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Elfte Vorlesung.

Zu der zuletzt dargelegten Reduktion aller Werte auf den moralischen könnte es nicht kommen, wenn Kant nicht andrerseits alle Interessen, die nicht moralisch sind, ganz entsprechend auf das Motiv des eignen Glücks zurückführte. Die eigentliche Enge seiner ethischen Weltanschauung finde ich eben darin, daß er sämtliche Modifikationen in die Alternative: Sittlichkeit oder egoistisches Glück – einsperrt. Hier hat ihn die scheinbare logische Schärfe des Schlusses: was ich nicht aus Pflicht tue, kann ich nur tun, weil es mir in irgendeinem Sinne Vergnügen macht – über die psychologische Wirklichkeit fortgetäuscht, in der schließlich doch auch jene Alternative gegründet sein müßte; denn wenn Pflichtbewußtsein und Glückssehnsucht sich nicht als seelische Tatsachen darböten, würde kein Nachdenken sie und ihren Gegensatz entdecken. Jene Alternative ist keineswegs eine kontradiktorische, die kein Tertium zuläßt. Es ist vielmehr von vornherein völlig unbestimmt, ob irgendwelche Motivationen, die sich im Bewußtsein vorfinden, auf jene beiden zurückführbar, oder vielleicht als selbständige und ursprüngliche Triebe ihnen koordiniert wären. Das letztere scheint mir aber z. B. mit all dem, was man sachliche Interessen nennt, der Fall zu sein; ich komme damit auf ein in der letzten Vorlesung Angedeutetes zurück. Wo wir etwa wissenschaftlich arbeiten oder wissenschaftliche Ziele anderer fördern, kann dies freilich aus Pflichtbewußtsein, es kann auch um der persönlichen Befriedigung willen geschehen, die die Lösung gewisser Aufgaben uns gewährt. Aber es kann auch ganz ohne die Einwirkung eines so allgemeinen Motivs geschehen, rein weil es uns wünschenswert ist, daß jene Aufgaben gelöst seien. Wir können diesen Willen, daß Gewisses bloß der Sache selbst wegen geschehe, nicht näher analysieren, weil er eben selbst ein fundamentales seelisches Ereignis ist. Wenn er seinen Zweck erreicht hat, sind wir keineswegs glücklicher, und selbst wenn wir es sind, fühlen wir deutlich, daß diese subjektive Genugtuung durchaus nicht das Motiv war, aus dem der Wille entsprang. Wir werden ihn vielleicht auch in sittliche Ordnungen einstellen können; aber unzählige Male dürfen wir uns doch darüber nicht täuschen, daß der sittliche Wert dieser Bestrebung überhaupt nicht motivierend gewirkt hat, auch nicht unbewußt, ja, daß wir ihr vielleicht auch nachgegangen wären, wenn Rücksichten rein sittlicher Natur dagegen gesprochen hätten. Kant begeht durch die Beschränktheit seiner Alternative denselben Fehler wie die modernere Ethik, wenn sie die menschlichen Handlungen in egoistische und altruistische einteilt: entweder dem handelnden Subjekt selbst oder andren Subjekten, näheren oder ferneren, einzelnen oder sozialen, müsse jede Zweckhandlung zugute kommen, die überhaupt einen Sinn und Motiv haben solle. Dies scheint mir nun eben ganz irrig; es gibt tatsächlich ein Drittes. Wir tun Unzähliges, was weder uns noch andren zugute kommt, rein um der Sache willen, rein weil wir wollen, daß eine bestimmte Erkenntnis überhaupt gewonnen sei, eine bestimmte Ordnung der Dinge bestehe, eine bestimmte, im sachlichen Sinne gerechte, harmonische, logische Gestaltung sich vollziehe; ein derartiger Inhalt in seiner Unmittelbarkeit, aber durchaus nicht sein über ihn hinausreichender Erfolg für uns, für die Unsrigen, für die Gesellschaft ist vielfach das Ziel unsrer Wollungen höherer wie niederer Art. Daß solche Zwecke sich einerseits vielleicht historisch aus sozialer Nützlichkeit entwickelt haben, daß sie andrerseits natürlich gewollt werden müssen und ihr Verfehlen uns einen Schmerz bereitet – widerlegt nicht im geringsten die psychologische Tatsache, daß jetzt nur sie selbst unser Motiv sind und daß in dieses der Glücks- oder überhaupt fühlbare Reflex in irgendwelchen Seelen nicht eintritt.

