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Vierte Vorlesung.

Die Funktion der Objektivität, daß sie nur das Subjektive als ein zuverlässig Gleichmäßiges, notwendig Eintretendes feststellt – wodurch einerseits die Zweideutigkeit und Zufälligkeit am Sensualismus überwunden, andrerseits alles Erkennen doch am Gegebnen festgehalten wird –, diese Funktion würde ganz befriedigend erscheinen, wenn nicht jetzt eine neue Schwierigkeit auftauchte. Kant schärft ausdrücklich ein: alle Erfahrungsurteile, keineswegs nur die Formulierungen bloßer Sinneseindrücke, sondern die echten, unter Wirksamkeit der Verstandeskategorien entstandnen Erfahrungsurteile haben nur relative Gültigkeit: was Erfahrung gelehrt hat, kann Erfahrung jederzeit widerrufen. Wie ist dies nun mit der eben charakterisierten Zuverlässigkeit und Notwendigkeit der Erfahrungsurteile zu vereinen, mit der sie sich aus den bloß sensuellen Urteilen heraus und über diese hinweg bilden?

Dies ist ersichtlich keine bloße kantphilologische Spezialfrage, sondern es handelt sich darum, in dem Weltbild, das uns hier allmählich aus dem Kantischen Denken erwachsen soll, dem eigentlichen Träger aller Erkenntnis, dem Erfahrungsurteil, seinen Doppelwert zu retten: einerseits die Sicherheit und Gültigkeit jenseits der bloßen Sinnesempfindung, andrerseits die Biegsamkeit und jederzeitige Korrekturfähigkeit, die doch keineswegs ein bloßes Manko ist, sondern das Verhältnis des Geistes zur Wirklichkeit, als eine ins Unendliche gehende Entwicklung, endgültig ausdrückt. Zur Vereinigung dieser widerspruchsvollen Forderungen sehe ich nur den folgenden Weg, der über eine nochmalige Ansicht der apriorischen Sätze führt. Nachdem Kant, wie ich zeigte, alle Erkenntnis auf ihnen erbaut hat, fährt er mit scheinbarer Paradoxie fort: weder der Satz der Kausalität, noch die Geometrie, noch die über alle Einzelerfahrung hinaus gültigen Verhältnisse der Zahlen, noch was es sonst an apriorischem Besitz geben mag, ist an und für sich schon eine Erkenntnis. Alles dies sind leere Schemata, abstrakte Formeln, die eine Bedeutung erst in der Erfüllung mit Wahrnehmungsstoff gewinnen. Sie sind zwar dasjenige an der Erfahrung, wodurch sie Erkenntnis wird, was aber, für sich allein herausgezogen, keine Erkenntnis ist, sondern gleichsam nur der blutlose Schatten einer solchen, der freilich deren Umrisse genau darstellt. Dies vorausgesetzt, bewegen sich alle für uns möglichen Erkenntnisse zwischen zwei Grenzen. Zu unterst steht das Wahrnehmungsurteil, das weder über das Objekt etwas aussagt, noch eine über den Einzelfall hinausgehende Geltung besitzt, sondern nur die Empfindungszustände des Subjekts in ihrer Reihenfolge konstatiert. Zu oberst stehen die apriorischen, unsren Verstand ausmachenden Sätze, die allgemein und deshalb für alle Objekte gelten, dafür aber die bloße leere Form von Erkenntnissen der Wirklichkeit sind. Das Erfahrungsurteil ist nun offenbar eine Zwischenstufe, ein Entwicklungsstadium zwischen jenen beiden Grenzfällen; es muß, nach der Konsequenz der Kantischen Voraussetzungen, unzählige Abstufungen der Urteile geben, von dem Wahrnehmungsurteil an, das noch nicht Erfahrung ist, bis zu dem apriorischen Satz, der es nicht mehr ist. Welche der Verstandeskategorien in Wirksamkeit treten soll, vor allem, welchen Gewißheitsgrad das einzelne Urteil auf jener Skala einnehmen soll, – darüber entscheidet jedesmal die Art, die Häufigkeit, die Intensität der Sinneseindrücke; bestimmte Qualitäten und Quantitäten dieser lösen sozusagen das Funktionieren bestimmter Verstandeskategorien aus und bringen damit das Erfahrungsurteil