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Neunte Vorlesung.

Ich zeigte, wie der Wille, einen bestimmten pflichtmäßigen Zweckinhalt verwirklichend, nur dann von allem Gegebenen, allem Außer-Ihm frei ist, wenn nicht dieser Inhalt selbst, sondern die Tatsache, daß er Pflicht ist, seine Triebfeder bildet. Was aber heißt Pflicht? Welche Form muß jener sachliche Inhalt haben, um den Ansprüchen dieser Kategorie zu genügen? Pflicht ist Gesetz, Gesetz aber dasjenige, was für alle individuellen Fälle gilt, bei denen seine Voraussetzungen zutreffen. Nun aber soll es doch ein Gesetz sein, daß der Wille sich selbst in Freiheit gibt, dessen Inhalt also durchaus nicht als ein gegebener, allgemein anerkannter und deshalb auch für uns gültiger an uns herankommen darf. So bleibt zur Vereinigung dieser Ansprüche nichts übrig, als daß der Handelnde selbst wolle oder wenigstens wollen könne, daß seine Handlungsweise ein allgemeines Gesetz sei. Was den freien Menschen als solchen bestimmt, kann im letzten Grunde – von den Abschwächungen und technischen Verflechtungen der Praxis abgesehen – nicht ein bestehendes Gesetz sein. Denn das wäre ein Abbruch an seiner Freiheit, und es gibt kein Gesetz, das Bestimmtes anbeföhle und dabei a priori für jede ausdenkbare Situation sittlich gälte; aber möglich muß es sein, daß sein Wille ein Gesetz werde, denn sonst würde er nicht Pflicht sein können. Ob er dies wirklich ist, ob das dem Willen konforme Gesetz historisch oder psychologisch besteht, ist ganz gleichgültig, das geht die Qualität des Willens selbst nichts an, um die allein es sich hier handelt. Die Gesetzlichkeit, die Allgemeingültigkeit ist für ihn von Belang nur als eine innere Eigenschaft seiner selbst. Dies ist der entscheidende Punkt. Jene Bestimmtheit, die dem »guten« Willen als solchem von vornherein eingewachsen ist und die um der Freiheit willen jede Wertung nach einem bestehenden Gesetz ablehnt, ist nun ausdrückbar als die Fähigkeit, zum allgemeinen Gesetz zu werden; dies bedeutet nichts Quantitatives, sondern ein qualitatives So-Sein des Willens, das unser Bewußtsein als Pflicht fühlt und das in der Allgemeingültigkeit seinen logischen Ausdruck findet. Nicht darum handelt es sich, daß alle andren wirklich die Norm, nach der ein sittliches Individuum verfährt, befolgen oder anerkennen, sondern daß diese Norm die innere Beschaffenheit hat, die man nicht anders als mit dem äußerlich-quantitativen Ausdruck, daß sie sich zu solcher Verallgemeinerung eigne, bezeichnen kann. Wären wir schlechthin sittliche Wesen, so würde unser Handeln ausnahmslos und von selbst in dieser Form verlaufen; da wir dies nicht sind, wird sie für uns zum Imperativ, d. h. wir empfinden sie als ein Sollen, als einen inneren Befehl, und zwar, da er die Beschaffenheit des Willens selbst betrifft und deshalb für alle je möglichen einzelnen Willensakte gilt, als den einzig kategorischen, unbedingt gültigen, dem wir uns zu beugen haben. Damit sind wir zu dem »kategorischen Imperativ« Kants gelangt, dessen Formulierung nun verständlich sein wird: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Dies also ist die Verbegrifflichung desjenigen, was als die seelische Tatsache der Pflicht empfunden wird. Es ist das Schema zunächst für das äußerlich pflichtmäßige Handeln, das zum sittlichen wird, wenn das Pflichtmoment in diesem als die allein entscheidende Triebfeder wirkt.

