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Zwölfte Vorlesung.

Die reale Trennung zwischen Sittlichkeit und Glück verträgt sich völlig mit der Hinweisung des einen Wertes auf den andren, wie der Begriff des »Würdigseins« sie aussprach. Allein es ist bekannt genug, daß Kant sich mit dieser ideellen Brücke über die Abgründe der Realität nicht begnügte, jene empirische Diskrepanz vielmehr für eine Unerträglichkeit erklärte, deren Beseitigung nicht in einer idealen Forderung, sondern in einer überirdischen Wirklichkeit gesucht werden müßte. Angenommen, unser empirisches Dasein sei nur das unvollendete Stück einer unendlichen Existenz unsrer Seele, deren Fortsetzung sich an das Ende jenes anschließt – so würde freilich auch in einer solchen der inneren Vollendung der Seele, die wir hier Sittlichkeit nennen, nicht von sich aus ein Glück zuwachsen, da diese beiden Werte auf keiner Stufe des Daseins sich gegenseitig erzeugen könnten. Übrigens mag dies, rein gedanklich angesehen, noch zweifelhaft sein. Irgendeinen, wenn auch noch so minimen und unproportionierten Ansatz zu einem Glückserfolge der Sittlichkeit bietet tatsächlich das gute Gewissen. Man könnte sich denken, daß dies die irdisch mögliche, fragmentarische Andeutung eines inneren Zusammenhanges beider wäre, der sich in einer absoluten und ewigen Existenz voll zum Ausdruck brächte. Für Kant indes würde es nur einer göttlichen Macht möglich sein, in einem jenseitigen Leben die beiden nachträglich so zusammenzubinden, wie sie es in dem uns gegebenen Fragment des Daseins nicht getan hat – vielleicht, weil der Wille seiner Reinheit und selbstgenugsamen Sittlichkeit nur bei völliger Zweifelhaftigkeit des Glückserfolges sicher ist. An diesem Punkte seiner Ethik fügt sich ein, was mir von Kants Religionsphilosophie hier mitteilenswert erscheint. Jene Leistung des göttlichen Prinzips bedeutet nicht, daß wir einen Gott vorfinden, als einen Gegenstand des Dogmas oder der religiösen Erfahrung, zu dessen Machtäußerungen unter anderem auch die jenseitige Herstellung jener Gerechtigkeit gehörte. Sondern umgekehrt, unser subjektives Bedürfnis nach dieser ist so unnachlaßlich, eine so unvermeidliche Konsequenz des sittlichen Bewußtseins einerseits, unsrer bedürftigen Natur andrerseits, daß der Glaube an einen Gott, der das Bedürfnis befriedigte, aus dem Bedürfnis selbst hervorgeht. Wir haben gar kein Mittel, die Schranken unsres irdischen Erkennens zu überspringen und die Wirklichkeit eines Gottes zu ergreifen, aus dessen Wesen wir diese Leistung, die Weltordnung zu vollenden, ableiten könnten: die Religiosität, die Kant zugibt, geht nicht von ihrem terminus ad quem, dem erkannten oder geglaubten Gott und seinen Eigenschaften aus, sondern ausschließlich von ihrem terminus a quo, von dem Bedürfnis des Menschen, an die schließliche Vollendung und Harmonie der Wesenstendenzen in sich selbst zu glauben, von denen ihm empirisch nur zusammenhangslose Teile gegeben sind. – Es gibt freilich genug noch radikalere Hypothesen dieser Art: die Furcht soll die Götter gemacht haben, oder der mißleitete Kausaltrieb oder die Verehrung mächtiger Menschen. Allein alle diese deuten den Ursprung der wirklichen, historischen Religionen; Kant aber will nicht den Ursprung, sondern das