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Zehnte Vorlesung.

Es gehört zu den beängstigendsten Fragwürdigkeiten der Philosophie, daß ihre tiefsten Gedanken, die der Gesamtheit der Erscheinungen ein ganz neues Licht und neue Bedeutsamkeiten versprechen, so oft in dem Augenblick unzulänglich und widerspruchsvoll werden, in dem ihre Leistung für die konkreten und einzelnen Probleme geprüft wird. Indem sie aus ihrer Höhe zu diesen herabsteigen, scheint die Änderung der Distanz das ganze Verhältnis zu verrücken, es ist jetzt, als wären sie gar nicht die Allgemeinheiten zu eben diesen Einzelheiten, sondern hätten ihre Gültigkeit nur in einer eignen Sphäre, innerhalb derer sie auch allein ihre Kriterien finden: als wäre ihr Verhältnis zu dem einzelnen, das wir doch fühlen, gar nicht das der allgemeinen Norm oder des zusammenfassenden Begriffes, sondern ein andres, fremdartiges, für das wir keine rechte wissenschaftliche Kategorie haben. So zerfließt die ganze Bedeutung, die dem logischen Sinn des kategorischen Imperativs zukam, in nichts, sobald man sie nach ihrer Bewährung an dem singulären Problem befragt – ohne daß man sich doch entschließen könnte, diese Bedeutung nun daraufhin zu nullifizieren. Wie weit man auch ihre logische oder realistische Tragweite beschränken mag – für den eigentümlichen Blickpunkt der philosophischen Abstraktion, für den in sich geschlossenen Bezirk eines allgemeinen innerlichsten Lebensgefühles, das nicht das Allgemeine über angebbaren Besonderheiten ist – für diesen bleibt sie bestehen.

Und so verhält es sich nicht nur mit der Formel, um deren Interpretation es sich bis jetzt handelte, sondern auch jenen weitausgreifenden sachlichen Sinn des kategorischen Imperativs, auf den ich früher hindeutete, ergreift die Kritik mit der gleichen Mischung von Erfolg und Erfolglosigkeit. Ich zeigte, daß die Kantische Fassung des sittlichen Sollens es mehr als irgendeine andere den besonderen Bedingungen der Situation zugängig macht. Aber gerade dies führt zu einer verhängnisvollen Konsequenz. In dem gesamten Bezirk sachlicher und persönlicher Umstände, die jeden Moment eines Menschenlebens erfüllen, ist kein einziger, dem man das Recht auf Beeinflussung einer geforderten sittlichen Entscheidung von vornherein absprechen könnte: ja, je feiner das sittliche Empfinden und je tiefer die Erkenntnis der Lebenszusammenhänge ist, um so weniger wird irgendein Element des inneren oder äußeren Daseins für unsre moralischen Direktiven gleichgültig sein können. Indem der kategorische Imperativ verlangt, daß ich mir meine Handlungsweise als ein allgemeines Gesetz denke, indem aber dies, um die Handlungsweise wirklich genau kenntlich und beurteilbar zu machen, heißt: die Situation in allen ihren Bestandteilen verallgemeinern – ist das Gesetz ja um gar nichts weiter oder allgemeiner als der individuelle Fall! Ein Gesetz bedeutet doch, daß an bestimmte Voraussetzungen ein Erfolg geknüpft ist oder werden soll, und zwar jedesmal, wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, und gleichgültig gegen die sonstigen individuellen Nuancierungen, in denen sie auftreten. Ist man also z. B. auf dem Wege des kategorischen Imperativs zu den Gesetzen gekommen: du sollst Vater und Mutter ehren, oder: du sollst nicht stehlen – so sind dies Gesetze, d. h. allgemeine Gesetze, nur dann, wenn sie ausnahmslos gelten, und nur dann können sie mein jetziges Verhalten sittlich legitimieren. Aber das ist gar nicht der Fall; es kann Situationen geben, in denen der Bruch aller kindlichen Pietät oder ein Eingriff in fremdes Eigentum durch noch höhere Pflichten gerechtfertigt wird. Ich bilde also, in diesem Falle befindlich, ein neues allgemeines Gesetz: unter den und den gegebenen Bedingungen darf oder muß die Heiligkeit der Pietät oder des Eigentums durchbrochen werden. Nun mögen ein drittes Mal diese letzteren Bedingungen zwar gegeben sein, zugleich aber weitere Komplikationen, welche die Wirkung jener völlig aufheben; es muß also, um die jetzt resultierende Handlungsweise