zustande. Je reiner und reicher das Sinnesmaterial gegeben ist, desto unzweideutiger und beherrschender tritt die apriorische Verstandesform in Kraft, desto mehr also nähert sich das Urteil dem Geltungswert des apriorischen Satzes, den es freilich wegen des unvermeidlich mitwirksamen Sinnenstoffes nie ganz erreichen kann. Die apriorischen Sätze gleichen dem Typus von Idealen, mit deren Verwirklichung eine Entwicklung denjenigen Charakter völlig ändern würde, den sie durch die Richtung auf jene Ideale gewann. Die Versöhnung der beiden Ansprüche an das Erfahrungsurteil, daß es einerseits korrigierbar, andrerseits notwendig, daß es einerseits sinnlich subjektiv, andrerseits objektiv allgemein sei, erfolgt so, daß sowohl das einzelne Erfahrungsurteil wie ihre Gesamtheit sich auf dem Wege von dem einen Extrem zu dem andern befindet, daß es in seiner Einheit einen relativen Anteil an jedem von beiden einschließt. Schon das flüchtigste Wahrnehmungsurteil dürfte mit einem ersten Ansatz an den Erfahrungsformen teilhaben, und das gefestetste empirische Urteil, dem mathematischen sich ins Unendliche nähernd, ist gegen Umänderung durch neue Wahrnehmungen nie absolut gesichert. Ein Erfahrungsurteil von absoluter Vollendung seiner objektiven Gültigkeit wäre keines mehr, sondern nur dessen abstrakt leere Form, gerade wie die Reduktion auf sein anderes Extrem, die Wahrnehmungsfolge, seine Bedeutung vernichten würde.

Die geistesgeschichtliche Situation, in der, in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die Renaissance der Kantischen Lehre erfolgte, brachte es mit sich, daß man an ihr vor allem die Opposition gegen den gewöhnlichen Empirismus empfand und nicht recht hervorhob, daß sie ja für die Praxis des Erkennens sich von diesem gar nicht so sehr weit entfernte. Gewiß lehnt Kant aufs stärkste alle Versuche ab, die Mathematik und alle Sätze der gleichen Stufe empirisch zu begründen; allein ebenso stark – wenn auch nicht ebenso häufig – betont er doch auch, daß diese Sätze »für sich nicht Erkenntnisse sind«! Nur seinem reinen Begriff nach – d. h. in seiner nie erreichbaren Vollendung – hat ein Erfahrungsurteil jene Objektivität und Notwendigkeit, wie Kant sie ihm zum Unterschied gegen das Wahrnehmungsurteil zuspricht. Der Inhalt eines wirklich vorliegenden Erfahrungsurteils erreicht immer nur gradweise die Geltung der überempirischen Kategorie, der es seine mehr als subjektiv-momentane Gültigkeit verdankt. Kant äußert einmal in bezug auf die metaphysische Bedeutung der Moral: den Sinn der Welt könne man nur in dem Menschen unter moralischen Gesetzen finden, – wenngleich nicht in dem Menschen nach moralischen Gesetzen. Das heißt: der Endzweck der Schöpfung, wenn man sich einen solchen denken wolle, sei nicht der sittlich vollendete Mensch, sondern der Mensch, der unter sittlichen Normen und Forderungen steht, wenngleich er sie immer nur in sehr verschiedenen Graden und nie in einem vollkommenen realisiert. Eben dies ist nun auch die innere Form des Erkenntnisprozesses: sein Wert hängt durchaus nicht im Sinne eines Alles oder Nichts davon ab, daß er auch wirklich jene Allgemeinheit und Notwendigkeit erreiche, von welcher, als seiner Norm und seinem Ziel, er dennoch allen Wert seiner einzelnen Stadien entlehnt. Die ganze Ratlosigkeit der modernen Intellektualität, ja der modernen Existenz, ihr niemals subjektiv zielloses, aber immer zielfernes Streben konnte nicht kräftiger, ja – soweit Kant diesen Begriff gestattet – leidenschaftlicher ausgedrückt werden, als indem er, dessen ganzes Herz an den vollendeten Wahrheiten der Mathematik und der apriorischen