Hierüber müssen wir uns prinzipiell klar sein, weil auf der Ausschließlichkeit der Alternative: Glück oder Pflicht – alle Kantischen Beweise für das Wertmonopol der letzteren beruhen. Bei einem großen Menschen sind Irrtümer in diesen Fragen nichts Isoliertes, sondern hängen immer mit den letzten Wurzeln der Weltanschauung zusammen. Daß er an den Motivierungen, die weder egoistisch noch moralisch sind, einfach vorbeisieht, ist ein echt rationalistischer Zug. Tatsächlich entbehren solche Motivierungen oft der logischen Klarheit und der bündigen Systematisierung; Kant verführte der reinliche Schematismus jener Einteilung, die nüchtern verstandesmäßige Plausibilität der beiden Grundmotive zu der Zurückgliederung aller Willensreihen auf sie. Und dieser Rationalismus in der Deutung des Lebens steht wieder ersichtlich in der tiefsten Beziehung dazu, daß ihm der Mensch im wesentlichen als ein rationalistisches Wesen erscheint, dessen Wollen durchgehends durch Zwecke bestimmt ist. Daß er im übrigen das Spiel des Lebens töricht und leer genug findet, ist eine Sache für sich, ja, man hat den Eindruck, als ob er zwischen jener rationalen, auf Zweckhandeln gestellten Struktur unsrer Art und dieser empirischen Sinnlosigkeit und Verirrbarkeit der Menschenwege ziemlich ratlos dasteht. Er läßt jedenfalls die Tatsache nicht zu ihrem Rechte kommen, daß wir unzählige Male überhaupt nicht durch Zwecke, sondern durch Triebe zu unsrem Handeln motiviert werden, Triebe niederer wie höherer Art, die ihre gespannten Energien in unsrem Handeln auslösen und dabei gar nicht oder nur ganz sekundär nach dem Erfolge des von ihnen bestimmten Handelns fragen. Dieses wird hier durchaus von dem terminus a quo gelenkt, nicht von dem terminus ad quem, weder innerhalb noch außerhalb seiner liegt ein Zweck, aus dem der Wille zur Handlung entspränge. Für die Kantische Rationalistik scheidet dieses Triebhafte unsres Willenslebens, das sich, mindestens als Element, bis in die höchsten Gebiete der Kunst, der Religion, der Gemütsbeziehungen fortsetzt, ganz aus der Betrachtung der menschlichen Praxis aus; diese gewinnt damit das Durchsichtige einer fortwährenden Zielbewußtheit, freilich um den Preis einer eigentümlichen Unlebendigkeit und einer Fremdheit gegen die tiefsten Wurzeln unsres Wesens.