als sittliche zu erkennen, ein drittes Gesetz als widerspruchslos erfunden werden, das nun wieder die Paralysierung jener früheren Normierung als allgemeine Norm ausspricht. Die logische Folge hiervon ist, daß es überhaupt kein allgemeines Gesetz geben kann, d. h. kein solches, das aus seiner durch die gegebne Situation bestimmten Handlungsweise gewisse Elemente heraushebt, um sie zu verallgemeinern und damit ein Gesetz für alle Situationen, die diese Elemente zeigen, zu bilden. Denn da jede neue derartige Situation außer jenen allgemeinen Elementen noch spezielle besitzt, so ist es von vornherein ungewiß, ob diese letzteren nicht Bedingungen enthalten, die die sittliche Konsequenz jener modifizieren oder in ihr Gegenteil verkehren. Diese Spezifikation der Lage, die in das »allgemeine Gesetz« als Bedingung aufgenommen werden muß, hat Kant, soviel wir sehen können, nicht erwogen. Er meinte offenbar, die in einer bestimmten Situation fragliche Handlung enthielte eben Elemente, die zum Gesetz verallgemeinert werden könnten – also unter Weglassung andrer, die nur individuell wären; und damit sei die jetzt erforderte Handlungsweise gefunden. Aber für die Grenzsetzung zwischen denjenigen Umständen, die noch Aufnahme in das Gesetz beanspruchen dürfen, und den individuellen, denen keine Verallgemeinerung und also kein Einfluß auf die sittliche Entscheidung zu gestatten ist, – für diese Grenzsetzung hat er keine prinzipielle Norm angegeben und es ist auch keine anzugeben. Für die Praxis täglicher und unkomplizierter Fälle wird sich die Scheidung freilich ohne weiteres ergeben, die Beispiele Kants zeigen auch, daß er an keine andren gedacht hat: ob man lügen dürfe, ob man anvertraute Gelder zurückbehalten dürfe, ob man sich dem Anspruch auf Hilfe bei Notständen andrer entziehen dürfe – alles dieses entscheidet sich innerhalb eines einfachen, ich möchte sagen kleinbürgerlichen Milieus sehr leicht gemäß dem kategorischen Imperativ; aber sobald solche Entscheidungen in die Wirrnis gekreuzter Interessen und Bindungen verflochten sind, versagt er vollständig, weil wir nicht wissen, wo die Formulierung des allgemeinen Gesetzes, d. h. die Vernachlässigung der singulären Komplikationen, einzusetzen hat. So ist, lehrreich genug, auch diese, scheinbar auf der bloßen Logik aufgebaute Theorie doch in ihrer Geltung auf das empirische Material beschränkt, das ihrem Urheber vorschwebte, und wird mit der Erweiterung desselben auch logisch unzulässig.

Statt der a priori ausreichenden Entscheidung, in der Kant den ganzen Wert seines Moralprinzips sah, bleibt also ersichtlich nichts übrig, als in jedem Falle die Gesamtheit der Situation in die Erwägung hineinzurechnen und zu fragen, ob man eine bestimmte Handlung unter den gesamten Umständen der Lage als allgemeine Norm wollen könnte. Dies aber ergibt, wenn man genau hinsieht, überhaupt keine Entscheidung. Wenn alle genau so handelten, wie ich jetzt zu handeln vorhabe, so sind zwei Fälle denkbar. Entweder es zeigen sich dabei andere Konsequenzen als in meinem Einzelfall – dann habe ich an jenen kein Kriterium für diesen. Denn zweifellos ändert sich manchmal die Bedeutung einer Handlungsweise dadurch, daß sie von vielen, statt von einem realisiert wird, z. B. bei solchen, die ein erhebliches Risiko enthalten; dieses auf sich zu nehmen, kann manchmal für den Einzelnen durchaus moralisch sein, es würde aber, von vielen Individuen desselben Kreises wiederholt, eine ganz unzulässige Gefährdung des Ganzen mit sich bringen. Ein Handeln mit verschiedenen Konsequenzen ist aber ein verschiedenes Handeln, und deshalb ist in diesem Fall aus der Verallgemeinerung der einzelnen Entscheidung zum Gesetz kein Kriterium für sie zu entnehmen. Oder die Konsequenzen des gleichen Handelns aller sind genau die gleichen wie die des individuellen. Dann kann ich nicht sehen, wieso die Verallgemeinerung – die hier nur eine numerische Wiederholung ist – mich über die Bedeutung weiter aufklären soll, als schon die auf meinen Einzelfall beschränkte Betrachtung es vermag.