Der kategorische Imperativ ist in bezug auf Popularität das Seitenstück zu der »Idealität des Raumes« und täuscht dadurch genau wie diese über die außerordentliche Schwierigkeit der Probleme und die Komplikationen der Denkmotive hinweg, die sich in ihm kreuzen und ohne deren Entzifferung er eine ziemlich leere Formel bleibt. Seine wesentliche Leistung ist jetzt, wenngleich erst im Umriß, angedeutet: er zeigt, wie der auf die rein persönliche Freiheit gestellte Wille doch keineswegs etwas bloß Subjektives zu sein, keineswegs der festen, überindividuellen Normierung zu entbehren braucht. Und die Art, wie er diese dem Willen gewährt, enthüllt eine tiefe Analogie zu dem theoretischen Apriori. Die Allgemeingültigkeit eben dieses hatte gleichfalls nicht bedeutet, daß nun wirklich alle Menschen ihm gemäß denken; sondern die Möglichkeit und Forderung einer solchen Allgemeinheit drückte nur die sachliche, innere Wahrheitsbeschaffenheit der apriorischen Vorstellungen aus. So hat Kant nun hier die entsprechende überraschende Synthese geschaffen, daß die bloße Möglichkeit, die eigene Handlungsweise als ein Gesetz für alle zu denken, das Kriterium ihrer inneren, nur sich selbst verantwortlichen sittlichen Beschaffenheit sei. Aus der Tatsache, daß das Sittliche uns als eine Forderung bewußt ist, eine Forderung aber nur dann gerecht und im idealen Sinne möglich ist, wenn sie für alle in gleicher Weise gilt, entwickelt er, daß der Inhalt der Pflicht nur als allgemeines Gesetz möglich ist; da diese Allgemeinheit des Gesetzes aber nicht bedeuten darf, daß es dem Individuum von außen oktroyiert wird, so bleibt nur übrig, daß sie der Charakter des von innen, frei, aufsteigenden Willensprozesses selbst sei. Weil es aber ferner ersichtlich dahingestellt bleiben muß, ob diese Geltung als allgemeines Gesetz auch wirklich äußerlich realisiert ist und dies auch für sie, die nur die innere Beschaffenheit und Wert des Willens ausdrückt, ganz gleichgültig ist – so ist endlich das Entscheidende nur dies, daß der sittliche Willensinhalt die Möglichkeit oder Qualifikation besitzt, zum allgemeinen Gesetz zu werden, daß der Handelnde ihn als solches wollen kann. – Dieser Anspruch auf mögliche Verallgemeinerung zu einem Gesetz würde heute als die soziale Forderung an den Einzelnen auftreten. Die reale Herrschaft des Interesses aller in dem individuellen Tun ist die engere zeitgeschichtliche Form für jenen allgemeinen Imperativ der Sittlichkeit, den Kant zeitlos, weil bloß als logisch-konsequente Deutung des Pflichtbegriffs überhaupt aufstellt. An sich geht diese Formel weit über alles Soziale hinaus. Es würde ihr durchaus nicht widerstreiten, wenn jemand einmal eine Handlung, die allen Interessen der Gesellschaft absolut entgegengesetzt ist, als seine Pflicht empfände: wenn religiöse, sachliche, rein personale Idealbildungen dies herbeiführen, so könnte prinzipiell eine solche Handlungsweise doch noch als ein Gesetz für alle, die sich in der gleichen Lage befänden, ohne inneren Widerspruch gedacht werden.