Wesen, nicht ihre Wirklichkeit, sondern dasjenige, was menschlichen Motiven, jenen aber aus allzu menschlichen, an der Wirklichkeit vernünftig und haltbar ist, ergründen – wie seine Erkenntnistheorie nicht das wirkliche Vorstellen des Menschen, sondern das richtige Erkennen, seine Ethik nicht das wirkliche Handeln, sondern das sollende zum Gegenstand hat. Gewiß entspringt ihm die Religion, als ein Akzidenz der Sittlichkeit, aus bloß so daß ihre Deutung sie für illusionär und sinnlos erklären muß. Zu ihnen verhält sich auf dem Gebiet des Glaubens die Kantische Tendenz genau so, wie sie sich auf dem Gebiet der Wirklichkeitserkenntnis zu dem naiven oder metaphysischen Realismus verhielt. Hat man erst einmal die räumlichen Vorstellungen zu Dingen, unabhängig von unsrem Vorstellen, gemacht, so sind wir freilich niemals sicher, sie zu ergreifen und fallen notwendig in die Zweifelsfrage: ob sie denn überhaupt da wären, oder in die Verneinung ihrer Existenz. Und so hier: geht man, den Sinn der Religion suchend, von Gott aus, als einem jenseitigen und selbstgenugsamen Wesen, so findet man nur Irrwege, die zu ihm aufzustreben scheinen, das Suchen bleibt in der Subjektivität und dem ewigen Jenseits seiner befangen. Wie aber die Zuverlässigkeit unsres Erkennens sogleich begreiflich wird, wenn es, nach bestimmten Normen verlaufend, dadurch sein Objekt selbst bildet – so enthebt sich der religiöse Glaube der Subjektivität in jenem schlechten Sinn, in dem sie durch den Gegensatz zu einer doch ungreifbaren Objektivität leer und täuschend ist, zugunsten des andren, in dem der religiöse Prozeß nicht über sich hinausgreift, sondern sein Objekt selbst bildet. Gott ist, nach Kants Ausdrücken, ein »Postulat« und eine »Idee«, d. h. eine von unsrer Seele gebildete Voraussetzung, deren sie um gewisser in ihr lebender Forderungen willen bedarf. Besteht ein sittlicher Imperativ, so können wir uns nach Kants Überzeugung – die freilich keineswegs unbestreitbar und wohl von dem etwas mechanischen Gerechtigkeitsbegriff des 18. Jahrhunderts abhängig ist – keine Weltordnung denken, die der Sittlichkeit kein Glücksäquivalent zukommen ließe; welches Äquivalent nur außerhalb der Erfahrungswelt und durch eine göttliche Macht beschaffbar ist. Nun ist der sittliche Imperativ eine Tatsache, deren konsequente Fortsetzung also der Glaube an eine derartige Macht ist. Diese ist nichts als der Ausdruck dafür, daß unsere Bedürfnisse eine göttliche Instanz fordern und durch jene sittliche Tatsache zu dieser Forderung legitimiert werden. Damit ist keineswegs »die Existenz Gott bewiesen«, denn ein theoretischer Beweis einer Existenz würde immer die Möglichkeit sinnlicher Anschauung des Gegenstands voraussetzen und unabhängig davon sein müssen, ob dieser Gegenstand eine Beziehung zu unsren inneren Bedürfnissen hat oder nicht. Unter die Kategorie des Seins also gehört Gott darum nicht, sondern unter eine ganz eigenartige, die Kant hiermit aufstellt, und die sich zu den Bedürfnissen des Gemüts, als ihre Erfüllung und ihr Gegenstand, so verhält, wie die beweisbaren und realen Dinge zu den Funktionen des Verstandes. Mit dieser Wendung des Gottesbegriffs, die ihn und seine Gültigkeit zureichend aus unsren ethischen und gefühlsmäßigen Innerlichkeiten entwickelt, ist