Die ganze Eigenart der Kantischen Deutung des Ethischen, in ihrem Gelingen wie in ihrem Versagen, scheint mir auf einen Mittelpunkt hinzuweisen: auf den Einfluß seiner mechanistischen Weltanschauung. Der moralische Kalkül bei Kant ruht durchaus darauf, daß das kontinuierliche praktische Leben und die sittliche Bedeutung, die dies Leben doch in dem gleichen ununterbrochenen Flusse durchdringt, in einzelne, aus der Lebenskontinuität heraus isolierte Willenstaten zerlegt wird. Die einzelne Handlung samt dem Wertquantum, das die richtunggebende Gesinnung in ihr investiert hat, wird als fest umschriebene dem Gesetz gegenübergestellt, wie die Naturwissenschaft eine Erscheinung aus den unendlichen Verwebtheiten ihres realen Verlaufes heraushebt und sie in dieser abstrakten Selbstgenugsamkeit in eine bestimmte Anzahl von Elementen zerlegt und nach einer bestimmten Anzahl von Gesetzen konstruiert. Man lasse sich nicht dadurch täuschen, daß die entscheidenden Gesetze jetzt alle ethisch wesentlichen Momente der Situation berücksichtigen und daß ihr Urteilsgrund schließlich nur die innerste Gesinnung ist: dies alles in die Tat eingerechnet, wird sie nun doch als ein grenzbestimmtes, in diesen angebbaren Momenten sich erschöpfendes Ereignis vor das sittliche Gericht gestellt, gelöst aus dem Lebenszusammenhange des Subjekts. Es ist wie ein Laboratoriumsexperiment, das den Vorgang aus allen ihm sonst natürlichen Zusammenhängen herausgeschnitten hat. Eine »ungerechte« Beurteilung der Tat ist damit an und für sich nicht gegeben; nur darüber muß man sich klar sein, daß hier eine Projizierung des tatsächlichen ethischen Geschehens gemäß der Methode der mechanistischen Wissenschaft vorliegt. So absolut fern auch das Kantische Ethos mit seiner Fundierung auf unbedingte sittliche Autonomie dem katholischen steht: den »guten Werken« des Katholizismus ist die Behandlung der Willenstaten bei Kant formal verwandt. Wie jene einfach ein gewisses Quantum von Verdienst darstellen und auch beliebig aufhäufbar sind, weil sie als rein objektive Tatsächlichkeiten, gleichgültig gegen ihren organischen Bezug auf das Gesamtleben des Vollbringers, angesehen werden – so hat auch bei Kant die einzelne Tat die gleitenden Übergänge abgestreift, durch die sie, ein bloßer Pulsschlag eben dieses Gesamtlebens, ihm verbunden ist; konsequenterweise ist ihm der Wert einer menschlichen Existenz gleich den summierten Werten ihrer einzelnen, je zu einer moralischen Einheit begrifflich abgeschlossnen Willenstaten. Freilich hat der Katholizismus die Objektivierung, Vereinzelung und Lösung der Tat vom Subjekt so weit getrieben, daß ihr Verdienst auch auf einen andern als ihren Täter übertragen werden kann. Dies allerdings ist für Kant durch die Ausschließlichkeit des subjektiven Gesinnungswertes unmöglich, allein der so im und vom Subjekte erzeugte Wert wird doch nun wieder objektiviert, so daß innerhalb des einzelnen Subjekts die Taten rein additive Größen sind. Immerhin bricht bei Kant gelegentlich das Gefühl dafür durch, daß dies Mechanische, Antivitale, den Lebenswert aus isolierten Stücken Zusammensetzende, doch irgendwie unserer sittlichen Tatsächlichkeit nicht entspräche. Er spricht öfter von dem Wert, den gerade der Fortschritt im Sittlichen hätte, die Entwicklung, die uns in stetigem Bemühen von dem unvollkommenen zu dem immer vollkommeneren, wenn auch freilich nie ganz idealen Verhalten führe. Allein dies ist bei ihm eine Inkonsequenz. Beruht aller sittliche Wert auf der Pflichtgesinnung, von der die einzelne Tat getragen ist, so kann nicht noch einmal ein besondrer Wert darin liegen, daß dieses Moment in der jeweils späteren Tat der früheren gegenüber gestiegen ist. Für diesen in der Relation der Wertquanten gelegenen Wert hat die nach dem kategorischen Imperativ vollzogene ethische Schätzung keinen Platz. Und sollte man selbst den Entwicklungswert, in dem bloßen Aufsteigen der ethischen Quanten als solchem beruhend, in die Theorie einordnen können, so geht doch aus seiner ganzen Behandlung hervor, daß Kant ihn nicht als ein organisch kontinuierliches Wachstum des Ich ansieht, dessen Lebensprozeß jenseits seiner einzelnen Tatphänomene liegt; sondern auch so, daß eben diese letzteren sich in eine Reihe ordnen, in der jedes Glied zwischen einem tieferen und einem höheren steht. Auch hier, wo das mechanistische Prinzip seiner Grenze ganz nahe ist, wird diese dennoch nicht überschritten. Damit ist dem kategorischen Imperativ noch nicht einmal vorgeworfen, daß er das qualitativ Individuelle, das die Normierung durch »allgemeine Gesetze« überhaupt ablehnende Ethos vernachlässigte. Nur um die Form dieser sittlichen Rechtsprechung handelt es sich, die die »Handlung« aus dem Lebenskontinuum herauslöst und deren ganze sittliche Bedeutung zwischen ihre scharf abtrennenden Grenzen verlegt, als wäre sie ein freischwebendes, für sich allein definierbares Gebilde. Damit wird einerseits, wie gesagt, das isolierende Verfahren der mechanistischen Naturwissenschaft, andrerseits das des gerichtlichen Rechtes wiederholt. Denn auch dieses unterstellt seinen allgemeinen Gesetzen das einzelne Interesse oder die einzelne Tat des Subjektes, aber nicht die Gesamtheit seiner Existenz, in deren Wirklichkeit jenes Einzelne, rechtlich zu Beurteilende, nicht als ein »Abschnitt«, sondern als ein objektiv gar nicht genau abzugrenzender Teil einer stetigen Entwicklung enthalten ist. Ob aber gerade der Ethik dies Singularisieren der Willenshandlungen, nebst seinem Korrelat, der abstrakten Allgemeinheit des Gesetzes, angemessen ist, möchte ich nicht ohne weiteres bejahen. Vielleicht sollte sie das freilich viel Schwerere und ganz neue Kategorien, jenseits aller Analogien aus dem Mechanismus und dem Recht, Erfordernde versuchen: an dem Sollen, das als ideales dem Leben gegenübersteht, dennoch jene Kontinuität des Lebens selbst aufzuweisen, die den Teil aus dem Ganzen, statt das Ganze aus den Teilen herleiten läßt. Dann wäre der ethische Wert einer Existenz nicht mehr aus den einzelnen Handlungen und deren jeweiliger Relation zu einem »Gesetz« zusammenzusetzen, sondern wohnte jenen einzelnen ein, wie der – irgendwie einheitliche – Gesamtlebensprozeß eines Organismus jedem seiner Augenblicke.

