieses Doppelsinnes der Freiheit bedient, mag ein Anzeichen dafür sein, daß die Alternative für unsere Handlungen: Notwendigkeit oder Freiheit – vielleicht doch keine unbedingt zwingende ist. Wie das organische Leben sich nicht in der Alternative Mechanismus oder Teleologie erschöpft, sondern sich sicherlich nach einem dritten, eigenen, wenngleich nicht weiter bezeichenbaren Prinzip vollzieht, so glaube ich, daß für unseren Willen, für unser gesamtes Wesen jene Zwangswahl nicht besteht und dies der Grund ist, weshalb die Frage, wie alle falsch gestellten, durch keine der beiden Antworten erledigt ist, jede Partei vielmehr das Ungenügende der gegnerischen Behauptungen, aber nicht die positive Richtigkeit der eigenen aufzeigen kann. Es ist der die ganze Geistesgeschichte durchziehende Irrtum, einen konträren Gegensatz mit der Zwangsgewalt des kontradiktorischen auszustatten, während viele ihrer mächtigsten Fortschritte gerade darin gelegen sind, die scheinbare logische Unausweichlichkeit einer Alternative durch die Entdeckung eines Dritten zu überwinden. Und ganz versteckt möchte die Kantische Lösung des Problems selbst darauf hindeuten: indem sie die beiden, in ihrem Alternativen-Charakter von ihr nicht bezweifelten Antworten nur auf verschiedene Schichten unserer Existenz verteilt; sie geht damit dem Problem doch eigentlich nur aus dem Wege, während seine entscheidende Schwierigkeit gerade darin gelegen hatte, Freiheit und Notwendigkeit in ihren Ansprüchen an die letzte, schlechthin nicht mehr zu spaltende Einheit unserer Persönlichkeit zu versöhnen oder begreiflich zu machen.

Unverkennbar freilich liegt in seiner Entscheidung aller Tiefsinn und Adel, zu dem dieser Moralismus es bringen kann. Die Freiheit, so sahen wir, deckt ihm den ganzen Umfang der Sittlichkeit; so also wird diese selbst in den unerforschlichen Grund des Wesens gesenkt, das ganze Rätsel der Tatsache, daß es überhaupt so etwas wie Sittlichkeit gibt, erhält sein Siegel und seine Weihe durch die Überzeugung, daß die Verkettung der Erscheinungen sie nicht erklären kann. So weit scheidet er sie aus dem Gebiet der Erkennbarkeit, daß die sittliche Bedeutung eines Tuns nicht nur Dritten gegenüber niemals mit Sicherheit feststellbar ist, sondern daß der Mensch auch sich selbst niemals bis zu dem Punkt herunter, an dem sein sittlicher Wert haftet, ganz unzweideutig erkennt; denn er liegt jenseit des Gebietes, auf dem Erkenntnis möglich ist. An dieser Stelle durchbricht das Sittlichkeitsgefühl, wie aus einer mystischen Tiefe heraus, den ganzen Rationalismus seiner begrifflichen Fassung – freilich um den Preis der theoretischen Unzulänglichkeit, die dieser Freiheitsbegriff verrät und die im letzten Grunde dem Widerspruch entstammt, jenes ganz Unaussprechliche des inneren Daseins logisch zu formulieren, das nicht begriffen, sondern nur gelebt werden kann. Es ist schon bezeichnend, daß Kant, völlig konsequent, die »eigentliche Moralität der Handlungen«, der fremden wie der eigenen, als etwas »uns gänzlich Verborgenes« bezeichnet – und daraus unmittelbar schließt, es könne »niemand nach völliger Gerechtigkeit richten«. Aber dies ist eben die verhängnisvolle Abbiegung: nicht nur nicht nach völliger, sondern nach gar keiner Gerechtigkeit kann man richten, wenn die Moral in der Freiheit und die Freiheit im Ding-an-sich wohnt. – Daß es übrigens gerade die positive Sittlichkeit ist, die allein in jener nicht erscheinenden, nicht erkennbaren Wesenstiefe wurzelt, entspricht eigentlich nur