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Sechste Vorlesung.

Das zuletzt erörterte Prinzip beansprucht, die Gesamtheit der Vorstellungswelt zu vereinheitlichen. Es bedarf mindestens eines Beispiels, wie sich unter seiner Herrschaft die wesentlichen Einzelheiten des Weltbildes gestalten – vor allem das Problem des Raumes. Was bedeutet dieses unendliche Gefäß um uns herum, in dem wir als verlorne Pünktchen schwimmen und das wir doch samt seinem Inhalt vorstellen, das also ebenso in uns ist, wie wir in ihm sind? Und wenn die Qualitäten der Dinge, ihre Farben und ihre Härte, ihr Geschmack und ihre Temperatur ausschließlich in unsrer Seele zustande kommen und so die Bilder der Objekte erzeugen, – wie kommt es, daß wir sie dennoch nicht in uns, sondern außer uns zu empfinden meinen, daß wir sie aus unsrer Seele heraus und in den Raum jenseits unser versetzen? Die Kantische Lösung dieses Problems ist bekanntlich das populärste Kapitel seiner Erkenntnistheorie geworden, – wie mir scheint, aus keinem andren Grunde, als weil sie das erste Kapitel seines Hauptwerkes bildet und eine leicht nachsprechbare Formulierung gestattet. Daß der Raum nur eine Vorstellung ist und außerhalb der vorstellenden Wesen nicht existiert, ist eine These, die entweder auf die Selbstverständlichkeit zurückgeht, daß meine Vorstellungen eben meine Vorstellungen sind und als solche nichts weiter, – oder sie bedarf einer in alle Tiefen des Kantischen Systems hinabreichenden Interpretation.

Ich gehe von dem Kantischen Zentralgedanken aus: Sinnesempfindung ist noch nicht Erkenntnis. Vielmehr: die Empfindungselemente werden zu Anschauungen, indem sie innerhalb des Bewußtseins in diejenige Form sich ordnen, die wir ihre Räumlichkeit nennen. Im Gebiete der Sicht- und Tastbarkeit ist Anschauen und Räumlich-Anschauen eines und dasselbe. Die Räumlichkeit der Dinge ist für Kant ein formales Verhältnis der Empfindungen – die den qualitativen Inhalt der Dinge ausmachen – zueinander; diese Verräumlichung nennen wir, als Handlung des Subjekts, Anschauen. Was freilich der Grund sei, weshalb unsre Empfindungen sich gerade in Raumform ordnen, lehnt Kant ab zu untersuchen: dies müsse man als eine letzte Tatsache hinnehmen, die keiner Herleitung aus noch primäreren fähig sei. Der Ausdruck Raumanschauung, so brauchbar er innerhalb des Empirischen ist, bedeutet hier, wo es sich um die Grundlegung der Empirie überhaupt handelt, eine Tautologie. Wir schauen nicht den Raum der Dinge als ein Objekt an, sondern das eben heißt Anschauen, daß wir Empfindungen in die eigentümliche nicht zu beschreibende, nur zu erlebende Ordnung bringen, die wir Räumlichkeit nennen. Von dieser Auffassung her erst ist der dunkle Satz zu verstehen: die bloße Anschauung an den Dingen sei der Raum; er ist eben nichts als die mit einem besondren und gleichsam substanziellen Begriff bezeichnete Funktion, die, an Empfindungen ausgeübt, Anschauen heißt. Wenn Kant den Raum immer als »reine Anschauung« bezeichnet, – so ist das in dem Sinne zu nehmen, in dem wir etwas einen reinen Vorwand, eine reine Redensart nennen, d. h. nichts als ein Vorwand, eine bloße Redensart; er ist der bloße Prozeß des Anschauens. Und daß er eine überempirische Anschauung sein soll, will nur sagen, daß dieser Prozeß als solcher keine Empfindung enthält, da diese ja erst das Material ist, an dem er vorgenommen wird. Darum spricht Kant direkt aus: die empirischen Erscheinungen enthielten » über die Anschauung noch – das Reale der Empfindung«. An einer andren Stelle bezeichnet er den Raum als ein »Verhältnis«, das die Sinnesempfindungen zueinander hätten. Dieses Verhältnis muß aber ersichtlich, nach dem früher Ausgemachten, erst gestiftet werden, da jede Empfindung für sich ein gleichsam punktueller Zustand ist. Damit ist schon gegeben, daß Empfindung nicht in ihrem psychologischen Sinne, sondern als zeitloses Erkenntniselement gemeint ist, als Inhalt, nicht als Prozeß. Denn als seelischer Vorgang ist sie nicht punktuell, sondern zeitlich distrahiert. Das Stiften dieser Verbindung ist die Aktivität des Subjekts, die Handlung seines Anschauens, die nicht eigentlich den Raum erzeugt, sondern der Raum ist, – während andrerseits freilich ein »Verhältnis« nicht bestehen kann ohne Elemente, die sich verhalten, also der Raum nur an Sinnesobjekten wirklich sein kann.