Mit demselben systematischen Radikalismus also, mit dem Kant alle Werte unsres Wesens in dem moralischen ihre Substanz finden läßt, münden ihm alle andren Impulse in ein qualitativ immer gleiches Glücksgefühl, das ausschließlich quantitative Unterschiede besitzt. Was wir edlere Freuden nennen, seien eben nur solche, die sich nicht abnutzen, die mehr als die gemeinen in unsrer Gewalt sind, die weitere Verfeinerung und Genußfähigkeit mit sich bringen – kurz, die sich durch das im ganzen größere Maß ihres Lustertrages, nicht durch eine andere oder wertvollere Art desselben charakterisieren. Wer sich überhaupt durch Glücksempfindungen bestimmen lasse, sei insofern eine gleich wertlose Persönlichkeit, ob jene von bloß sinnlicher oder von der feinsten geistigen Art seien; denn diese Unterschiede beträfen nur die Ursachen des Glücks, aber nicht das Glück selbst und seien deshalb so gleichgültig, wie es für den Gebrauch des Goldes sei, ob es aus dem Gebirge gegraben oder aus dem Sande gewaschen ist. Dies erscheint mir als eine unerhörte Unterdrückung unsrer wirklichen Wertungen durch die eigensinnige Starrheit eines abstrakten Begriffes. Aus der unübersehlichen Mannigfaltigkeit unsrer Glücksgefühle destilliert Kant einem ganz abstrakten Glücksbegriff, als allen gemeinsamen, heraus, von dem er nun freilich, weil er alle Unterschiede jener Gefühle daraus weggestrichen hat, behaupten kann, er fände sich überall gleich und nur dem Grade nach abgestuft vor. Freilich spricht er überhaupt vom Glück wie jemand, der nur aus der Geschichte der Moralphilosophie erfahren hat, daß es so etwas gibt. Was er aber keinesfalls bewiesen hat und ganz unbefangen voraussetzt, ist, daß jene vernachlässigten Differenzen der Glücksgründe ohne Einfluß auf unsre Willensentscheidungen, selbst die rein vom Glücksbedürfnis beherrschten, seien und daß sie unsere Wertung der Persönlichkeiten nicht bestimmten oder bestimmen dürften. Um das letztere vorweg zu nehmen: ob jemand seine beglückteste Stunde in den Armen einer Kokotte oder beim Anhören der Neunten Symphonie erlebt, ist ein Wertunterschied der Persönlichkeiten, der gilt, auch wenn man von jeder sittlichen Beurteilung absieht; die Welt ist wertvoller, wenn sie diese, als indem sie jene Seele einschließt. Nicht das Ethische, das Wollen, entscheidet hier, sondern das Sein; gerade das, was Kant vom Standpunkte des Wertes der Seele aus für völlig gleichgültig hält: worin sie ihr Glück findet – gerade darauf kommt es an, gerade dieser Unterschied kann die Welt, je nachdem sie mit diesen oder jenen Seelen bevölkert ist, zu einer Schatzkammer oder zu einer Pfütze machen. So paradox und unsren sonstigen Wertungsweisen fremd eine Möglichkeit scheint, die ich hier nicht näher verfolgen kann: es wäre nicht ausgeschlossen, daß das Glück nicht als Wert anerkannt wird und doch die Unterschiede der Glücks arten und Glücks veranlassungen unüberhörbare Wertdifferenzen zwischen die Seelen legten. Und nun das andere: es ist, ohne jeden Vorbehalt, eine psychologische Fälschung, daß die Art des Glückes, die Ursache seiner Erzeugung, selbst nur für den, der nur das Glück und weiter nichts sucht, gleichgültig und einflußlos wäre. Trotz allem ziehen die Menschen noch manchmal die geringe Lust der größeren vor – ohne irgend an Moral zu denken, rein in dem Gebiete der Glücksinteressen bleibend, aber im Gefühle, daß die eine, rein als Glück, wertvoller ist als die andere und damit ihr quantitatives Manko ausgleicht. Aus dem Golde unsres Geldes ist jede Spur seines Ursprungs