Will man diesen Gedanken von seinem innersten Kern her ergreifen, so zeigt sich die oben gebrauchte Bezeichnung der Allgemeingültigkeit als des » Kriteriums« der inneren sittlichen Beschaffenheit der Handlung als nicht ganz hinreichend. Diese Allgemeingültigkeit ist unmittelbar die sittliche Bestimmung des Willensinhaltes. Aber dies eröffnet sofort einen Dualismus; denn der Wert des eigensten Willens erscheint damit doch aus dem Eigensten heraus verlegt, es scheint geleugnet, daß er wirklich rein in sich wertvoll sein könnte, er bezieht seinen Wert von einer ideell über ihn hinausreichenden Instanz, so eng und solidarisch diese auch seinem Eigensten verbunden sei. Andrerseits aber kann dies gerade als die Großartigkeit des Prinzips erscheinen; denn der ganze Abstand zwischen dem Eignen und dem Nicht-Eignen ist aufgehoben, wenn das Letztere die unmittelbare Wertqualität ist, die das Erstere überhaupt besitzen kann. Hier hat, statt aller logischen und wissenschaftlichen Entscheidung, eine metaphysische einzutreten: ob man in dem Einwohnen des Allgemeinen in dem individuellen Willen und in dessen so bewirktem Werterwerb eine Depossedierung oder Mißdeutung eben dieses Wertes sieht; denn nur in der reinen Innerlichkeit des Willens und seinem Verhältnis zu qualitativen Idealen wohne sein Wert, für den es insoweit ganz zufällig wäre, ob er außerdem die Eignung zur allgemeinen Norm besitze. Ebensowenig beweisbar und ebensowenig widerlegbar ist freilich die andere Entscheidung, wonach das in sich beschlossene Sein des Willens wertindifferent ist und erst in dem Augenblick seiner innerlich vollbrachten Erweiterung zur Allgemeingültigkeit die Wertschwelle überschreitet: das sei sozusagen die Definition des Sittlichen, daß der Wille so in sich selbst die Spannung zwischen der Einzelheit und der Allgemeinheit überwinde.

Die Kantische Lösung des typisch-menschlichen Konfliktes zwischen dem Rechtsanspruch des Einzelnen an Freiheit und Fürsichsein und dem der Allgemeinheit in ihrem begrifflichen und in ihrem sozialen Sinne scheint zunächst die ethische Situation noch nach den folgenden Seiten hin zu interpretieren. Einerseits findet die Persönlichkeit mit ihren Launen und Velleitäten, ihren Ansprüchen und Reizbarkeiten ein strenges Maß ihrer Freiheit in der Forderung, das eigene Handeln widerspruchslos als ein Gesetz für alle denken zu können. Hier wird jener selbstschmeichlerischen Einbildung vorgebeugt, als sei man zu einem ganz besonderen Handeln und Genießen berechtigt, weil man »anders als die andren« sei. Die Gleichheit vor dem moralischen Gesetz, die sittliche Rechtsprechung »ohne Ansehen der Person« hat hier ihren lückenlosen Ausdruck gefunden. Nicht als ob es eine äußerliche Uniformierung des Handelns gälte; aber wie selbständig, wunderlich, revolutionär eine Handlung auch sei – sittlich ist sie nur, wenn der Handelnde wollen kann, daß jeder beliebige andere in dieser Situation genau ebenso handle. Und hier liegt der Punkt, wo die Kantische Formel an die Allgemeingültigkeit des einzelnen Tuns seine völlige Individualisierung knüpft. Mehr als irgend eine andere Moralformel läßt diese, gerade wegen ihrer Weite und Allgemeinheit, Raum für die Berücksichtigung der besonderen Umstände, unter denen das Handeln erfolgt. Die Handlung als Ganzes, zu der also auch alle einzelnen Bedingungen, die Situation und der Charakter des Handelnden, seine darauf bezügliche Lebensgeschichte und die Konstellation seiner Umgebung gehört, steht in Frage. Erst von der so spezifizierten Tat wird die mögliche Verallgemeinerung zum Gesetz verlangt. Dadurch wird es denkbar, daß die, äußerlich angesehen, unsittlichste Tat, deren Gültigkeit als allgemeines Gesetz ganz ausgeschlossen scheint – zum Beispiel das Töten eines Menschen – dennoch, indem alle ihre besonderen Umstände in Betracht gezogen werden, durchaus als allgemeines Gesetz gelten könnte, aber freilich nur als diese singuläre, durch diese ganz individuellen Umstände bestimmte Tat. Die letzten und besondersten Qualifikationen