Was diese Lehre so sehr verdunkelt und ihr richtiges Verständnis hintanhält, ist die Doppeldeutigkeit des Wortes Raum bei Kant. Er bezeichnet damit einmal das bisher hier gemeinte: die Räumlichkeit der Dinge, die Form konkreter Empfindungen, die sie zu Gegenständen der Erfahrung macht. Andrerseits aber auch, dem Sprachgebrauch folgend, jenes ungeheure leere Gefäß, das unabhängig von allen einzelnen Dingen zu existieren und in dem diese zu stehen scheinen. Allein dieser unendliche leere Raum ist eine bloße Abstraktion! Nicht er kann angeschaut werden, sondern nur einzelne, endliche Dinge, weil der Prozeß der Anschauung immer nur an einem Empfindungsmaterial, also an Endlichem, vorgenommen werden kann. Ein leerer Raum, d. h. ein Raum, der nur Raum wäre, ohne ein Sinnesmaterial zu enthalten, ist für Kant konsequenterweise ein bloßes Gedankending. Wenn die Figuren der Geometrie bloße räumliche Anschauungen ohne irgendeinen Empfindungsinhalt sind, so besagt dies für Kant: die einzelne Figur, an der ein geometrischer Satz bewiesen wird, ist ein sinnlich empfindbares Einzelding; allein bei der geometrischen Aussage über sie achtet man nicht auf das Sinnlich-Materielle daran, sondern nur auf die Handlung der Konstruktion, die aber ohne jenes nicht stattfinden kann; hier wird indes von ihm abstrahiert, die Aussage gilt nur dem konstruktiven Prozesse, durch den aus Empfindungen Raumgestalten werden. Gibt es also für Kant nur Raumgestalten an Dingen, so ist es demnach ein völliges Mißverständnis, den Kantischen Raum als ein von den empirischen Dingen prinzipiell unabhängiges Sein anzusehen, als ein unendliches Gefäß, in das die Dinge hineingestellt würden, wie Möbel in ein Zimmer. Seine Unendlichkeit bedeutet vielmehr nichts als »die Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung«, d. h. die ganz unbegrenzte Möglichkeit, den Prozeß der raumbildenden Anschauung weiter und weiter fortzusetzen. Gewiß gibt es für unsere Anschauung keine Grenze des Raumes, weil wir überall, wo wir hinschauen, den Raum hin-schauen, d. h. weil das, was wir Anschauen nennen, nichts andres ist, als die Verräumlichung von Empfindungen.

Und nun löst sich das vorhin berührte Problem: wieso wir die Dinge, die doch nur in unsrem Kopf bestehen, aus demselben hinaus in den Raum versetzen, wieso sie nach außen kommen, da sie doch nur in unsrem Bewußtsein existieren? Sie bleiben darin; denn das »Außer-Uns« ist eine Form des Bewußtseins selbst, die nicht aus ihm heraustritt – in psychologischer Wendung: einer der Lebensprozesse der Seele, die eben nur in ihr stattfinden können. Die Räumlichkeit der Dinge ist eben nichts als das Außereinander von Sinnes Vorstellungen, denn dies ist die Art, auf die solche uns zum Bewußtsein kommen. Der Gegenstand wird nicht in unsrem Bewußtsein fertig und dann in den Raum hinausverlegt, sondern als Vorstellung hat der Gegenstand die Form der Räumlichkeit, dadurch ist er Gegenstand, seine Verräumlichung, seine Extensität ist selbst ein rein intensives Geschehen, eine Funktion der Seele, die, zwischen ihren Sinnesempfindungen gleichsam hin- und hergehend, sie in dieser Form empfindet. Deshalb ist der Raum so wenig etwas Reales außerhalb unsrer Empfindungen, wie etwa die Form, durch die Holz zu einem Schrank wird, außerhalb dieses Materials eine Sonderexistenz führt. Wenn unsre Empfindungen Zustände der Seele sind, so kann ihre Form nicht jenseits dieser letzteren und ihrer Inhalte subsistieren.