Wenn wir diese Frage der begrifflichen Form des Ethischen etwas mehr nach dessen Inhaltlichkeit hinwenden, so treffen wir auf einen Punkt, an dem die Unzulänglichkeit des kategorischen Imperativs an das vielleicht tiefste Problem des modernen Lebens rührt. Gerade dadurch, daß er, wie ich zeigte, der Individualität der Lagen ein weiteres Bestimmungsrecht gewährt, als alle weniger formalen Moralprinzipien; gerade dadurch, daß er das allgemeine Gesetz über der einzelnen Handlung unendlich biegsam und variabel gemacht hat – gerade dadurch zeigt sein schließliches Versagen, daß vielleicht in der Problemstellung ein Fehler steckt, daß das Individuum die sittliche Legitimation seiner Handlungsweise gar nicht immer in einem allgemeinen Gesetz suchen kann. Das Gesetz freilich können wir nicht entbehren, d. h. wir bedürfen jener Festigkeit, Objektivität, inneren Begründung unsres Tuns, die wir als seine Gesetzlichkeit aussprechen und die Kant so tief empfunden hat, als er die Sittlichkeit als eine Bestimmung bezeichnete, die dem Willen von innen her, als eine Funktionsform und nicht erst von seinen Zielen kommt. Die Abbiegung, die ihn in das Unzulängliche führte, ist nur die Interpretation dieses Gesetzes als eines unter allen Umständen allgemeinen, eine Interpretation, zu der ihn die erwähnte Analogie mit andren Gesetzesbegriffen verleitete. Aber zu meinen, daß überhaupt jeder Lebensinhalt zu begrifflicher Allgemeinheit erhoben werden könnte, zu übersehen, daß das eigentliche Wesen unzähliger Impulse und inneren Situationen an ihren individuellen Charakter gebunden ist, daß es auch logisch unvollziehbar ist, ihre personale Wichtigkeit und Färbung zu einem allgemeinen Begriff zu erweitern – das ist eine naive Überhebung des Intellektualismus. Mir aber scheint, das moderne Leben strebe nach dem, was man das individuelle Gesetz nennen muß. Das heißt, die innere und äußere Gestaltung des Daseins verlangt nicht nur die Kantische Freiheit der Motivierung, den rücksichtslosen Gehorsam gegen das eigene Gewissen, sondern sie wird auch gleichgültig dagegen, ob das von dieser Freiheit getragene Handeln durch eine Gleichheit mit andren, durch eine Allgemeinheit seines Geltens legitimiert wird. Kants großartiger Versuch, das für alle gültige Gesetz als den Inhalt der persönlichen Freiheit zu erweisen, ruht im letzten Grunde auf einem ungeprüften Dogma, hervorgegangen aus dem sozialen Optimismus des 18. Jahrhunderts und dem eigentümlichen Individualismus, den es ausgebildet hat und dessen Herrschaft innerhalb des ganzen Kantischen Denkens am Schluß dieser Vorlesungen hervortreten wird. Darüber hinaus drängten schon gewisse Strömungen des 19. Jahrhunderts darauf, die Werte der Persönlichkeit nicht mehr in einem Allgemeinen, das für alle gleichmäßig gelte, sondern in schlechthin individuellen Gestaltungen sich ausformen zu lassen. Aber auf jene Qualität des Willens, die ihn allem Zuchtlosen, Subjektiven, innerlich Zufälligen unbedingt entgegensetzt, wird damit nicht im geringsten verzichtet. Die ganze Gehaltenheit, die Würde, die Notwendigkeit, alles also, was wir mit dem Wertbegriff des Gesetzes bezeichnen, muß auch dieser individuellen Lebensform erhalten bleiben. Was Kant aber für logisch notwendig hielt: daß das Gesetz, in dem gleichsam jener wertvolle Aggregatzustand unsrer Seele kristallisiert, ein allgemeines sei – das erscheint uns heute nur als historisch notwendig. Der Begriff eines Gesetzes, das seinem Wesen nach für das Individuum als solches gilt – für Kant eine contradictio in adiecto –, ist zum mindesten der Ausdruck für einen der Werte, die das 19. Jahrhundert neben die des 18. gesetzt hat, und über dem, vom Standpunkt der Gesellschaft aus, ein andres letztes Ziel erscheint: die gegenseitige Ergänzung der individuellen Wesenheiten, an Stelle der Gleichheit, die, wenn nicht die Folge, so doch, wie wir noch sehen werden, die Voraussetzung für die Forderung der allgemeinen Gesetzlichkeit ist.