einem populären und einigermaßen engen Gefühl. Kant vermeidet zwar die philiströse Vorstellung, als ob Sittlichkeit prinzipiell nichts andres sei als Selbstlosigkeit; für die Praxis aber und in seinen Beispielen kommt es im wesentlichen doch darauf hinaus, daß alle Unsittlichkeit Selbstsucht, alle Sittlichkeit Altruismus ist. Und nun ist die allgemeine Meinung, daß die erstere das Selbstverständliche und ohne weiteres Begreifliche sei, dieser aber etwas Unerklärliches einschlösse. Vielleicht gehört es zu den wenigen wesentlichen Fortschritten der ethischen Wissenschaft, daß man begonnen hat, beides unter den gleichen Aspekt zu rücken. Man kann einerseits den Egoismus als eine ebensowenig begreifliche, ursprüngliche Tatsache ansehen wie sein Gegenteil, man kann andrerseits den Altruismus ebenso aus Motiven der Lebenserhaltung und der individuellen und sozialen Zweckmäßigkeit ableiten wie den Egoismus. Je nach dem methodischen Standpunkt ist das eine genau so erklärlich und genau so unerklärlich wie das andere, und nur die größere Sinnenfälligkeit und die praktisch stärkere Impulsivität des einen Triebes hat ihre prinzipielle Koordinierung verborgen und auch Kant zu dem, wie sich noch zeigen wird, verhängnisvollen Irrtum verführt, beide nicht nur der Richtung, sondern auch den Energien nach, die sie tragen, in zwei verschiedene Welten zu verlegen. Mit dieser Konzession an eine eigentlich oberflächliche Auffassung verflicht sich nun in merkwürdiger Weise metaphysischer Tiefsinn, indem die sittliche Selbstlosigkeit, durch ihr Zusammenfallen mit der Freiheit, als die Äußerung gerade der tiefsten Schicht in uns, des Ich in seinem reinsten, an-sich-seienden Wesen erscheint – gleichsam die philosophische Transponierung des Wortes: Wer seine Seele verliert, der wird sie gewinnen. Dies ist das genaue Gegenstück dazu, daß das theoretische Ich gerade in seiner zugespitztesten, auf seine reine Form konzentrierten Wirksamkeit das Objekt als solches erzeugt, ja, daß wir beides eigentlich zusammenfallen sahen: das Ich war nichts anderes als die synthetische Kraft, deren Wirksamkeit den Sinnenstoff zusammenschließt und ihn damit uns als Objekt gegenüberstellt. Wie das erkennende Ich hier in seinem äußersten Sich-selbst-gehören, durch die Energie, die sein Wesen am unbedingtesten ausmacht, sich gerade am weitesten von sich zu entfernen scheint, sich am vollkommensten als selbständiges, gelöstes Objekt gegenübertritt – so ist das sittliche Ich am meisten es selbst, wenn es im Altruismus sich von sich selbst löst. Um nur ja gegen alles Fremde und Äußere gesichert zu sein (d. h. um frei zu sein), muß es seine ganze Erscheinung und Erkennbarkeit verleugnen, sich in die Dunkelheit seines An-sich zurückziehen, und eben dies ist nichts andres, als das Sich-aufgeben zugunsten der sittlichen Forderung. Der theoretische wie der ethische Fall – mögen sie nun haltbar und über das bloße allgemeine Prinzip hinaus aufklärend sein oder nicht – verraten jedenfalls das tiefe und des großen Philosophen würdige Bedürfnis, die Welt des Ich und die des Nicht-Ich in ihren äußersten Polen zusammenzuknüpfen, die Prozesse des Erkennens wie die des Handelns gerade an den Punkten ihrer Wertvollendung als die Untrennbarkeit jener Pole zu begreifen; so daß die äußerste Selbstbehauptung und die äußerste Hingabe des Ich nur als zwei Namen für dasselbe, in seiner unmittelbaren Einheit vielleicht nicht benennbare Geschehen dienen.



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