Ich halte diese Raumtheorie, trotz ihrer Popularität, für den schwierigsten Teil der Kantischen Lehre und ihr wirkliches Verständnis für eine der größten Aufgaben, die die Geschichte der Philosophie stellt. Wir sind so gewöhnt, den Prozeß der Raumanschauung, den die reale Erfahrung enthält, zu dem starren Raumgebilde zu substanzialisieren und dies noch durch die Abstraktion von allen Inhalten, die eine leere Unendlichkeit übrig zu lassen scheint, zu unterstützen, daß wir unsrem Ich ganz unvermeidlich eine Rolle in diesem Raum anweisen, – eine Vorstellung, die für die Verhältnisse innerhalb der zustande gekommenen Erfahrung auch durchaus legitim ist, aber hier, wo es sich erst um die Voraussetzungen ihres Zustandekommens handelt, überwunden werden muß. Angesichts jener Gewöhnung, uns und die Dinge innerhalb eines vor allem Einzelnen bestehenden Raumes vorzustellen, ist es ein schwieriger Gedanke, daß – mit etwas paradoxer Kürze ausgedrückt – der Raum selbst nichts Räumliches ist: gerade so wenig wie die Vorstellung des Roten selbst etwas Rotes ist. Erst wenn man begriffen hat, daß der vorstellende Prozeß selbst nicht in die Formen und Inhalte hineingehört, die er enthält, daß das vorgestellte Objekt nicht, über sich zurückgreifend, das Vorstellen selbst in sich einbeziehen kann, – erst dann kann man mit der so natürlichen Vorstellung brechen: daß das vorstellende Ich im Raume neben den anderen Dingen existiert, erst dann verschwindet das Widersinnige, daß die ganze Ausdehnung des Raumes in ein Partikelchen innerhalb seiner selbst hineingelegt werden soll. Daß diese ganze Ausdehnung von vornherein etwas rein Funktionelles ist, eine Bewegungsform unsrer seelischen Aktivität, – das bedeutet die Erstreckung des Aktivitätsprinzips in das ihm scheinbar Unzugänglichste, in das am meisten passivistisch Gegebne, den unendlichen Raum um uns herum. Man hat den Unterschied der Raumempfindung des Romanen von der germanischen so beschrieben: für jenen sei »der Raum ein fertiges Gebilde, das er von sich abstellt, für den Germanen dagegen ist der Raum ein nach allen Seiten gleichmäßiges Ausdehnen von einem Zentrum, das er selber innehält. Der Raum wird um ihn herum«. Darum konnte nur ein Deutscher auf den Gedanken von der Idealität und Subjektivität (wenn auch überpsychologischen Subjektivität) des Raumes kommen.

Deshalb ist die gewöhnliche Formulierung dieser Lehre: der Raum ist »in« uns, leicht mißzudeuten, indem sie verführt, das »in« räumlich zu verstehen, als wäre jenes Ich nun selbst ein Raum, in dem etwas sein könnte. Das »in« ist vielmehr nur so gemeint, wie man von dem Sinn »in« einem Satze spricht, wobei der Satz seinen Sinn doch nicht räumlich umfaßt, sondern dessen funktioneller Träger ist. Mit diesem zweideutigen Ausdruck hängt der andere, nicht weniger zweideutige zusammen: der Raum sei nun als etwas nur Subjektives und Irreales erkannt. Dabei lauert leicht die Vorstellung im Hintergrunde, daß die Räumlichkeit eine unvollkommene Vorstellungsweise, eine Illusion sei, in die wir gebannt seien, – übrigens nicht ohne die stille Hoffnung, doch irgendwelche metaphysischen oder mystischen Blicke hinter diese täuschende Kulisse in die wahre Realität tun zu können. Philosophische Theorien hatten behauptet: es gibt in Wirklichkeit keinen Raum; die räumliche Welt als solche ist nur einem Traum oder einer Sinnestäuschung vergleichbar: denn die Seele und die Dinge sind geistigen Wesens, unausgedehnt, bloße Kräfte oder Ideen. Deshalb sei der Raum etwas in sich Widerspruchsvolles, und eine bessere Erkenntnis würde uns statt seiner eine nur intensive, rein geistige Existenz der Dinge zeigen. Und selbst wenn diese Irrealität des Raumes nicht bestünde, wenn vielmehr die räumlichen Dinge auch wirklich existierten, so würde doch unser Vorstellen uns nie ihrer sicher machen können. Denn da sie außer uns sind und wegen ihrer Extensität sozusagen nie in unsren nur intensiven Intellekt hinüberwandern können, so können wir immer nur auf sie schließen, d. h. sie als Ursache unsrer Vorstellungen vermuten. Jeder Schluß aber von einer unmittelbar gegebnen Wirkung auf eine nicht ebenso gegebne Ursache ist jederzeit eine bloße Hypothese. Wir sind also nie vollkommen sicher, ob die Ursachen unsrer – an sich unräumlichen – Vorstellungen wirklich objektiv räumliche Dinge sind, oder ob jenen Vorstellungen ganz andersartige, metaphysische, geistige oder was sonst für Realitäten korrespondieren.