Sätze hing, diesen dennoch den selbständigen Wert für die geistige Erfassung der vollen Wirklichkeit absprach: diesen Wert vielmehr überantwortete er den Vermählungen jener Apriorität mit dem subjektiv-zufälligen Sinnenbilde, deren Recht gleichsam »der ärgeren Hand« folgt und statt der Vollkommenheit die Entwickelbarkeit geerbt hat. Der moderne Entwicklungsgedanke ist in dieser Behauptung über das Wesen alles Erkennens überhaupt vorweggenommen, dem Erkennen ist für seine tiefste und allumfassende Form schon der Charakter erwachsen, dem seine Inhalte erst fast ein Jahrhundert später reif waren. –

Noch einem weiteren Typus geistesgeschichtlicher Synthesen ordnet sich diese Lösung des Erkenntnisproblems ein. Gerade dasjenige, was aller Erkenntnis erst Inhalt und Bedeutung verschafft, die Wahrnehmung, hatte doch verhindert, daß sie zur unbedingten Gültigkeit und Objektivität aufsteige; und andrerseits: grade dasjenige Erkenntniselement, das allen Wahrnehmungen erst Objektivität und übermomentane Gültigkeit verleiht, die Kategorien und Grundsätze des Verstandes, war an und für sich eine leere Formel, die erst Erkenntnis ermöglicht, wenn sie von ihrer Höhe herabsteigt und sich mit der Zufälligkeit des Empfindungsinhaltes füllt. Und dies eben gehört jenem großen Typus zu, den Plato vorgezeichnet hat: keiner der Götter ergebe sich der Wissenschaft, denn sie haben schon das Wissen; auch keiner der ganz Unwissenden tue es, – denn er trage kein Begehr nach Wissen; wenn die Philosophen also weder die ganz Unwissenden sind noch die ganz Wissenden, so seien sie ersichtlich diejenigen, die zwischen diesen beiden vermitteln. Die tiefsten Probleme des Lebens gewinnen für uns diese typische Form. Die seelischen, schicksalsmäßigen, wertvollen Erscheinungen treten uns als Einheiten entgegen, mit denen als solchen unser Bewußtsein sozusagen nichts anzufangen weiß; um uns in sie einzufühlen, ihren Sinn nachbildend in uns erwachsen zu lassen, ziehen wir eine Zweiheit von Elementen aus jedem heraus, die, in einseitiger Absolutheit vorgestellt, durch gegenseitige Modifikationen die konkrete Erscheinung ergeben, so daß diese als Mischung oder Mittleres jener Extreme erscheint. So gilt die Entwicklung der Welt als der Kampf zwischen Gott und Teufel, Ormuzd und Ahriman; so deutet man das gesellschaftliche Dasein als die Resultante eines an sich nur individualistischen und eines an sich nur sozialen Triebes; so bringen wir die einheitlichen Gebilde der Kunst, der Lebensgestaltung, der Rede uns nur so nahe, daß wir ein Interesse an ihrer reinen Form neben ein Interesse an ihrem reinen Inhalt stellen und erst in der Synthese beider die Bedeutsamkeit des Ganzen erfassen. Mag dies ein Zirkel und eine Fiktion sein, die aus dem Einheitlichen und Beschränkten erst ein doppeltes Absolutes herausdichtet, um durch dessen gegenseitige Beschränkung jenes zurückzugewinnen, – so knüpft es sich doch wohl an die Grundtatsache des höheren organischen Lebens: daß nur aus der Vermischung zweier entgegengesetzter Potenzen eine neue Lebenseinheit entspringt; und jedenfalls scheint es die unvermeidliche Formel für unsere Geistesart zu sein, um die Einheit der Dinge, zu der wir keinen direkten Zugang haben, uns intellektuell zu assimilieren. So hat Kant zuerst die Intellektualität ihrem eignen Gesetze unterworfen. Er hat dem Erkenntnisprozeß die stärkste, dem Intellekt zugängige Einheit verliehen, indem er die beiden Elemente, die ihn sonst abwechselnd für sich beanspruchten, als die an sich unwirklichen Extreme erkannte, deren Verschmelzung und Gegenwirkung die einzig legitime Erkenntnis erzeuge.