verschwunden und deshalb sind uns Unterschiede dieses letzteren freilich ganz gleichgültig; aber in unsren Freuden leben die Dinge und Ereignisse, auf die unsere Seele mit diesem Gefühl antwortet, weiter, als sehr entschiedene Unterschiede der qualitativen Färbung des Glücks; verschwunden sind sie nur aus jenem abstrakten Glück, das Kant durch einfaches Hinwegdekretieren dieser Mannigfaltigkeit konstruiert hat. Das Glück aus unterschiedenen Quellen ist ein unterschiedenes Glück, und diese Unterschiede sind für unsere Empfindung und unsere Entscheidungen zugleich Unterschiede des Ranges unsrer Freuden, nur als Freuden betrachtet. In ihnen nur graduelle Differenzen eines und desselben Glückes zu sehen, ist nicht sinnvoller, als wollte man aus allen Individuen das allen Gemeinsame als den Allgemeinbegriff Mensch herausziehen und nun alle Unterschiede zwischen jenen als die größeren oder geringeren Quantitäten deuten, in denen dieser Begriff sich in dem Einzelnen vorfindet. Es ist von äußerster Wichtigkeit, sich hierüber nicht zu täuschen; denn unter dem falschen Glücksbegriff Kants hat die Ethik hundert Jahre gestanden, die idealistische wie die sensualistische, die Ethik des Individualismus wie des Sozialismus. Wie Spinoza von dem Allgemeinbegriff des Seins, der ihm zur göttlichen Substanz aufwächst, so geblendet und gefangen ist, daß alle Unterschiede zwischen den Dingen ihm nichtig werden, so erstarrt das Denken Kants gleichsam an dem Allgemeinbegriff des Glücks und dringt nicht bis zu dessen individuellen Ausgestaltungen und ihren Eigenwerten vor, die zwar nicht so bequem und vielleicht überhaupt nicht mehr auf allgemeine Begriffe zu bringen sind, sondern letzte Tatsachen unsres Wertfühlens bilden. Die Ursache aber dieser grauenhaften Vergewaltigung eines der tiefsten und wundersamsten Züge unsrer Natur ist der Moralismus, der hier vielleicht souveräner als irgendwo auftritt, indem er auf dem Gebiet, das mit dem Moralischen nichts zu tun hat, keine Wertunterschiede anerkennt, weil er ihm überhaupt keinen Wert zuerkennt. Noch einmal: nicht der Rigorismus seines Moralbegriffes verdient die Kritik, denn man kann ihn überhaupt nicht zu streng und zu fest geschlossen fassen. Nur gegen den Moralismus gilt es sich zu verteidigen, der diesen richtig gefaßten Begriff alle andren Wertbegriffe verschlingen läßt, gegen die Verarmung und Verengung so vieler tatsächlicher Wertungen, mit der er die Bereicherung und Alleinherrschaft des einen bezahlt hat. So, um nur eines zu nennen: der ganze Bezirk des Menschlichen, den die Liebe bestimmt, steht außerhalb seines Wertsystems, und nicht nur als ein solcher von absoluter Bedeutung, ganz jenseits der des Ethischen, sondern auch nach den Verwebungen, Konflikten, gegenseitigen Steigerungen, die er mit dem Ethischen eingeht und ohne die die Einsicht in die ethische Welt – nicht etwa nur als psychologische, sondern als objektiv wertmäßige und metaphysische überhaupt ein kümmerliches Bruchstück bleibt. Für Kant aber wäre Liebe ein subjektiver, womöglich »sinnlicher« Zustand, etwas Egozentrisches, Eudämonistisches, das sozusagen in ernsthaften Wertfragen gar nicht in Betracht komme. Daß es so etwas wie praktische, wie aufbauende Liebe gibt, die mit dem Glückstrieb nicht das geringste zu tun hat, aber auch ihre Kräfte keineswegs aus sittlichen Imperativen gewinnt – dies und anderes von gleichem Gewicht ist ihm so verschlossen, daß man sich manchmal fragen muß, in welcher seelisch dürftigen Welt dieser Riesengeist eigentlich gelebt hat.