Jenseits dieser Formulierung des Sittlichkeitsbegriffes aber offenbart sich in den Fundamenten der Kantischen Ethik eine geistesgeschichtliche Synthese, die den Ausgangspunkt dieser Darstellung nun auf höherer Stufe wieder aufnimmt. Indem hier zum ersten Male in der Geschichte der Ethik das Sittliche ganz auf sich allein gestellt ist und nicht nur alles im weiteren Sinne Äußerliche, sondern auch die Außenwerke der Persönlichkeit selbst, alles, worin sie irgendwie abhängig ist, aus der Motivierung des Willens vertreibt – vereinigt sich die unnachsichtigste Strenge des sittlichen Anspruchs mit einem, wie es scheint, glücklich unbefangenen Optimismus; in dem Glauben nämlich, daß nur die eigentliche, tiefste Persönlichkeit in uns, in ihrer ganz unbeeinflußten Freiheit zum Durchbruch zu kommen brauchte, um der Moralforderung zu genügen. Hier gewinnt die Denkrichtung des ganzen 18. Jahrhunderts in Kant eine eigentümliche Form. Denn daß die Persönlichkeit nur auf sich allein zu hören braucht, um den sittlichen Wert zu erzeugen, ist doch nur die philosophische Sublimierung des Freiheitsenthusiasmus, den Rousseau und die Physiokraten genährt hatten: der Mensch braucht nur frei zu sein, um gut zu sein, alle Widersprüche gegen die gesellschaftlichen und individuellen Ideale entsprängen nur den Verkümmerungen, die die Güte der menschlichen Natur durch den Zwang von Staat und Kirche, von sozialen oder dogmatischen Einengungen erlitten habe. Der Glaube an diese ursprüngliche Güte, der in den politischen und wirtschaftlichen Tendenzen des 18. Jahrhunderts seine sozialgeschichtliche Form zeigte, ist mit Kants Lehre von dem Zusammenfallen von Freiheit und Sittlichkeit in die zeitlose Innerlichkeit des Menschen hinabgestiegen.

Aber die ganze empfundene Wirklichkeit der sittlichen Werte ist damit nicht ausgeschöpft. Die ganze Voraussetzung ist, daß das »eigentliche« Ich das sittliche, wie Kant sagt: das vernünftige, ist – wobei diese Vernunft ihren Charakter im Gegensatz gegen die »Sinnlichkeit« besitzt, gegen dies Peripherische oder Vergewaltigende, das den Menschen in seinem definitiven und freien Ich nicht berührt: diese Reduktion des Ich auf das vernünftige, diese Ausbürgerung des Sinnlichen aus dem Freiheitsbezirk, ist für den ganzen Kantischen Moralismus schlechthin fundamental. Allein ich glaube, daß der Mensch des klarsten sittlichen Bewußtseins es entschieden ablehnen muß, sein Böses und Niedriges in einer weniger tief personalen, weniger letztentscheidenden Schicht entspringen zu lassen, als sein Gutes und Vollkommenes, denn er will für jenes genau die gleiche Verantwortung tragen, wie für dieses. Außerdem aber scheint mir bei dieser Lokalisierung des Sittlich-Negativen in der »Sinnlichkeit« ganz übersehen, daß gewisse Sünden selbst der radikalste Dualist nicht als sinnlich veranlaßt, sondern ausschließlich in dem innersten geschlossenen Bezirk der Seele geschehend denken kann. So wirft mancher religiös Gläubige sich einen Zweifel an den Heilstatsachen, der gerade aus seiner Ratio aufsteigt, als einen ungeheuren Frevel vor, so empfinden zarte Seelen das Ermatten und Verblühen eines Liebesgefühles als eine tiefe Schuld, auch wenn es von keinerlei anderer Neigung, sondern von einem rein inneren Entwicklungsschicksal veranlaßt ist, so nagen unerfüllte Verpflichtungen an unserem Gewissen, auch wenn wir sie um unserer höchsten geistigen, absolut nicht eudämonistischen – Interessen willen unerfüllt ließen. Nur indem das ethische Denken Kants, in seiner eigentümlichen Primitivität, all solche Fälle vernachlässigt, kann er zwischen dem eigentlichen Ich, dem Sitz des Sollens und zugleich des Gehorsams gegen das Sollen, und der Sinnlichkeit, als dem Gebiet der Sünde, radikal scheiden. Tatsächlich aber kann er nur auf Grund dieser Scheidung sein Sittengesetz als ein solches, das »wir uns selbst geben«, verkünden. Denn dies wäre von ihm als einem völlig und nur rationalen nicht aussagbar, wenn das »Selbst« noch etwas anderes als die von aller Sinnlichkeit geschiedene Vernunft bedeutete, wenn es wirklich den ganzen Menschen, also auch seine sämtlichen andern Seelenenergien, umschlösse.