Beide Lehren: daß der Raum etwas Illusionäres, sachlich Unmögliches sei, und daß er etwas nur Mögliches sei, dessen Wirklichkeit wir niemals gewiß sein können, – beide sind definitiv abgetan, indem Kant erkennt: der Raum hat alle Realität, von der innerhalb unsrer Erkenntnis überhaupt die Rede sein kann, eben dadurch, daß er die Form und Bedingung unsrer empirischen Vorstellungen ist. Die räumlichen Dinge sind dadurch und insoweit real, als sie unsere Erfahrung bilden. Die bloße Tatsache, daß wir den Raum so vorstellen, wie es geschieht: durchgehends, nach festen Regeln, unter empirisch zuverlässiger Unterscheidung der Sinnestäuschungen von wirklicher Erfahrung, beweist nicht seine Realität – das wäre irreführend –, sondern ist sie. Nimmt man freilich an, daß die sinnlich-räumlichen Vorstellungen in unsrer Innerlichkeit leben, und daß außerhalb ihrer und unabhängig von ihnen die Dinge in einem objektiven Raum stehen, so können wir dieses letzteren rein von der Innerlichkeit her, auf die wir doch angewiesen bleiben, niemals sicher werden, ja, es ist nicht begreiflich, wie der Gedanke es machen sollte, sich irgendwie in dieses ihm wesensfremde Gebiet zu erstrecken. Indem Kant diese Zweiheit vernichtet und den vorgestellten Raum als den einzigen und wirklichen deutet, bedarf es so wenig eines Schlusses auf den Raum, wie wir, Lust oder Schmerz empfindend, auf die Tatsache erst zu schließen brauchen, daß es derartige Gefühle auch in Wirklichkeit gebe. Wie man sich freilich über die Bedeutung, das relative Maß, die Dauer solcher Gefühle großen Irrtümern hingeben kann, die aber ihre Realität als Lebenselemente ganz unberührt lassen, so sind über die Einzelheiten der Raumeswelt unzählige Täuschungen möglich, aber immer nur auf der Basis einer Raumeswelt von empirischer Realität überhaupt; denn auch die Korrektur des Irrtums setzt nie ein unräumliches Wesen an die Stelle des räumlichen, sondern sie erkennt entweder die Vorstellung überhaupt als eine empirisch nichtige, wie bei Halluzinationen, oder sie ersetzt den vorgespiegelten durch einen andren räumlichen Gegenstand.

Man kann diese Lehre für eine Resignation in bezug auf die Weltstellung des Menschen, für eine Verarmung seines geistigen Besitzes nur halten, wenn man die Kantischen Grundabsichten völlig verkennt. Jeder abändernde, vermehrende oder vermindernde Eingriff in den vorgefundenen Erkenntnisbestand liegt der Vernunftkritik völlig fern, außer soweit es sich um die spekulative Metaphysik handelt, die mit den für die Erfahrung geschaffenen Denkmitteln die Dinge jenseits aller Erfahrung zu erkennen meinte: das Wesen der Seele, die Beschaffenheiten des absoluten Weltganzen, die göttliche Existenz. Das angebliche Wissen um diese Dinge erweist er freilich als einen bloßen Mißbrauch der apriorischen Formen, der einander entgegengesetzte transzendente Behauptungen gleich gut und gleich schlecht erweisbar macht. Abgesehen aber von dieser Ausweisung unberechtigter Elemente aus dem Erkenntnisgebiet, läßt er auf diesem absolut alles beim alten, die Gültigkeit der Erfahrung und der mathematischen Wissenschaften bildet ja grade seine axiomatische Voraussetzung, und es handelt sich für ihn einzig darum, dieses bestehende Wissen zu analysieren und aus seinen Elementen zu konstruieren. Er steht also überhaupt jenseits der Möglichkeit, uns in unsrem Verhältnis zu der Welt der erkennbaren Realität reicher oder ärmer zu machen.