der Handlung können, ja müssen bei ihrer sittlichen Beurteilung einbezogen werden, und erst wenn sie es sind, wenn der Tatbestand bis in seine feinsten Fugen und Verästelungen hinein klar liegt, dann erst tritt jene Forderung auf, die Handlung, alle diese Umstände einbegriffen, als allgemein gültige ansehen zu können. Welches inhaltlich bestimmte Moralgebot man auch aussprechen möge, die Vervollkommnung der eignen Persönlichkeit oder die Glückssteigerung der Gesamtheit, die Herrschaft der Vernunft oder der göttlichen Offenbarung, die Steigerung des Mitleids oder der individuellen Kraft – immer wird es Situationen geben, deren eigentümlicher Kompliziertheit ein solcher Imperativ nicht gewachsen ist, keiner wird für jede mögliche individuelle Sachlage vorgesorgt haben, und so wird man, wenn man ihm dennoch unbedingten Gehorsam wahren will, sich vergewaltigt fühlen; man wird empfinden, daß das momentane Problem, die eigenartige Ausgestaltung des persönlichen Schicksals damit eine äußerliche und rohe Beugung unter ein Gesetz erfährt, bei dessen Schöpfung auf sie keine Rücksicht genommen ist. Erst die Kantische Formel, die von dem höchsten Imperativ jede einzelne, inhaltliche Bestimmung ausschließt, gibt damit den einzelnen Bestimmtheiten des gegebenen Falles uneingeschränkten Raum. Bis hierher scheint die Kantische Moralformel das höchste Prinzip zu verkörpern, das durch den Zwist individueller und sozialer Ansprüche hindurchleitet: daß die absolute Berücksichtigung der Individualität und ihrer Lage die alleinige Bedingung bildet, unter der man die Befolgung absolut allgemeiner Gesetze von ihr fordern darf.

Nun aber muß vor allem aufgeklärt werden, welches denn die Eigenschaften einer Norm sind, damit ich sie als allgemeine »wollen kann«. Warum kann ich denn nicht als allgemeines Gesetz wollen, daß gestohlen oder gelogen wird? Die Frage ist keineswegs so leicht beantwortbar, wie es scheint; soweit ich sehe, gibt Kant dafür zwei einander sehr entgegengesetzte, von ihm selbst nicht immer genau auseinander gehaltene Lösungen. Die erste ist die des Eigeninteresses. Ich kann nicht wollen, daß allgemein betrogen wird, denn wenn es auch etwa in meinem Interesse läge, zu betrügen, so will ich doch niemals, daß gegen mich ebenso verfahren würde; ich kann nicht wollen, daß meine Hartherzigkeit gegen den Notleidenden allgemein sei, denn ich kann nicht wissen, ob ich nicht selbst einmal die Hilfe anderer anrufen muß. Dieser Typus von Begründungen wird heute niemandem mehr genügen, ja, ich muß gestehen, daß er mir bei Kant völlig unbegreiflich ist. Weshalb soll die Berufung auf das Eigeninteresse, das er doch sonst nie als sittliches Kriterium anerkennt, auf einmal hier entscheiden? Ich kann doch, gerade in seinem Sinne, manches aus sittlichem Interesse als allgemeines Gesetz wünschen, was meinen Privatinteressen ebensoviel Abbruch tut als allseitige Gleichgültigkeit gegen die Not des Mitmenschen – auch gegen die meinige – es könnte. Andrerseits: wer sich etwa bewußt ist, geschickter als alle andren betrügen zu können, würde sich bei allgemeiner Herrschaft des Betruges gar nicht so übel stehen und diesen durchaus als »allgemeines Gesetz« wollen können. Und die Eventualität, unter derselben Vergewaltigung vielleicht selbst zu leiden, die man andren antut, bewirkt noch durchaus nicht, daß man sie nicht als allgemeines Gesetz »wollen könne«: eine trotzige Kraftnatur wäre durchaus damit einverstanden, ebenso rücksichtslos unterworfen zu werden, wie sie selbst andere unterwirft, wenn ein Stärkerer kommt, den sie als überlegen anerkennen muß. Und sogar umgekehrt: gerade die hingebendsten, aufopferndsten Wesen können als solche gar nicht wollen, daß von andren in ihrer eigenen Weise gegen sie verfahren würde, weil schon dieser Wunsch die Selbstlosigkeit und das sittliche Verdienst ihres Tuns aufheben würde. Es lohnt nicht, länger bei diesem Motiv zu verharren, dessen ethische Kleinlichkeit durch keinerlei logische oder psychologische Bedeutung ausgeglichen wird.