Damit ist bei Kant mehr als bei irgendeinem andren Philosophen die Intellektualität Herr im eignen Hause geworden; in allen einseitig sensualistischen wie einseitig rationalistischen Theorien des Erkennens verraten sich praktischere, jenseits des Intellekts wurzelnde Impulse des Gefühls und Willens. Innerhalb seines souveränen Intellektualismus aber zeigt sich nun eine Vertiefung und Verlebendigung, die die andren Weltanschauungen nur durch ein Verlassen des intellektualistischen Prinzips gewannen. Wir sahen: die Gesetze, die das Erkennen als einen Vorgang im Subjekt beherrschen, müssen auch für alle Gegenstände der Erkenntnis gelten. An diesem Grundgedanken aber, der insoweit die konstatierbaren Eigenschaften der Objekte bestimmte, kann man nun fernerhin den Charakter des Erkennens als einer Tätigkeit betonen. Jene Gesetze gelten für den Geist als für ein lebendiges, funktionierendes, handelndes Wesen; seine Inhalte, die den apriorischen Gesetzen unterworfnen Gegenstände der Erfahrung, sind deshalb nichts außerhalb der Funktion des Geistes, sie sind seine Taten. So bleibt an ihnen nichts Starres, Unlebendiges, Ungeistiges, da sie nun völlig in den Prozeß des Erfahrens aufgelöst sind, – der sich freilich für Kant selbst (ich erinnere an die Ausmachungen der dritten Vorlesung) nicht in einem individuell-realen Leben vollzieht, sondern an dem ideellen Subjekt, das nur der Träger der Erkenntnis ist. In außerordentlich einfachen Sätzen begründet Kant diesen entscheidenden Gedanken, an dem die Theorie des Erkennens in eine Weltanschauung übergeht. »Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne – im Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) – bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen acht zu haben. – Der Verstand findet also nicht schon eine Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor.«

Der Angelpunkt ist der: alle Gegenstände, die wir vorstellen, sind irgendwie geformt, und jede Form ist Verbindung einfacher Elemente; diese Verbindung, die wir vorstellen, kann uns nicht – wie Sinneseindrücke – von Objekten kommen; vielmehr, alle Verbindung »kann nur vom Subjekte selbst verrichtet werden, weil sie ein Aktus seiner Selbsttätigkeit ist«. Wenn wir also einen räumlichen Gegenstand anschauen, so ist daran das Gegebene, das wir passiv von der Wirklichkeit hinnehmen müssen, eine Summe an sich unverbundner punktueller Sinnesaffektionen, die Farbigkeiten und Tastbarkeiten des Gegenstandes. Zu einem räumlichen aber wird er, indem diese sozusagen unlokalisierten Eindrucksatome innerhalb unsres Bewußtseins verbunden werden. Damit sie einen bestimmt geformten Gegenstand bilden, muß das Bewußtsein aus jedem von ihnen zu jedem hinübergleiten, aus jedem herausgehen, ohne ihn doch verschwinden zu lassen, also eine Verbindung zwischen ihnen vollziehen, die aus keinem derselben für sich herauszuholen ist: die Räumlichkeit der Dinge ist eben diese Synthese, die der Geist unter den einzelnen Empfindungselementen stiftet, oder auch: ein Verhältnis zwischen ihnen, das sich aber aus ihrem jeweiligen Fürsichsein noch nicht ergibt, sondern erst dadurch, daß ein Geist sie in seiner Einheit zu gegenseitiger Berührung bringt. Die Regeln jener Verbindung sind als Geometrie formuliert, die eben darum a priori gültig ist. Nicht anders verhält es sich mit der Zeitlichkeit wahrgenommener Ereignisse. Daß sie nacheinander stattfinden, ist eine Formung ihrer, die in den Wahrnehmungsinhalten selbst nicht enthalten ist. Um das Nacheinander von ihnen auszusagen, muß der schon verschwundene im Bewußtsein festgehalten und mit dem gegenwärtigen konfrontiert werden, sie müssen, über das an ihnen Wahrnehmbare hinaus, aufeinander bezogen werden. Eindrücken, Ereignissen, Schicksalen gegenüber mögen wir uns passiv, bloß aufnehmend verhalten; daß sie aber zugleich oder nacheinander sind, ist eine Art von Vergleich, den der Geist an ihnen vornimmt, ein Rangieren ihrer auf einer nicht in ihnen, sondern in ihm gelegenen Linie, – nichts Freiwilliges oder Beliebiges freilich, das er durch den Willen gestalten oder umgestalten könnte, sondern