Es ist nun gleichsam die Rache des mißhandelten Glücksbegriffs, daß er in der weiteren Entwicklung der Lebenswerte eine unverhältnismäßige Wichtigkeit gewinnt. Indem neben ihm und der Sittlichkeit überhaupt keine andren praktischen Prinzipien anerkannt werden – so daß Kant z. B. die Eigenart des Schmerzes als einer Vertiefung und Beseelung des Daseins völlig entgeht –, sammelt sich unter seiner Ägide alles, was der Mensch jenseits der sittlichen Vollendung noch begehrt, so daß er an Quantität eben das gewinnt, was ihm an Qualität abgesprochen ist.

Merkwürdiger und tiefer bedeutsam als nach der Seite der Moral offenbart sich dies im Hinblick auf das Verhältnis von Leben und Welt. Gewiß ist die Welt im wesentlichen ein Ort des Leidens, und Kant empfindet sie durchaus so; jedem auf das Glück orientierten Optimismus ist er völlig fremd. Trotzdem erscheint sie ihm so eingerichtet, daß wir wenigstens von ihr Glück wollen können. Sie mag sein, wie sie will; indem aber unser Wille sich auf sie richtet, erblicken wir sie so, als ob sie uns Glück gewähren könnte. Ja, noch tiefer und eine letzte metaphysische Deutung ihrer Relation zum Leben aussprechend: wir können von ihr, von der gegebnen Wirklichkeit der Dinge, überhaupt nichts andres als Glück wollen! Es ist der tiefste Gegensatz zu der Auffassung Goethes, der das Gute und das Böse unscheidbar verschlungen, als ein einheitliches Leben empfand, zu Nietzsche, der zu allem Leiden, weil es eben Leben war, zu dieser ganzen selig-unseligen Einheit unseres Verhältnisses zur Welt Ja sagte, zu Walters von der Vogelweide: Willekommen bös und gut! Aber so wird verständlich, daß Kant das Glück überschätzte – begreiflich bei einem Menschen, der vielleicht nie erfahren hat, was Glück ist, und deshalb auch nicht den inneren Widerspruch und die Tragik auch seiner höchsten Momente – daß er, was zu selten betont wird, zur einen Hälfte Eudämonist ist. Aus jenen Zusammenhängen heraus erlangt der Glücksbegriff hier ein Forderungsrecht an die Ordnung der Wirklichkeit, das nach dem ihm ursprünglich zugesprochnen Range eigentlich überrascht; gerade seine prinzipielle Entgegenstellung gegen den ethischen Wert macht ihn zu einer Art vollgültigen Gegenstücks zu diesem. Das abschließende Bild des Daseins – weil es eben das Dasein sinnlicher, bedürftiger Wesen ist – scheint ihm die Vollendung des Glückes nicht weniger als die der Sittlichkeit zu verlangen. Denn auf der Basis der ganzen inneren Fremdheit zwischen diesen beiden Polen unsrer Interessen besteht ihm doch eine eigentümliche innere Verbindung zwischen ihnen: Sittlichkeit ist die Würdigkeit, glücklich zu sein. Mit außerordentlicher Feinheit ist hiermit eine Beziehung der Begriffe konstruiert, die ihre gegenseitige Selbständigkeit völlig unangetastet läßt. Denn einerseits darf, wie wir sehen, der Wunsch nach Glück die sittlichen Wege nicht kreuzen; andrerseits werden wir noch zu sehen haben, daß auch die Wirklichkeit jede Verknüpfung zwischen ihnen ablehnt: den alten Glauben, daß eine seelische Notwendigkeit oder die Ordnung der äußeren Schicksale die sittliche Güte unausweichlich mit einem Lohn an Glück ausstattete – hat Kant in seiner ganzen Unhaltbarkeit dargetan. Aber jenseits dieser beiden Verbindungen, deren Ausschluß jedes Band zwischen Tugend und Glück zu zerschneiden scheint, knüpft sich für Kant nun die ideelle: daß wir durch Tugend das Glück verdienen, obgleich wir es weder in Wirklichkeit durch sie erlangen, noch auch das bloße Streben nach dem einen durch das nach dem andren stützen dürfen, ohne den Sinn beider völlig zu zerstören. In diesem »des Glückes Würdig Sein« kommt eine ganz neue Kategorie auf; der Sittlichkeit