Anders steht es mit der zweiten Begründungsart, die Kant andeutet. Ich kann nicht wollen, daß ein Depositum unterschlagen würde, weil dies dem Begriff des Depositums, als einer zum Wiedergeben bestimmten Summe, widersprechen würde. Ich kann nicht wollen, daß die Lüge allgemeines Gesetz sei, weil es der Begriff der Aussage ist, die Meinung des Sprechenden zu verlautbaren, so daß die prinzipielle Lüge demselben Begriff zwei sich gegenseitig aufhebende Bestimmungen zusprechen würde. Dies kann ich nicht wollen, nicht, weil es mir oder andren schädlich ist, sondern weil es ein logischer Widerspruch ist; ich kann doch unmöglich wollen, daß A non-A sei, obgleich ich natürlich wollen kann, daß statt des A lieber non-A wäre. Mit Worten ließe sich freilich auch ein solcher Wille behaupten, aber für Wesen, deren Denken an den Satz des Widerspruchs gebunden ist, ist es kein vollziehbarer Gedanke. Wer im einzelnen Falle lügt, benutzt subjektiv die Tatsache, daß die Aussage ihrem Wesen nach als Wahrheit anerkannt ist; daß man die Lüge als durchgehende Norm – Kant sagt auch: als Naturgesetz – wollte, würde heißen, daß die Aussage als solche, objektiv, ihren Sinn als Aussage behalten und zugleich den gegenteiligen annehmen solle.

Ob sich mit dieser Formel die sittlichen Forderungen wirklich umschreiben lassen, wird nicht unbezweifelt bleiben; dagegen erscheint sie mir als ein höchst bedeutender, vielleicht als der bedeutendste rein spekulative Gedanke Kants – da die Vernunftkritik nicht als philosophische Spekulation, sondern als wissenschaftliche Erkenntnistheorie zu gelten hat. Es ist eine wahrhaft großartige Idee, daß der verstandesmäßige Zusammenhang, die innerlich-logische Einheitlichkeit unsres Handelns das Kriterium auch ihres sittlichen Wertes bilde. Damit scheint jene wurzelhafte Harmonie unsres Wesens bezeichnet, auf die Kant einmal mit den kurzen Worten hindeutet, es sei doch im Grunde eine und dieselbe Vernunft in uns, die sich einerseits als theoretisches Denken, andrerseits als praktisches Handeln offenbare. Wir brauchen gleichsam nur an der logischen Bedeutung der Dinge entlang zu gehen, um den sittlich richtigen Weg zu finden. Unsere Seele ist so eingerichtet, daß sie das Widerspruchsvolle nicht wollen kann, weil sie es nicht denken kann; als das Gesetz, dem sie selbst gehorcht, kann sie also nur das Widerspruchslose wollen, oder vielmehr: sie erkennt die Zulässigkeit ihres Handelns, seine Einordnung in die letzte Harmonie des Daseins daran, daß es widerspruchslos ist. Aber der Betrachtung der einzelnen Tat ist dies nicht zu entnehmen, sie hat die Zufälligkeit des bloß Wirklichen, ihr Begriff muß erst über ihre Einzelheit emporsteigen, damit sie ihre Bedeutung und deren Wert enthülle. Dazu also muß man sie nicht in ihrer Individualität, sondern als allgemeines Gesetz wollen können, damit man der Zusammenstimmung ihres inneren Sinnes mit sich selbst sicher sei, in der ihre Zusammenstimmung mit dem Sinne des Daseins überhaupt beschlossen ist. Hier tritt eine ganz neue Beziehung dieser Formel zu dem letzten Fundamente der Kantischen Ethik hervor, zu der Einheit von Freiheit und Sittlichkeit. Wie der Mensch nur sich selbst zu gehören braucht, nur alles Fremde von seinem Willen abstreifen muß, wie der Wille nur der reine, einheitliche Ausdruck der Persönlichkeit zu sein braucht, damit er sittlich sei – so ist die einzelne Handlung sittlich, wenn sie ihrem eignen Sinne, ihren eignen inneren Voraussetzungen entspricht. Das letztere ist gleichsam die Technik, durch die sich jene grundlegende Werteinheit im einzelnen bewährt und verwirklicht. Beides beruht auf dem großen spekulativen Gedanken, daß alles Menschliche, insoweit es mit sich selbst übereinstimmt, auch mit den idealen Forderungen übereinstimmt, die daran gestellt werden mögen – tief verwandt mit dem Goetheschen Ausspruch: »Wer mit sich einig ist, ist es auch mit andern.«