eine gesetzmäßige Aktivität seiner, aber darum nicht weniger eine Aktivität. Nicht nur also die Kausalität, die Satzbildung, der Aufbau systematischer Gedanken gelingt durch ein aktives Schalten mit den geistigen Elementen, sondern schon die Wahrnehmung eines einzelnen Objekts, einer räumlichen Substanz, eines Geschehens in der Zeit bedarf einer zusammenfügenden Energie. Die formende Tätigkeit des Geistes enthüllt sich so als die Bedingung der elementarsten Vorstellungen, als die Bildnerin dessen, was wir unbefangenerweise als das schlechthin gegebene Material unsrer Erkenntnisse hinzunehmen pflegen. Der hiermit skizzierte Gedanke: daß jegliche Form der Dinge – in der sie eben die tatsächlichen Gegenstände unsrer Erfahrung sind – ein Tun des erkennenden Geistes ist, bildet den eigentlichen Kern des Kantischen »Idealismus«. Er erschöpft sich nicht in der resultathaften Formulierung: die Welt ist meine Vorstellung, sondern erst in der tieferen: die Welt ist mein Vorstellen.

Von neuem ist aber zu erinnern, daß mit dieser Tätigkeit nicht das dynamische Moment unserer tatsächlichen seelischen Prozesse gemeint ist. Diese Vorgänge gehören unsrem zeitlich verlaufenden Lebenszusammenhange an, werden aus der Kraftquelle unseres Gesamtlebens gespeist und sind als solche gegen die Wahrheit der vorgestellten Inhalte gleichgültig. Für Kant aber stehen gerade nur die Inhalte und die Zusammenhänge, die sie als wahre haben, in Frage, und wenn ich unsere Erkenntnisse in seinem Sinn als Prozeß, als Tun bezeichnete, so bedeutet dies, daß die Charaktere, die Formen ihrer überpsychologischen Sachlichkeit solche sind, die nur durch seelische Aktivitäten in uns realisiert werden können. Auf die Inhalte in ihrer reinen Erkenntnisbedeutung hin angesehen, sind jene Ausdrücke nur symbolisch, sie lehnen nur von der Erkenntnis die Starrheit und Isoliertheit bloßer Vorstellungspunkte ab und konstruieren diejenigen Zusammenhänge, Vereinheitlichungen, Verwebtheiten, die in der psychologischen, sie tragenden Realität Vorgänge, dynamische Geschehnisse, Aktivitäten sind. Das Verständnis dieses entscheidenden Punktes ist nicht ganz leicht. Man mag als an eine – keineswegs deckende, sondern nur ungefähr auf ihn hinleitende Analogie – an die Fälle denken, wo wir bei einem Gemälde, an einem Gerät von der Bewegtheit oder dem Schwunge der Linien sprechen. Die Linie selbst bewegt sich doch nicht; aber wir empfinden, wir wissen an ihr die Lebhaftigkeit der psychisch-physischen Bewegung, die sie erzeugt hat und die in ihr in einer eigentümlichen Weise investiert oder objektiviert ist. Wenn man sagt: das Erkennen ist ein Tun, weil es nur durch Synthese möglich ist, Synthese aber nur durch Tätigkeit eines Subjekts, so ist dieses »Subjekt« für Kant ein abstraktes, es ist nur die intellektuelle Seite des historischen, lebendigen, real wirksamen Einzelsubjekts, der logische Abglanz, an dem wir dessen Leben haben und in den die Dynamik dieses Lebens nicht eintritt. Oder, in einer letzten Wendung: natürlich ist es immer nur dieses und jenes bestimmte Individuum, das erkennt, das die erforderliche Synthese in Wirklichkeit vollzieht. Sieht man aber auf die Erkenntnis rein als Wahrheitsgehalt, so wird die Individualität ihres Trägers gleichgültig und unwirksam, er ist jetzt sozusagen nur der Name für die formenden Bewegtheiten, mit denen sich die Inhalte zu Wahrheiten zusammenschließen. Nicht der Intellekt als seelische Energie, als Bewährung eines individuellen Lebens, ist mit der »Einheit des Bewußtseins« identisch, die den Gegenstand der Erkenntnis formt – worüber nachher das Nähere – sondern um das »Bewußtsein überhaupt« handelt es sich; und dieses ist nicht individuell, nicht kraftmäßig, sondern ist der Sinn, die Formbedeutung für den geistigen Zusammenhang der Weltinhalte, der in dem jeweilig aktiven Individuum wohnt, wie in den Materienstückchen eines geschriebenen Satzes der logische Sinn, den er trägt. – Diese Bestimmungen vorausgesetzt, haben wir nun im einzelnen zu untersuchen, wie sich unter ihrem Einfluß die verschiedenen Schichten des Weltbildes gestalten.