wächst hier, ohne daß sie es aus sich selbst entwickelte, ja ohne daß sie daran denken dürfte und ohne daß die Wirklichkeit es ihr zutrüge, ein Anspruch und Hinweis zu, aus einer rein ideellen Ordnung, die, über die Elemente des Daseins hinübergreifend, eine in ihnen selbst nicht angelegte Harmonie zwischen ihnen fordert. Wie eine Arbeit ein bestimmtes ökonomisches Äquivalent wert ist, auch wenn sie nicht mit Rücksicht auf dieses vollbracht ist, und wenn sie es auch niemals in Wirklichkeit erhält, wie dies Entgelt, das sie wert ist, sie in einer ganz einzigartigen Distanz, einer völlig irrealen und dennoch festen Beziehung zu ihr umschwebt, als ein Drittes jenseits der Alternative von Haben und Nichthaben – so steht über der sittlichen Tat das Maß von Glück, dessen sie uns »würdig macht«. Eine vorhin gemachte Andeutung ergänzt sich hier. Es kommt ethisch auf das Glück gar nicht an: aber darauf, worin man sein Glück findet, kommt es auch ethisch gar sehr an. Dies zwar hat Kant übersehen, aber dafür hat er das andre aufgebracht: es kommt ethisch auf das Glück gar nicht an: aber darauf, daß man des Glückes würdig, kommt es an. Und so sehr wird durch diesen nur in der Idee gültigen, die Wirklichkeit der Tat nirgends berührenden Abglanz ihrer sie dennoch in ihrer eigensten Bedeutung festgelegt, daß Kant sich eben zu jenem kühnen Wort erheben konnte: Sittlichkeit wäre nichts andres, als die Würdigkeit, glücklich zu sein – eine Bestimmung, die die volle Souveränität des Sittlichen um nichts vermindert, da man in Kants Sinn der Glückseligkeit gerade nur dann würdig ist, wenn man ohne jede Rücksicht auf sie gehandelt hat. Vermittels der tiefsinnigen Wendung, die Kant dem Begriffe des »Würdigseins« gibt, gelingt es, gerade auf die radikale Exstirpierung des Glücksbegriffs aus dem Sittlichkeitsbegriff hin sie beide als die selbständigen und doch ideell einander fordernden Seiten einer höheren Gleichung zu begreifen.

Bevor ich aber deren weitere Entwicklung verfolge, bedarf von ihren Voraussetzungen die eine, die ich erst kurz andeutete, tieferen Eingehens. Über das Verhältnis von Tugend und Glück mischen sich im populären Bewußtsein ganz entgegengesetzte Meinungen; den gutmütigen Glauben, daß ehrlich am längsten währt, daß sich jede Schuld rächt, daß das Gute doch schließlich seinen Lohn findet – kreuzt ein entweder großsprecherischer oder auf rein persönliche Erfahrungen gegründeter Pessimismus, für den der Gute durchgehends zum Leiden bestimmt und alles Wohlergehen den Schurken aufgehoben ist. Jenen Optimismus pflegt die Moralphilosophie, oft nicht viel kritischer, aufzunehmen. In der Regel führt keine vorurteilsfreie Untersuchung, sondern ein siegesgewisses Herzensbedürfnis zu dem Ergebnis, daß die Tugend der sicherste Weg zum Glück ist, oder daß beides die Seiten eben derselben inneren Wirklichkeit oder daß sie von vornherein identisch seien. Der Nachweis der innerlich notwendigen Zusammengehörigkeit von Sittlichkeit und Glück, der »versöhnliche Schluß«, erscheint fast als das eine große Ziel und Verpflichtung aller Moralphilosophie. Kant nun steht der ganzen Reihe dieser Versuche mit einsamer Gegensätzlichkeit gegenüber: er leugnet, daß in der Wirklichkeit eine notwendige, erweisbare, innerliche Verbindung zwischen Sittlichkeit und persönlichem1 Glück bestände oder begrifflich erfordert wäre – in der Wirklichkeit, also noch ganz jenseits ihrer gegenseitigen Unabhängigkeit als Motive des Handelns. Wir gelangen weder notwendig zur Tugend, indem wir dem Glücke nachgehen, noch zum Glück, indem wir die Tugend suchen; selbst der scheinbare Tiefsinn des Glaubens, daß das echte, dauernde, allein nicht zu teuer