Hiervon aber auch abgesehen, ist jene Vertiefung der zeitgeschichtlichen Tendenz in das Metaphysisch-Ethische zugleich eine Einschränkung. Wenn es bei Rousseau heißt: »die Menschen sind böse, aber der Mensch ist von Natur gut«, und bei Kant: »der Mensch ist unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein«, – so birgt die scheinbare Identität den bedeutsamsten Gegensatz. Bei Rousseau ist, was Kant die Menschheit im Menschen nennt, ein Wesensbestandteil, der in jedem, wie versteckt und entstellt auch immer, eine Realität ist; bei Kant aber ist »die Menschheit« ein Ideal und Sollen eines jeden: der Mensch ist heilig, insofern er die Anlage zur Menschheit hat. Darum halten sich jene revolutionären Bewegungen an das Niederreißen von Schranken und Hinderungen, während Kant sogleich auf den unendlichen Weg positiver Arbeit hinweist. Kant ist durchaus kein Optimist in bezug auf die wirkliche Beschaffenheit der Menschen, eine wahre Verzweiflung über die allseitige Unzulänglichkeit der Menschheit bricht immer wieder bei ihm durch. Aber in diesem unendlich unvollkommnen Dasein wohnt ein unendlich erhabner, strahlender Wert – nicht als eine verkümmerte Wirklichkeit, nicht als ein, wenn auch steriler und entstellter, Besitz, sondern als Forderung, als Anspruch, den der Mensch an sich selbst stellt und der in dieser, mit der historischen Realität sich überhaupt nicht berührenden Form auch dann lebt, wenn kein Minimum seiner erfüllt wird. Aber eben deshalb, weil der Mensch die Güter der Sittlichkeit und der Freiheit nicht in der Form des Habens hat – wenigstens ist es völlig zufällig, ob er sie etwa auch noch in dieser besitzt –, so können sie in der ihnen wesentlichen, in der des Sollens, ihm auch nicht entrissen werden; sie sind das, wozu er berufen ist, was von ihm unter allen Umständen verlangt werden kann, und so seine ewige Mitgift, auf die er in jedem Augenblick zurückgreifen kann, wenn er es nur will, weil sie nichts andres sind, als er selbst in der Form des sittlichen Imperativs, der alle Unzulänglichkeit seiner Realisierung überlebt. Und nun verstehen wir noch tiefer, warum in ihm Freiheit und Sittlichkeit zusammenfallen: die Freiheit ist nichts als das Sich-Selbst-Gehören, die Verwirklichung des Menschen, der sein soll, in eben demselben, insoweit er ist; der Mensch ist frei, wenn er sittlich ist, weil er im Gehorsam gegen das Sollen sich selbst findet, die eine Form seines Wesens zur Einheit mit der andren bringt. Dies ist die völlig neue und vertiefte Gestalt, die die Gutgläubigkeit des 18. Jahrhunderts: der Mensch braucht nur frei zu sein, nur sich selbst zu gehören, um alle Werte in sich und um sich zu besitzen – in Kant angenommen hat und in der sie gegen alle Widersprüche der geschichtlichen Wirklichkeit gewappnet ist, denen solcher Glaube in seinen andren Formen erlegen ist. –

Daß er das innerste Selbst, das in diesem Sinne der Ort des Sollens ist, nicht als individuelles, d. h. von Person zu Person qualitativ unterschiedenes zugibt, liegt daran, daß ihm die Individualität etwas Gegebenes ist. Die Besonderheit unsrer Existenz ist eine Realität, die wir vorfinden und deren eventuelle Modifikationen jedenfalls durch und als Gegebenes bestimmt sind. Es war zweifellos Kants Meinung – obgleich er sie nicht unmittelbar so ausspricht –, daß die Bindung des Sollens an derartig Gegebenes die Freiheit aufhöbe. Der Ausgangspunkt für das sittlich freie Handeln kann nur etwas sozusagen Indifferentes sein, wir dürfen in ihm nicht durch irgendein Gegebnes präjudiziert sein, schon deshalb nicht, weil damit auch das sittliche Ziel unvermeidlich irgendwie festgelegt und der Freiheit entzogen wäre. Anders ausgedrückt: Kant hat, wie ich glaube, in der Individualität den bloßen Wirklichkeitscharakter gesehen und sie schon darum in den Idealcharakter des Sittlichen nicht aufgenommen. Ohne nähere Diskussion sei darüber nur bemerkt, daß die Behauptung, unsre Individualität sei »uns gegeben«, das unbefangen voraussetzt, was der tiefere Individualismus gerade bestreitet: daß die Basis unsrer Existenz ein noch nicht differenziertes »wir« sei, dem die Individualität gegeben ist – denn das Gegebne muß doch jemandem gegeben sein –, wie uns eine Erbschaft oder ein Schicksal »gegeben« ist. Besteht aber die Individualität in unserm letzten Daseinsgrunde oder als dieser, sind wir die Individualität, statt sie zu haben, so kann eine genau so weite Willensfreiheit an sie ansetzen, wie an den undifferenzierten Wesensgrund, den Kant annimmt. Und ferner ist ihr Wirklichkeitscharakter so wenig ein Hemmnis für eine Idealbildung, daß sie, selbst als Wirklichkeit und so gut wie jede andre, noch immer ein Ideal ihrer selbst über sich haben kann; auch die Individualität, die Unvergleichlichkeit und Unersetzlichkeit unsrer Existenz, ist nicht nur gegeben, sondern aufgegeben, sie ist so wenig fertig, wie überhaupt unsre Werte, und vielleicht ist gerade in ihr ein Sein und ein Sollen am widerspruchslosesten vereinigt. –