Die Bindung der Tat an die Unterordnung unter das allgemeine Gesetz, das aus ihr selbst emporsteigt, gehört in den Kreis jener tiefen Ahnungen der Metaphysik, die in jedes Wesen sein Ideal, das, was es zu sein bestimmt ist, in einer verhüllten, unentwickelten Form hineinlegen, nicht einfach als ein Sein, aber doch auch nicht als ein Nicht-Sein, sondern als eine dritte Kategorie, die jenseits dieser Alternative steht; als wäre jeder Anspruch, der an ein Wesen oder ein Tun aus ihnen scheinbar äußeren Wertordnungen herantritt, dadurch erfüllt, daß es sein eigenes, wie mit ideellen Linien in ihm gezeichnetes innerstes Sein durch die Zufälligkeit und Disharmonie seiner empirischen Wirklichkeit hindurchwachsen läßt. Indem hier nun das Kriterium jener Übereinstimmung in der inneren Widerspruchslosigkeit der Handlung, als allgemeiner Begriff gedacht, besteht – denn das »allgemeine Gesetz« ist doch nur der allgemeine Begriff in der Form der Praxis –, indem also die Logik über das sittlich Erforderliche bestimmt, offenbart sich der Kantische Intellektualismus als die letzte Instanz auch der sittlichen Entscheidungen. In viel wirkungsvollerer Weise greift er hier ein als in den von vornherein intellektualistischen Ethiken, die, z. B. wie Sokrates, die Tugend für ein Wissen erklären, so daß der, der alle Dinge in ihren Zusammenhängen restlos erkennte, überhaupt nicht unsittlich handeln könne. Im Gegensatz dazu gibt Kant der Moral eine von vornherein völlig selbständige Stellung. Der Wille, in dem alle ihre Werte ruhen, hat weder psychologisch mit dem Erkenntnisvorgang, noch logisch mit dessen Richtigkeit oder Irrungen zu tun. Und erst nachdem der sittliche Prozeß in völliger Abgelöstheit und Autonomie konstatiert ist, tritt das rein logische Moment der Widerspruchslosigkeit als sein Halt und sein Kennzeichen auf, gleichsam als das Gesetz seiner Gesetze. Gerade die Selbständigkeit der moralischen Werte steigert den Triumph des intellektualistischen Wertes, wie es etwas Höheres ist, über Freie zu herrschen, als über Abhängige. Die innere Einheitlichkeit unsrer Handlungen, als Garantie ihrer sittlichen Würde, baut sich auf der logischen Widerspruchslosigkeit auf, die die Wirklichkeit und Einzelheit jener mit der überindividuellen und absoluten Forderung an sie zusammenknüpft, beide als verknüpfte erweist.

Es ist vielleicht eine Vermutung über die Entwicklung möglich, mit der Kant zu solcher Logisierung des Ethischen gelangt ist. Nach seinem eigenen Geständnis war er zu Beginn seiner wissenschaftlichen Arbeit ausschließlich theoretisch interessiert: ausschließlich Forschen und Wissen hätte er geschätzt und den »Pöbel, der von nichts weiß«, verachtet. Hierin hätte nun Rousseau einen Umschwung gebracht und ihn gelehrt, das Menschentum als solches – im ethisch-praktischen Sinne – zu ehren; was sich dann später zu den häufigen Äußerungen steigert, die dem sittlichen Werte den absoluten Vorrang vor allen anderen, insbesondere auch vor den intellektuellen einräumen. Nun betrifft dieser Vorrang doch nur die Intelligenz als psychologische Eigenschaft von Subjekten; die ideelle Absolutheit der logischen Werte wird davon nicht betroffen, sie bleibt als die Erbschaft jener rein intellektualistischen Epoche zurück, sie ist der sachliche Kern, der seine anthropologische Realisierung in dem gelehrten oder kenntnisreichen Individuum als etwas Zufälliges abgestoßen hat. Indem nun aber die Moral gleichfalls als absoluter Wert daneben trat, wäre ein schwieriger Dualismus des Definitiven entstanden – den Kant dadurch löste, daß er die moralische Norm von der Logik gestalten ließ. Es bestätigt diesen Zusammenhang, daß Kant in der vorkritischen Epoche, als sich ihm die Moral nicht als Absolutes darstellte, sie auch nicht als logisch formierte erblickte »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«, vom Jahre 1766.. Die Logisierung der Ethik war das geniale Mittel, die Absolutheit der Moral zu bewahren, ohne sie in Konkurrenz oder Fremdheit gegen den idealen Wert der Erkenntnis geraten zu lassen.