zugleich dem vorgebaut, daß die Belohnungen des Jenseits zu Motiven der Tugend würden. Denn dazu müßte man den Gott als eine Realität zu wissen meinen, um nun auf ihn hin sittlich zu handeln. Und dann wiederum würde das Handeln ja gar nicht sittlich sein, weil es nicht um der Pflicht, sondern um des Gewinnes willen geschähe. Die einzige Möglichkeit also, Gott als den Vereiniger von Tugend und Seligkeit zu setzen, ist tatsächlich die Kantische: daß nicht die Sittlichkeit um eines sonst bereits geglaubten Gottes willen sich verwirklicht, sondern daß sie, die rein um ihrer selbst willen geübt wird, um ihrer kosmischen Vollendung willen – Gott fordert. Diese Gültigkeitsidee der Gottesidee drückt Kant in einer, richtig verstanden, höchst bedeutsamen und schlagenden Weise aus: wir sollen so handeln, als ob es einen Gott gäbe. Denn so autonom, von allem »Glauben« unabhängig, die Motivierung des Sittlichen ist – sein Inhalt verläuft so, als ob es einen Gott gäbe, als ob wir diejenige höchste Seligkeit erreichen wollten, die ein absolut gerechtes, allmächtiges Wesen im Verhältnis des sittlichen Verdienstes austeilte; so daß der ganze Sinn der Religion ist, unsre Pflichten als göttliche Gebote anzusehen – sie sind nicht Pflichten, weil Gott sie gebietet, wozu er sozusagen vor ihnen da sein müßte, sondern Gott ist, weil die Versittlichung und die Seligkeit der Seele in ihrer absoluten Vollendung sich, wie Parallele, »im Unendlichen« treffen. So ist Gott – gleichsam die transzendente Bestätigung des »Würdigseins« – ein »regulatives Prinzip«, d. h. ein solches, das in der Richtung unsres Handelns über jede realisierbare Stufe hinausliegt, die innere Norm für den Verlauf dieses Handelns, die zu einem im ideellen Sinne außerhalb seiner gelegenen Gebilde kristallisiert ist. Konsequenterweise würde nun freilich auch eine Hölle erfordert; allein diese Konsequenz durfte Kant auf Grund seines zeitgeschichtlich-metaphysischen Optimismus ablehnen, für den das »eigentliche« Ich – also dasjenige, was nach dem Abstreifen unsrer sinnlich-irdischen Verkleidung in das ewige Schicksal eingeht – das Gute, Vernünftige, Wertvolle ist. –

Immerhin ist nicht zu verkennen, daß eine innere Verbindung zwischen Sittlichkeit und Glück auch mit diesem Gottesbegriff nicht geschaffen wird; denn so sehr die Gerechtigkeit, deren Verkörperung er ist, nun zwischen und über ihnen steht, so bringt Gott auch ihr gemäß das Zusammen jener beiden nur äußerlich, rein tatsächlich, sozusagen mit mechanischer Gewalt zustande. Es ist nicht zu verkennen und offenbart hier schon Kants innere Fremdheit gegen die eigensten, nicht aus irgendwelchen vorbestehenden Faktoren zu deduzierenden Tiefen des religiösen Wesens: wenn Gott keine andere Funktion übt, als die genaue Korrelation zwischen Tugend und Glückseligkeit zu realisieren, so ist er nur der Bedienende eines kosmischen moralischen Mechanismus, er ist absolut unschöpferisch. Ja, seine Existenz ist in tieferem Sinne macht- und wesenloser als die unsere, da wir doch wenigstens Herren über die eine Seite der Korrelation sind, während er nur ausführt, was in dem Gesetz der Sache selbst schon lückenlos präformiert ist. Vielleicht meinte Kant, das begriffliche Außereinander beider Elemente noch mittels seiner Durchführung