Wenn Kant jenen bald kraftvollen, bald nur liebenswürdigen Optimismus seiner Zeit schließlich doch in seiner eignen Richtung vertieft, indem er das Mißverständnis aufhebt, das aus der Verlegung der Freiheit, der Persönlichkeit, der Werte in die Kategorie einer irgendwie unvollständigen Wirklichkeit entsprang –, so überschreitet er ihn weiterhin nach einer ihm ganz entgegengesetzten Richtung. Nicht nur sittlich und sozial vollkommen sollte der freie Mensch sein, sondern auch glücklich; der subjektive Reflex des Daseins in seinem Gefühl sollte durch die Freiheit dieselbe Vollendung erhalten wie seine objektive Beschaffenheit. Kant aber stellt den auf Glück gerichteten Willen in einen Gegensatz gegen die Freiheit sowohl wie gegen die Sittlichkeit – in einen Gegensatz, der diesen beiden Werten erst ihre Stellung bestimmt und die Gleichheit ihres inneren Sinnes begründet. Die Opposition gegen die Kantische Ethik hat von jeher gerade hieran den Vorwurf des Rigorismus, richtiger wohl: der Askese geknüpft. Die Zurückweisung des Glücks aus jeder Willensmotivierung, die sittlichen Wert beanspruchen will, scheint das Leben vor die unbarmherzige Alternative: entweder glücklich oder sittlich zu sein, zu stellen und die Entscheidung für das letztere mit ununterbrochenen Leidgefühlen zu bestrafen; wogegen Schiller sein bekanntes Epigramm gerichtet hat. Aber diese fast allgemein vertretene Meinung veräußerlicht die Absicht Kants vollkommen und schiebt ihm die Torheit unter, daß niemals eine und dieselbe Handlung zugleich sittlich sein und unsrem Glücke dienen könnte. Umgekehrt vielmehr: gerade diese Situation stellt ihm sein eigentliches Problem. Wo sie nämlich vorliegt, können wir niemals mit Sicherheit wissen, welcher von beiden Erfolgen unsren Willen bestimmt: wir haben keine so unzweideutige Erkenntnis unser selbst oder gar andrer, sind niemals vor der Selbsttäuschung über unsre eigentlichen Motive völlig geschützt, insbesondere wo die Harmonie von Glück und Pflicht die sittlich ganz irrelevante Motiviertheit durch das erstere gar zu leicht mit dem schmeichlerischen Scheine, nur der letzteren zu folgen, umkleidet. So wenig also geleugnet werden kann, daß auch in solchem Falle das sittliche Motiv möglicherweise das allein entscheidende ist, so ist dies doch nie mit voller Gewißheit erkennbar. Darum haben wir von dem Motiv, das uns bestimmte – also von der sittlichen Qualität der Handlung –, allerdings nur in einem Falle eine vor Irrtum geschützte Erkenntnis: nämlich wenn das sittliche und das Glücksmotiv über sie entgegengesetzt entscheiden wollen; daß das erstere uns bestimmt hat, wissen wir nur dann, wenn alle andren Triebfedern mit Sicherheit ausgeschlossen sind, d. h. wenn die Handlung gegen das Glücksinteresse lief. Keineswegs aber ist dies die innere Bedingung der Sittlichkeit; keineswegs ist das Glück die sachliche Gegnerin der Moral, wie Schiller es der Theorie imputiert; der Konflikt zwischen beiden ist nur die Situation, in der die Herrschaft der sittlichen Pflicht in uns für die Erkenntnis allein unzweideutig hervortritt. Sachlich berühren sich beide Motive so wenig, gehören so sehr zwei verschiedenen Welten an, daß jeder absolute Ausschluß: wo das eine Platz fände, könne das andere überhaupt nicht bestehen – schon ein viel zu enges, prinzipielles Verhältnis, wenn auch nur im negativen Sinne, zwischen ihnen bedeuten würde. Obgleich Kant zugibt, daß, wie die Menschen nun einmal sind, die radikale Gleichgültigkeit gegen das Glücksmotiv dem moralischen Handeln einen Zug schmerzlicher Resignation nicht erspare, so ist dies doch ein bloßes Nebenprodukt der Sittlichkeit. Die Entgegensetzung beider Motive, die er tatsächlich lehrt, ist nur die logische Ausgestaltung jener Grundüberzeugung, daß das Sittengesetz nur da erfüllt ist, wo es selbst und allein das letzte Motiv seiner Erfüllung bildet. Das überall durchbrechende intellektualistische Interesse läßt ihn so stark – bis zur Erregung jenes Mißverständnisses stark – den Fall betonen, in dem allein die Herrschaft dieses Motivs für das Erkennen unzweideutig ist.