In der gewöhnlichen Auffassung erscheint Kant viel zu radikal. Das Verhältnis des Geistes zu seinen Objekten hat er nur an jenem einen Punkte, der Erkennbarkeit der transzendenten Objekte, völlig revolutioniert. Allein diese Tat hat für uns nicht mehr die Wichtigkeit, die sie im 18. Jahrhundert besaß. Ob die Seele Eigenschaften aufweist, die ihre Unsterblichkeit gewährleisten, ob sich die Existenz Gottes durch eine logische Deduktion beweisen läßt, ob ein zeitlicher Anfang des Weltprozesses widerspruchslos ist oder nicht, – das sind Angelegenheiten, die den modernen Menschen nicht sonderlich aufregen. Für uns ist der positive Aufbau der Erkenntniselemente, den Kant geleistet hat, von viel größerem Belang als jene kritische Konsequenz desselben. Durch diese Verschiebung des Interessepunktes kommt überhaupt ein Bruch in die moderne Auffassung Kants, ein etwas schiefes Verhältnis zwischen dem historischen und dem sachlichen Aspekt seiner Leistung. Und hierdurch wird das Mißverständnis begünstigt, als ob die Änderung unsres Besitzstandes, die er an der Metaphysik vollzogen hat, unsere Erkenntnis überhaupt träfe. Die »Verwandlung« aller »Realität« in »bloße Erscheinung« läßt die gegebne Erfahrung und die gegebne Wissenschaft in ihrem Wahrheitswerte völlig unangerührt, die Erfahrungen unsrer Räumlichkeit verlieren kein Atom von ihrer Realität, – die Vernunftkritik will nur diese Realität, ihren Bestand, ihre Elemente, ihr Zustandekommen deuten: denn es handelt sich immer nur um die Realität innerhalb des Erkennens, um die inneren Beschaffenheiten des Vorstellens, soweit wir es Erkenntnis oder Wahrheit nennen. Ob und welches Verhältnis das Vorstellen zu etwas haben möge, was nicht Vorstellung ist, wird hier nicht gefragt, da jedenfalls nur die auf der Seite des Vorstellens aufzufindende Bedeutung eines solchen Verhältnisses untersucht werden soll. Und selbst wenn man zugeben wollte, daß die Erkenntnis außer ihrem inneren Sinne und außer dem Prozeß, der ihre Existenz ist, noch in einen metaphysischen Weltzusammenhang hineingehört, daß ihr ganzes, in sich abgeschlossenes Sein ein Glied in einem darüber hinausgreifenden Gesamtverhältnis der Dinge ist, – so macht Kant eben von dem Rechte der freien Problemstellung Gebrauch und untersucht in der Vernunftkritik das Erkennen nur als Erkennen, nicht aber die Stellung, die es innerhalb unsres und des kosmischen Wesens einnimmt. Die Frage also, ob er eine absolute, unsrem Erkennen jenseitige Existenz von Dingen-an-sich annimmt, muß ihm innerhalb des Zusammenhanges der Vernunftkritik so ungereimt erscheinen, als wollte man von einem Kunsthistoriker verlangen, daß er in einer pragmatischen Geschichte der Kunstwerke den psychologischen Ursprung und das moralische Recht der Kunst überhaupt diskutiere. Daraus erklärt sich die irritierende Fruchtlosigkeit des Streites, wie sich die Vernunftkritik zu jenen absoluten Dingen-an-sich stelle; es ist überhaupt nicht ihr Problem, sich zu ihnen zu stellen, und deshalb haben sich, wie in allen Diskussionen über ein imaginäres Objekt, die entgegengesetztesten Behauptungen darüber als gleich beweisbar und gleich widerlegbar gezeigt. Kant konnte seine methodisch ablehnende Stellung zu diesem Problem – die ebendeshalb keine Ablehnung der Sache ist – nicht genauer präzisieren als durch die Erklärung: unsere Sinnlichkeit habe den Charakter der Rezeptivität, und nur um dies auszudrücken, spräche man von Dingen-an-sich als von demjenigen, was diese Rezeptivität anregte – während er zugleich erklärt, die Existenz von Dingen-an-sich zu bezweifeln läge ihm völlig fern.