Nun ist aber das Merkwürdige, daß jener tiefere Sinn des »Wollen-Könnens« dennoch zu versagen scheint, sobald man ihn auf seine Folgen für die einzelne sittliche Entscheidung prüft. Er kann nämlich zunächst nur verbieten, aber nicht gebieten. Vielleicht enthält alles Unsittliche, als allgemeines Gesetz gedacht, einen inneren Widerspruch; aber daraus folgt noch nicht, daß alles, was ihn nicht enthält, sittlich notwendig sei. Ich kann es ohne weiteres als allgemeines Gesetz denken, daß sich alle Menschen, wie die Quäker, mit Du anredeten; daraus wird doch aber niemand die sittliche Pflicht entnehmen, zu jedem Fremden Du zu sagen. Es ist einer der am häufigsten betonten Sätze in Kants theoretischer Philosophie – der freilich heute nicht mehr die Wichtigkeit besitzt wie in der philosophischen Situation seiner Epoche –, daß die logische Widerspruchslosigkeit eines Satzes noch nicht den geringsten Beweis für seine Wahrheit bildet; sie schließt eine Irrtumsquelle aus, aber keine der unzähligen andren, die in den inhaltlichen Verhältnissen der Erkenntnis liegen; Unzähliges lasse sich ohne den geringsten logischen Widerspruch behaupten, dessen Wahrheit entweder unerweislich oder dessen Unwahrheit erweislich ist. Dieser nur prohibitiven und partiellen Bedeutung der Widerspruchslosigkeit fügt ihre ethische Anwendung ersichtlich keinerlei Erweiterungen hinzu. Alle Beispiele, die Kant gibt, folgen der Formel: »du sollst nicht –«, aber für die Auswahl des sittlich Notwendigen aus dem so bestimmten sittlich Möglichen gibt dies Prinzip nicht den geringsten Fingerzeig.

Hier zeigt die Formel des kategorischen Imperativs eine eigentümliche Beziehung zum Recht und zur Logik. Man kann das Recht als die soziale Mindestforderung ansehen, d. h. als die Summe derjenigen Forderungen, die wenigstens erfüllt werden müssen, damit eine Gesellschaft möglich sei – während sie für das tatsächliche Leben einer solchen noch keineswegs ausreichen. Es würde vielmehr jede Gesellschaft zusammenbrechen, in der nicht außer den rechtlich erzwingbaren Normen noch solche der Sitte, der Moral, der Gefühlsverbindungen usw. in Kraft wären; nur daß das Versagen des Rechts zuerst und jedenfalls diese Folge hätte. Ähnlich kann man die logischen Normen als das intellektuelle Minimum bezeichnen. Gewiß müssen sie, damit es volle Erkenntnis gebe, durch sehr vieles andre ergänzt sein, allein wenn nicht zunächst sie erfüllt sind, kann es überhaupt zu keiner kommen; wenn nicht mindestens sie anerkannt sind, ist die Vereinheitlichung zwischen verschiedenen Intelligenzen wie zwischen den Elementen einer einzelnen Intelligenz ausgeschlossen. So also kann man jene innere Widerspruchslosigkeit des Handelns vielleicht als das moralische Minimum charakterisieren. Gewiß reicht es zur Ergänzung oder Bestimmung des positiv Sittlichen nicht aus; dieses, durch inhaltbestimmte Normen und konkrete Situationen und Impulse hervorgerufen, setzt aber zunächst die Zulässigkeit, das Nicht-Verbotensein voraus. Wo diese erste Bedingung fehlt, kann es überhaupt zu moralischem Handeln nicht kommen. Durch solche Deutung des imperativischen »Wollen-Könnens« als des ebenso unzulänglichen wie unerläßlichen Minimums des Ethischen wird das Wunderliche begreiflicher: daß eine Morallehre, die auf das Unbedingte und Unnachlaßliche der Pflicht geht, es doch in deren Formulierung nicht weiter bringt, als das Zulässige – oder, von der anderen Seite her, das Verbotene – zu fixieren.