Die asketische Moral, die in dem Erdulden des Leidens einen Charakterzug der Moral, ja an sich einen sittlichen Wert sieht, liegt schon wegen ihres passivistischen Wesens Kant ganz fern. Er ist keineswegs ein asketischer Düsterling; wohl aber ist er Moralist, d. h. die Sittlichkeit erscheint ihm als der eigentlich einzige Wert, den der Mensch besitzen kann, neben dem alle andren, Glück, Schönheit, Intellekt, nicht nur sekundär sind, sondern auch erst in der Legitimierung durch ihn, ja in der Reduktion auf ihn wirklich als Lebenswerte anzuerkennen sind. Die ethische Übertreibung Kants liegt nicht, wie seine Kritiker durchgehends behaupten, in einem zu engen Moralbegriff, sondern in einer zu weiten Erstreckung des Moralbegriffs über das Gebiet der Werte. Daß er das sittliche Ideal in dem ganz kompromißlosen, auf sich allein ruhenden, mit keinen andren Interessen vermengten Sinne faßt, ist nur konsequent und vergewaltigt von sich aus das Leben noch durchaus nicht. Er bedarf auch, aus den letzten Grundlagen seiner Weltanschauung heraus, dieser inneren Absolutheit des Sittlichen. Er hat den Rationalismus entthront, der mit der unbedingten Notwendigkeit der Logik uns des Daseins und seiner Bestimmungen sicher machen wollte, er hat erwiesen, daß wir von keiner Existenz anders als durch fortwährend korrigierbare, in ihrer Sicherheit nur graduelle Erfahrung wissen können. Damit hat das Dasein jene überrelative Festigkeit verloren, auf die vielleicht nicht das wissenschaftliche, aber das metaphysische Bedürfnis geht, die Sehnsucht, die durch jenen Rationalismus freilich nicht gestillt werden konnte, weil sie selbst ein Irrationales ist. So mußte denn diese Sicherheit außerhalb des Seins gesucht werden: in der Forderung an das Sein, in dem, was nach Abzug der Wirklichkeit noch übrig bleibt: dem Wert, der Aufgabe, der Freiheit. Nicht hierdurch geschieht die Vergewaltigung des Lebens, sondern erst durch jenen absolutistischen Moralismus – wie er mit der inneren Strenge des Moralbegriffs keineswegs verbunden zu sein brauchte –, der Kant sagen läßt, es sei innerhalb der Welt, ja auch außerhalb derselben nichts schlechthin Gutes zu finden als allein ein guter – sittlicher – Wille. Die Großartigkeit dieses Radikalismus wird niemand verkennen. Das »gefährliche Leben«, das den modernen Menschen so unwiderstehlich anzieht, ist schon hier zu völliger Reife und Reinheit entwickelt. Der ganze Umfang der Lebenswerte ist hier auf den Punkt gesammelt, der keine Aufgabe und keine Schuld mehr auf ein Außer-Sich abschieben kann; die Verantwortung des Menschen ist mit der Alleingültigkeit der moralischen Werte auf das höchste gesteigert, denn den Punkt in ihm, auf den sie sich richtet, darf er nicht von sich ablehnen, ohne sich selbst aufzugeben. Indem alle Werte mit der Sittlichkeit zusammenfallen, alle Sittlichkeit mit der Freiheit, alle Freiheit mit dem Gehorsam des Menschen gegen sein persönlichstes und wahrstes Ich – wird dieser allein übrig gelassene Wertpunkt die eine Karte, auf die alles gesetzt wird; das Dasein, auf diesen einzigen Wert des Sittlichen angewiesen, steht in jedem Augenblick vor der Entscheidung: alles oder nichts. Es wird für alle Zeiten merkwürdig bleiben, daß ein eigentlich philiströses Lebensgefühl, wie es sich in der moralistischen Verengerung der ganzen idealen Sphäre ausspricht – durch den Mut konsequenter Vertiefung zu dem Gegenteil alles Philistertums geworden ist: zu der Preisgabe aller Reserven und der freiwilligen Gefahr der absoluten Selbstverantwortlichkeit. Unleugbar aber bekommt das Leben als ganzes durch diese Konzentrierung aller seiner Bedeutsamkeiten auf den äußersten Freiheitspunkt der Willensgesinnung etwas Formloses, es fehlt ihm der Reichtum differenzierter Entfaltung, zu der es eines Eigenwertes und -rechtes aller seiner Inhalte bedarf.

So scheint schon alle höchste geistige Produktivität den Moralismus zu widerlegen. Sie geschieht nie aus Pflicht oder aus Menschenliebe, sondern einerseits aus der naturhaften Schaffensnotwendigkeit des Subjekts, andrerseits aus dem rein objektiven Interesse heraus – Motivierungen, die mit der »Achtung vor dem moralischen Gesetz« als »Triebfeder« genau so wenig zu tun haben, wie sie in das eudämonistische Interesse hineinzuschieben sind. Soll darum der Wert des Schöpfertums – und zwar als solchen, keineswegs nur als einer Rückstrahlung von seinen Ergebnissen – geleugnet werden? Dies Beispiel soll nur darauf hindeuten, daß der Moralismus zwar das Leben, soweit es auf die ethische Ebene projizierbar ist, zu einem Maximum von Vertiefung und Größe bringt, daß aber Wertgebiete neben ihm und in ihn nicht einbeziehbar bestehen, die er schlechthin verkümmern läßt.



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