Daraus, daß Kant sozusagen nur die inneren Angelegenheiten des Erkennens administriert, wird verständlich, daß er von dem nächstliegenden und radikalsten Beweisgrund für die Unerkennbarkeit der Dinge-an-sich keinen Gebrauch macht: daß unser Vorstellen nicht über sich hinaus kann; das vorstellende Ich, selbst ein unendlich vollkommenes und mit übermenschlichen Erkenntnismitteln ausgerüstetes, bliebe doch immer ein Ich, das von dem Nicht-Ich, seinem Gegenstande, durch eine unüberbrückbare Kluft geschieden ist, – das An-Sich des Gegenstandes ist dem Erkennen, das doch ein Für-Uns ist, seinem Begriffe nach versagt. Und wenn jene Brücke nun dennoch geschlagen und das Nicht-Ich in eine Wesensidentität mit dem Ich verschmolzen wäre, so daß die Erkenntnis des Gegenstandes eine Selbsterkenntnis wäre, – so würde doch auch diese sich immer nur in Vorstellungen bewegen, die, wie jede Selbsterkenntnis, ihren Gegenstand haben, den sie treffen oder verfehlen können; die Identität des Trägers dieser Vorstellungen mit ihrem Objekt könnte die Zweiheit nicht aufheben, die die Vorstellung als solche dem An-Sich ihres Gegenstandes, d. h. ihm, soweit er eben nicht Vorstellung ist, gegenüberstellt. Auf diese logisch-fundamentale Begründung des Idealismus verzichtet Kant, – offenbar, weil sie das Erkennen als Ganzes, in seiner Beziehung zu andren, gleichfalls absolut genommenen Existenzen betrifft. Eine Gesamtcharakteristik des Erkennens, die dieses nur gleichsam in eine neue Tonart transponierte, ohne uns über seine Intervalle Neues zu lehren, liegt nicht in seinem Interesse. In vollem Gegensatz zu jenem logischen, aus dem Begriff des Erkennens gefolgerten Idealismus setzt er ohne weiteres voraus, daß die Dinge-an-sich für einen andern Intellekt als den unsrigen – für einen nicht an sinnliches Material gebundnen – durchaus erkennbar sein konnten. Es sind also nur Unterschiede innerhalb des Vorstellens überhaupt, die Kant durch den Gegensatz von Ding-an-sich und Erscheinung charakterisiert, nicht der absolute, zwischen dem Vorstellen überhaupt und dem, was außerhalb des Vorstellens liegt. Behält man diese Wendung des Interesses, ausschließlich nach dem Inneren des Erkennens hin, im Auge, so beantwortet sich ohne weiteres die alte Frage der Kant-Deutung: mit welchem Rechte er denn Dinge-an-sich als Ursache der Sinnesempfindung bezeichne, da doch die Kategorie der Ursache nur auf sinnliche Erscheinungen, ausdrücklich aber nicht auf Dinge-an-sich anwendbar sei? Tatsächlich wird hier durch die »Verursachung« unsrer Empfindungen nur eine innere Qualität ihrer ausgedrückt, sie kommen uns in einer eigentümlichen Weise zum Bewußtsein, die wir als Passivität oder Rezeptivität bezeichnen, gegenüber der Färbung des Denkens, das das Gefühl des Schöpferischen, Spontanen mit sich bringt. Diese psychologische Färbung der Empfindungen wird so ausgedrückt, daß sie von etwas schlechthin Äußerlichem verursacht sind. Die Beziehung des Dinges-an-sich zum Subjekt ist also ausschließlich von der Seite des Subjekts her erfaßt. Wie sich jenes Äußere auch an sich verhalten möge: die Bedeutung dieses Verhaltens für uns kann nur als Verursachung von Empfindung ausgedrückt werden, dies ist unser Anteil an dem Verhältnis zwischen uns und ihm. Wir meinen, wenn wir es als Ursache bezeichnen, gar keine Beschaffenheit oder Verhalten von ihm, sondern von uns; indem der Charakter gewisser Vorstellungen, rein innerlichen Kennzeichen nach, als Bewirktheit auftritt, ist die ihnen äußere Ursache ein bloß von ihnen her konstruiertes Korrelat. Durch die Anwendung der Kategorie der Ursache soll hier also keineswegs das Ding, wie es an sich selbst ist, erkannt werden – damit hätte Kant freilich den gerügten Widerspruch gegen seine Voraussetzungen begangen – sondern nur, was es für uns, d. h. in uns, ist, wird damit benannt.



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