in die göttliche Machtsphäre hinein erhärten zu sollen. Allein ich glaube, daß es dessen nicht bedurfte und daß zwischen ihrer empirischen Getrenntheit und einer Idee ihrer transzendenten Einheit kein Widerspruch besteht. Denn sehr wohl kann man sich den transzendenten Zustand, auch einen göttlich bewirkten, als eine einheitliche Vollendung denken, in der alle Energien der Seele, die moralischen und eudämonistischen ebenso wie alle andern, zu ihrer Absolutheit gelangt sind und in dieser Vollendung die Differenziertheit nicht mehr zeigen, die nur ihren niederen Graden eignet. In der Sphäre dieser Ideen wird man sagen dürfen, daß die himmlischen Gestalten so wenig nach Tugend und Glückseligkeit fragen, wie nach Mann und Weib. Indem das Ganze des Daseins schlechthin vollkommen geworden ist, sind alle Einzelheiten innerlich verbunden, weil auch die Einheit vollkommen ist, in der alle Unterschiede verschmolzen oder richtiger: verlöscht sind. –

Die Kantische Begründung des Gottesbegriffes von uns her ordnet sich also durchaus der Gesamtansicht seines Denkens ein: das Dasein, gemäß dem modernen Subjektivismus, durch die Produktivität der Seele zu erklären, ohne es doch subjektivistischer Willkür und irrationeller Zufälligkeit zu überantworten. Es handelt sich vielmehr für ihn darum, die ganze Bedeutsamkeit und Sicherheit, die den Begriff der Objektivität ausmacht, auf dieser neuen Basis des geistigen Prozesses als des schöpferischen Trägers der Welt zu bewahren, ja ihn auf dieser erst wirklich zu sichern. Es ist die religionsphilosophische Leistung Kants, daß er einerseits die Religion von ihrem Ausgangspunkt in der Menschenseele her erklärt, ohne Hineinmischung eines vom Transzendenten herkommenden Einflusses, der ohne seine Umsetzung in jene subjektive Aktion keine religiöse Bedeutung erlangen könnte (auch wenn er ohne jene eine metaphysische hätte); und daß er andrerseits dem inneren Vorgang der Religion einen festen Aggregatzustand und überindividuelle Geltung gibt, indem er ihn als die Konsequenz der Sittlichkeit mit ihren unerschütterlichen, allen Willkürlichkeiten des Subjekts entzogenen Geboten begreift. So verschwindet die Gefahr der individuellen Zufälligkeit und Laune, die nicht nur den rein seelischen Ursprung der Religion zu bedrohen schien und anderwärts auch wirklich bedroht, sondern die nicht weniger der scheinbaren Objektivität eines jeweiligen, von sich aus zu uns sprechenden Gesetzgebers anhaftet. Denn die Normen eines solchen würden für uns doch immer etwas Zufälliges und Willkürliches haben, ein Gesetzbuch, zu dem wir selbst nicht mitgewirkt haben und das wir seinem Prinzip nach nicht als von uns aus notwendig erkennen müßten. So enthüllt sich hier wie in der Erkenntnis- und in der Morallehre der Kantische Subjektivismus als die Deutung und Rettung der wahren Objektivität, nicht nur gegenüber dem haltlosen Schwanken der psychologischen Einzelerscheinung, sondern auch gegenüber jener vorgeblichen Objektivität, die die Inhalte der Seele aus der Seele selbst herausreißt, sie ihr in einer unerreichbaren Jenseitigkeit gegenüberstellt und diesen trügerischen Halt mit einem um so tieferen Sturz in den rohesten, aller Festigkeitswerte und überzufälligen Bedeutung beraubten Subjektivismus bezahlen muß.