Indes wird sogar diese spärliche Bedeutung, wenigstens den Umfang des Erlaubten zu umschreiben, durch weitere Prüfung an Kants theoretischen Lehren hinfällig: ein Widerspruch, sagt er, hat nur dann irgendeine Konsequenz, wenn die Gültigkeit eines Begriffes zuvor gegeben ist; dann freilich sind Bestimmungen unmöglich, die diesem logisch widersprechen. Ist jener Begriff aber etwa imaginär, so läßt sich aus dem Widerspruch, den gewisse Bestimmungen zu ihm bilden, gar nichts folgern. Es sei also z. B. ein logischer Widerspruch, daß Gott nicht allmächtig sei, da die Allmacht in seinem Begriffe läge; stellt man aber die Existenz Gottes überhaupt in Abrede, so folgt aus diesem logischen Verhältnis nicht das geringste, denn alle Bestimmungen, die man aus seinem Begriffe vermittels des Satzes des Widerspruchs entwickeln mag, fallen mit ihm selbst dahin. Wendet man dies auf die Widerspruchslosigkeit des allgemeinen praktischen Gesetzes an, so zeigt sich, daß diese nur dann ein Kriterium ist, wenn das sittlich Notwendige bereits aus andren Gründen feststeht – gerade wie »Erfahrung« gelten muß, damit Kants theoretische Philosophie möglich sei; stellt man ihre Geltung in Abrede, so fällt diese zusammen. Ich kann nicht ohne inneren Widerspruch gegen den Begriff des Eigentums wollen, daß allgemein gestohlen werde – wenn ich nun aber den Begriff des Eigentums selbst nicht will, ihn nicht anerkenne? Dann entsteht durch das »allgemeine Gesetz« des Stehlens durchaus kein Widerspruch, sondern vielleicht gerade die Maxime: Eigentum ist Diebstahl. Wenn die Unterschlagung des Depositums machen würde, daß es keine Deposita gäbe, so wäre es für jemanden, der aus ihm richtig erscheinenden Gründen will, daß es keine Deposita gäbe, durchaus sittlich, zu diesem Zwecke eines zu unterschlagen, auf die Gefahr hin, zum Märtyrer für seine Überzeugung zu werden, – ganz gleichgültig dagegen und die Sittlichkeit der Tat gar nicht alterierend, daß dem Begriff des Depositums damit widersprochen wird. Ich soll nicht als »allgemeines Naturgesetz« wollen können, daß jeder sein Leben beliebig enden dürfe, weil damit keine Natur bestehen könne; wenn ich nun aber mit den Pessimisten überhaupt nicht will, daß eine Natur bestehe, so ist der Selbstmord in keiner Weise ein innerer Widerspruch. Kurz, genau wie im rein theoretischen Falle hat die innere Widerspruchslosigkeit des Gesetzes, zu dem ich mein individuelles Handeln erhebe, nur dann eine Bedeutung, wenn ich bereits einen Begriff, einen Zustand oder Geschehen, als sittlich gültig, als sein sollend, vorausgesetzt habe. Ist dies nicht der Fall, so mag ich tun, was ich will, es entsteht kein Widerspruch, weil nichts da ist, dem widersprochen werden könnte. Statt als eine selbständige Feststellung des Sittlichen enthüllt sich also die Kantische Formel als bloßes Mittel für die Klärung und Auseinanderlegung von anderweitig – durch sittlichen Instinkt oder sonst – schon anerkannten sittlichen Werten.



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