bezahlte Glück nur um den Preis des sittlichen Verhaltens zu erkaufen sei, kann ihn nicht über die unbarmherzige Zufälligkeit täuschen, mit der die Wirklichkeit beide Güter zueinander und auseinander führt. Das Glück vielmehr, so meint er, hängt von äußeren Chancen und ihrer geschickten Benutzung ab, und, wie wir in seinem Sinne hinzufügen können, von den inneren Chancen des Temperaments und des Lebensgefühls. Glück und Leid sind zufällige Verhältnisse zwischen den Bedürfnissen des Subjekts und der Unberechenbarkeit seiner sozialen, physischen, seelischen Schicksale; sie gerade von dem sittlichen Verhalten des Menschen abhängig zu machen, ist weder logisch noch durch die Erfahrung gerechtfertigt.

Was hierin zu Worte kommt, ist vor allem die mechanistische Weltauffassung. Die äußeren und die inneren Wirklichkeiten gehen ihren naturgesetzlich festgelegten Gang, und die Gebilde von Lust und Leid, von gutem und bösem Willen, die unter ihnen aufkommen, stehen objektiv durchaus nicht in der Verbindung miteinander, in die unsere Wertgefühle, aus dem gleichgültig gleichmäßigen Strome des Werdens gerade diese auslesend und betonend, sie setzen. Indem wir unsre Zwecke und Interessen an die Wirklichkeit heranbringen, ordnen wir nach ihren Normen die Elemente der letzteren in Reihen und Organisationen, die gegenüber ihren natürlich-realen Ordnungen rein zufällig sind – wie wir etwa von den Früchten des Waldes die für uns genießbaren und die für uns giftigen in Gruppen zusammennehmen, deren jeweilige Einheitlichkeit für unsere Interessen in keinerlei objektivem Zueinandergehören, ihr naturgesetzliches Durcheinanderwachsen unterbrechend, ihr Gegenbild findet. Seit das mythologische und anthropozentrische Naturbild durch das naturwissenschaftlich-kausale verdrängt ist, steht die Ordnung der Dinge, in der sie, an unsren Ideen und Wünschen gemessen, einen Sinn haben, zu der Wirklichkeit überhaupt nicht mehr in einer bestimmten Proportion, kein Prinzip, sondern der – von unsren Wertbegriffen aus gesehen – sinnlose Zufall läßt beide Reihen gelegentlich zusammen-, gelegentlich auseinandergehen. Indem die Gleichgültigkeit, mit der der Lauf der Dinge den Guten bald glücklich, bald unglücklich macht und mit dem Bösen ganz ebenso prinziplos verfährt, von Kant als der gar nicht korrigierbare Ausdruck des Verhältnisses von Tugend und Glück hingestellt ist – hat die mechanistische Weltanschauung, der adäquateste Inhalt des reinen Intellektualismus, ihren höchsten Triumph gefeiert; denn sie ist Herr über das Ideal geworden, das für Kant das höchste jeder möglichen Weltordnung ist, über die Gerechtigkeit in dem Verhältnisse jener beiden Fundamentalwerte des Lebens. Indem er so mit rücksichtslosem Mute den Faden zerschneidet, an dem die ganze Moralphilosophie gesponnen hatte, ist das Leben von Grund auf in eine neue Position gebracht. Die zwei Strömungen seines inneren Laufes: was es will und was es soll – gehen von verschiedenen Ausgangspunkten zu verschiedenen Zielen, und keine gemeinsame unterirdische Quelle entläßt sie mit der Hoffnung, auch wiederum gemeinsam zu münden. Eine unvergleichlich gewissenhafte Reinlichkeit des Denkens hat hier der Sittlichkeit die Stütze entzogen, die sie an der Hoffnung früher oder später einzuziehenden Lohnes besaß, wie dem Triebe zum Glück die Rechtfertigung, die er aus seiner Verbindung mit der Moral zog. Auch er ruht jetzt auf sich allein und muß von seinen eigenen Gnaden bestehen. Das Leben verlangt auf dieser Basis der Selbstherrlichkeit seiner wesentlichen Prinzipien ein ganz andres Maß von Kraft und Mut, als da noch eines am andern, wie in einem circulus vitiosus, einen trügerischen Halt fand.