Nun erhebt sich freilich die Tatsachenfrage, ob diese Religion ihrem Inhalte nach sich mit dem deckt, was man als religiöse Werte vorfindet. Denn mag es sich hier auch nicht um die Beschreibung, sondern um den Sinn der Wirklichkeit handeln, so doch um den Sinn der Wirklichkeit und nicht um den eines ad hoc konstruierten Gebildes. Und mir scheint, daß Kant in der Tat zwar eine wertvolle und tiefe seelisch-religiöse Möglichkeit deduziert hat, daß auch der Weg dieser Deduktion der wahre für Erkenntnis der Religion ist – daß er aber an dem Wesen der Religion, d. h. derjenigen Wirklichkeit, die nun einmal historisch diesen Namen trägt, vorbeigegangen ist. Der positive Grund ist sein auch hier hervorbrechender Intellektualismus. Schon der Titel seines Werkes: Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft – ist eine contradictio in adiecto, die Kants ganze Ahnungslosigkeit in bezug auf das Spezifische der religiösen Dinge zeigt. Denn Religion ist von vornherein (a priori!) etwas außerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. So entschieden er jeden theoretischen Beweis für das Dasein Gottes ablehnt, so soll uns doch nur die Überlegung, daß die Harmonie des vollendeten Glücks mit der vollendeten Sittlichkeit nur durch ein göttliches Wesen möglich sei, an dieses glauben lassen. Gewiß sind es unsere Bedürfnisse, die zu ihm hinaufführen, aber sie führen hier nicht ganz bis zu ihm, der entscheidende letzte Schritt ist ein theoretischer, durch den Gott überhaupt als ein Glaubensobjekt kreiert wird. Es fehlt völlig jenes Ergreifen des Göttlichen unmittelbar aus unsren Bedürfnissen heraus, das alle echte Religiosität charakterisiert. Vielmehr, wie seine Sittenlehre die Moral erst völlig jenseits der Intellektualität stellt, als eine Erscheinung eigenster Herkunft, um ihr dann, innerhalb dieser Selbständigkeit, in der Formel des kategorischen Imperativs doch die logisch-intellektuelle Spitze zu geben, so löst er auch die Religion ihren Ursprüngen nach von allem Theoretischen, um diese Ursprünge dann erst durch eine theoretische Überlegung zu der Idee Gottes auf- und zusammenzuführen. Etwas kraß ausgedrückt: die Religion ist ihm eine Summe theoretischer Schlüsse aus der Moralität.

Es sei in diesem Zusammenhange betont, wie sehr der Kantische »Primat der praktischen Vernunft« vor der theoretischen – die Legitimierung der theoretisch unerweislichen Ideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit aus sittlichen Bedürfnissen – in seiner Bedeutung für das Lebensbild übertrieben worden ist. Er heißt doch nichts, als daß die Wissenschaft ein paar Begriffe, mit denen sie selbst nichts anzufangen weiß, dem praktischen Bedürfnis zu gestalten überläßt und damit die Sicherheit gewinnt, daß dieses praktische Bedürfnis sich nie in ihre Angelegenheiten einmischt. Dies einen Primat der praktischen Vernunft zu nennen, war kein ganz glücklicher Ausdruck. Denn in dem Sinne, in dem jene die Ideen aufnimmt, nämlich nur als Gegenstände eines »praktischen Glaubens«, als Ausdrücke der praktisch anzustrebenden Vollendung von Mensch und Welt – in diesem Sinn macht die theoretische Vernunft gar keinen Anspruch auf sie, und deshalb kann ihr Verzicht darauf durchaus nicht als ein Primat, den sie der praktischen einräumt, bezeichnet werden. –