Die Deutung dieses, die Kant gibt, ruht durchaus auf dem Begriffspaar: Stoff und Form. Die Vorstellungswelt löst sich ihm auf in gegebene Materialien, die durch innere Energien geformt werden. Daß dies restlos geschehen kann, ist keineswegs selbstverständlich. Das Dasein gibt sich uns unmittelbar als eine bloße Wirklichkeit, die von sich aus die Zerlegung in Stoff und Formung nicht aufdrängt, wir zerspalten vielmehr das in seiner Einheit für uns nicht begreifbare Dasein in diese Kategorien, in denen wir es uns zuführen können. In ihrer praktischen Anwendung nun stellen sie sich sogleich als ein zweiter Gegensatz dar: Vielheit und Einheit. In jeglicher Formung wird eine Mehrheit von Elementen zur Einheit zusammengefaßt, Formen des Raumes, der gedanklichen Gebilde, des Erlebens, des Hör- und Fühlbaren bedeuten, daß das Verhältnis singulärer Elemente zueinander als eine Einheit ergriffen wird. Die bloße Summe solcher – zusammenhangloser – Elemente ist bloßer Stoff; er empfängt Form als Zusammenhang jener dadurch, daß aus der Gesamtheit aller Elemente überhaupt ein gewisser Teil ausgeschieden und als zusammengehörig allen andren entgegengesetzt wird. Jede Formung ist Trennung; die Linie, durch die wir eine Form in eine Ebene hineingestalten, trennt eben einen Teil derselben vom andren; und sie ist Vereinheitlichung: denn der eine Teil wird jetzt als eine Einheit dem andren entgegengesetzt. Wenn wir einen Satz bilden, so fassen wir die Worte, deren keines für sich den Sinn trägt, als aufeinander bezogen, als zusammengehörig auf, und in dieser Einheit gewinnt der bloße Stoff der Worte, ohne eine quantitative Änderung, die Form des Satzes, oder, um jedes Mißverständnis auszuschließen: die Sinn-Einheit des Satzes ist zuerst da und faltet sich in die Vielheit der Worte auseinander, die von ihr zusammengehalten bleibt usw. Kurz, was wir Form nennen, ist, auf die Funktion hin angesehen, die es verwirklicht, die Vereinheitlichung des Stoffes: sie ist die Überwindung des isolierten Fürsichseins seiner Teile, deren Ganzheit nun, als eine Einheit, sei es aus den Teilen, sei es über den Teilen, andrem, ungeformtem oder anders geformtem Stoff entgegengesetzt wird.