Aber freilich nur um gegenseitige Unabhängigkeit, nicht um einen Gegensatz handelt es sich, als ob es nun das notwendige Los des Edlen sei, auf Glück zu verzichten; als ob Glück nie anders als auf unsittlichen Wegen zu erreichen sei, als ob die grundsätzliche Ordnung der irdischen Dinge auf den Triumph des Bösen ausginge. Es gibt religiöse und zynische, melancholische und satanistische Weltbilder, die ein derartig perverses Verhältnis zwischen den Werten der Sittlichkeit und des Glücks vertreten. Wie aber Kant in der Motivierungsfrage des Sittlichen durchaus kein asketisches Leiden, sondern nur Gleichgültigkeit gegen das Glücksinteresse fordert, so liegt ihm hier in der Tatsachenfrage ein Pessimismus völlig fern, der die Selbständigkeit jener Wesensprinzipien, soeben dem Optimismus unter Preisgabe der tiefsten Herzenswünsche abgerungen, von neuem in eine gegenseitige Verursachung, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen, überführte. Der Pessimismus als Weltanschauung ist das Extrem, in das diese ausschlägt, bevor sie aus dem naiven oder dogmatischen Optimismus in die Ruhelage der Objektivität gelangen kann. So schlug, im Zeitalter Kants, der allgemeine Optimismus des 18. Jahrhunderts in den Satanismus de Sade's um, für den es der Tugend naturgesetzlich nur schlecht, dem Laster nur gut gehen könne. Erst die Kantische Objektivität erkannte, daß unsere Wertgefühle und -ideen überhaupt kein prinzipielles, sondern ein rein zufälliges Verhältnis zu der realen Ordnung der Dinge haben; daß der Optimismus also nicht deshalb falsch ist, weil der Pessimismus richtig ist, sondern weil beide die Stimmungen des subjektiven Lebens zu Gesetzen der Wirklichkeit übersteigern. In der Betrachtung des empirischen Laufes des Daseins neigt Kant im ganzen zu pessimistischen Überzeugungen; um so höher ist es anzurechnen, daß er in jener prinzipiellen Frage das Stadium des Pessimismus überspringt und die optimistische Verknüpfung von Tugend und Glück durch die objektive Ansicht ersetzt, die beiden ihr voneinander ganz unabhängiges Verhältnis zu der natürlichen Wirklichkeit wiedergibt. Mit dieser Lösung und Verselbständigung hat, biologisch gesprochen, die Differenzierung der einzelnen Triebe, in der sich die Entwicklungshöhe der menschlichen Organisation überhaupt kundgibt, die tiefsten Wurzeln unsrer inneren Existenz ergriffen; und historisch ist es das Freiheitsbedürfnis des modernen Menschen, das damit gleichsam in die einzelnen Elemente seines Wesens hinabgestiegen ist und jedem derselben die Unabhängigkeit von dem andren sichert.



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