Dies ist der sachliche – von Kant selbst nicht hervorgehobene – Zusammenhang, aus dem er, die Vorstellungswelt in Stoff und Form zerlegend, schließlich in den Einheiten, die sich aus der Vielheit des Gegebenen bilden, den Drehpunkt alles Weltverständnisses erblicken kann. Ein gegebnes Mannigfaltiges der Sinnlichkeit, der Phantasie, des Denkens wird erst dadurch zu einem Erkenntnis, daß es geformt, d. h. vereinheitlicht wird, zu einem einheitlichen Sinn zusammenwächst. Diese Vereinheitlichung nämlich erst schafft aus jenem Stoffe ein objektives Gebilde. Wenn ich den Sonnenschein und dann ein Wärmegefühl empfinde, so sind dies Tatsachen, die nur in meinem subjektiven Bewußtsein aneinandergereiht sind und insoweit noch keine Erkenntnis ergeben. Entsteht aber der Satz: der Sonnenschein ist die Ursache der Wärme, – so sind in ihm die beiden Begriffe aus dem bloßen Nacheinander in eine Einheit übergegangen, ein einheitlicher Prozeß faßt sie zusammen, – und eben damit sind sie objektiviert, an die Stelle der Zufälligkeit meiner Empfindungen ist ein sachliches Verhältnis der Elemente getreten, das von allem bloß Subjektiven unabhängig ist. Der objektive Gegenstand entsteht, indem die einzelnen Sinnesempfindungen zu einer Einheit, die sie aneinanderhält, kristallisieren; dadurch werden sie das, was man die Eigenschaften des Dinges nennt. Wenn die Empfindungen Süß, Hart, Weiß usw. unmittelbare Zusammengehörigkeit gewinnen, so werden sie zu dem Objekt Zucker. Objektivität oder Gegenständlichkeit ist eben selbst von vornherein eine Kategorie des Bewußtseins – nicht des subjektiven, sondern des Bewußtseins überhaupt. Ebenso entsteht das objektive Urteil, indem Subjekt und Prädikat, statt durch bloße psychologische Assoziation in einem persönlichen Bewußtsein aneinanderzustoßen, durch das Wort: »ist« verbunden werden. Denn dies bedeutet nun einerseits das einheitliche Ineinandersein der beiden Begriffe, eine Innigkeit der Verschmelzung zu einem Sinne, für die es in der Außenwelt gar keine Analogie gibt; und es bedeutet andrerseits die Realität des Zusammenhanges, der nun von Subjekten wiederholt oder nicht wiederholt werden mag, ohne daß seine sachliche Gültigkeit hiervon noch irgendwie abhinge. So ist also die Einheit des Gegenstandes und die Objektivität seiner Erkenntnis eines und dasselbe, der Prozeß, der zu jener führt, erzeugt eben damit auch diese; wie Kant es ausdrückt: »Alsdann sagen wir, wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen seiner Anschauung Einheit bewirkt haben.« Es ist ein grundlegender Gedanke von wunderbarer Tiefe: wir erkennen den Gegenstand, indem wir ihn nach seiner Form als Gegenstand erzeugen. Wir entheben unsere Vorstellungsinhalte der fließenden Zufälligkeit des momentanen Bewußtseins und machen sie zu Gegenständen, zu einer Welt der Dinge, und eben damit haben wir sie erkannt; d. h. wir durchschauen sie als Objekte, finden unsere Forderungen an logische Harmonie und begreiflichen Zusammenhang an ihnen verwirklicht, weil sie eben durch die Anwendung dieser Normen zu Objekten geworden sind: das Erkennen des Gegenstandes schafft den Gegenstand des Erkennens. Die früheren Erörterungen über das Apriori haben gezeigt, daß der Geist jeden möglichen Inhalt seiner Erfahrung in die ihm einwohnenden, ihn ausmachenden Formen aufnimmt, so daß alles, was wir erfahren, diese Formen zeigen muß, weil es nur durch deren Anwendung zur Erfahrung wird. Unter diesem Satz ist nun die tiefere Schicht aufgegraben: die Vereinheitlichung des Mannigfaltigen hat sich als die ganz allgemeine Funktion erwiesen, die, aus dem Subjekt hinausführend, das Objekt als solches überhaupt schafft und, in das Subjekt hineinführend, die Erkenntnis desselben bedeutet, – beides aber als ein und derselbe Akt, der von diesen beiden Seiten her betrachtet werden kann. Objektivierung bedeutet die Fixierung und Sicherung, die sich die diffusen Sinnesmateralien vermöge ihrer Vereinheitlichung gegenseitig gewähren, während das Gelingen eben dieser Vereinheitlichung zugleich die Ansprüche befriedigt, die unser Erkenntnistrieb stellt.



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