Am tiefsten aber wirkt Kants Intellektualismus darin, daß er überhaupt die Religiosität nicht als ein einheitliches Gebilde, als einen Trieb aus eigner Wurzel anerkennen mag. Das Wesen des Intellektualismus ist Analyse. Der Intellekt mag in seinen grundlegenden Einzelfunktionen, durch die er die Erkenntniswelt produziert, synthetisch verfahren, indem er die Elemente der Sinneseindrücke zu Gegenständen und Zusammenhängen formt. Der Intellektualismus aber, die individuelle Wesensrichtung, die am Verstande ihren Führer hat, geht auf Zerlegung, strebt nach Reduktion der Erscheinungen auf ihre Elemente und glaubt ihr Amt nicht vollendet, solange noch irgendein Sondergebilde dem widersteht. Deshalb hat der Intellektualismus stets eine innere Beziehung zu der mechanistischen Tendenz, die alle qualitativen Einzelheiten solange analysieren möchte, bis sie sich als bloße quantitative und formale Zusammensetzungen eines immer gleichen, an sich qualitätlosen Grundelementes zeigen. Gewiß ist Kant ein zu großer Denker, um sich der äußeren Schematik dieser Geistesrichtung bedingungslos zu ergeben, gewiß hält er aufs strengste darauf, daß es Grundelemente unsres Weltbildes gibt, die keine Zerlegung in schließlich gleichartige Bestandteile gestatten. Jedes dieser Grundelemente – der Naturmechanismus, die Moral, das ästhetische Gefühl –, auch wenn es durchaus nicht intellektuellen Wesens ist, gibt ihm doch ein klares, verstandesmäßiges Bild. Wo ihm dies aber versagt, weil er zu dem Gegenstand durchaus kein inneres Verhältnis hat, zerlegt er ihn um jeden Preis in die Grundelemente, die er anerkennt, wobei dann freilich statt des spezifischen Wesens, um das es sich handelt, etwas ganz anderes herauskommt. Der Religionsbegriff verliert bei dieser rationalistischen Zusammensetzung aus dem moralischen und dem Glücksinteresse sein Eigenstes und Tiefstes vollkommen. Gewiß sind auch jene beiden Begriffe für ihn wesentlich; aber gerade die Richtung, in der Kant sie verbindet: daß die Pflicht in Seligkeit mündet, ist die am wenigsten charakteristische und ist nur durch den Moralismus bestimmt, der das Glücksstreben nicht als ein wertbildendes Motiv anerkennt. Viel entscheidender für das Spezifische der Religion scheint mir die umgekehrte Richtung zu sein; sie ist gerade die ideale Macht, die dem Menschen den Gewinn seiner Seligkeit zur Pflicht macht – wie sie ihm das Übersinnliche sinnlich, das Sinnliche übersinnlich macht, was für Kant gleichfalls ein schlechthin Unannehmbares wäre. Für den Kantischen Moralismus hat jeder sein Glücksbedürfnis mit sich abzumachen, und dies in eine objektive, ideale Forderung aufzunehmen, würde er ebenso logisch wie wertmäßig a limine ablehnen. In Wirklichkeit aber fordert die Religion, daß der Mensch für sein eigenes Heil und Seligkeit sorge, und dies ist das Unvergleichliche ihrer Anziehungskraft und zugleich dasjenige, was einen großen Teil der Ketzerverfolgungen und gewaltsamen Bekehrungen irgendwie begreiflich macht. Das Wesenhafte der Religion aber, das weder in Moral noch in Glück aufgeht, die unmittelbare Hingabe des Gemüts an eine höhere Wirklichkeit, das Nehmen und Geben, die Einheit und Entzweiung, jenes in sich ganz Einheitliche des religiösen Zustandes, das wir nur durch eine Vielheit solcher gleichzeitig gültigen Antithesen sehr unvollkommen andeuten können – das zu kennen verrät Kant an keiner Stelle. Man kann mit ihm sozusagen über Religion nicht disputieren, weil ihm, der in dem bloßen Dualismus von Glück und Moral befangen blieb, die tiefsten und reinsten Erscheinungen, die ihre Geschichte bietet, offenbar psychologisch nicht zugängig waren. Was für Augustin und Franz von Assisi, für Zinzendorf und Novalis die Religion war, hätte er innerlich nicht nachbilden können, und wo er der Religiosität derartiger Typen sich nähert, macht er sie kurz und billig als »Schwärmerei« ab. Hier lag die Grenze seiner Natur nicht weniger als seines wissenschaftlich aufgeklärten Zeitbewußtseins. Seine merkwürdige Verständnislosigkeit für das religiöse Wesen bezeichnet eine Äußerung wie diese: der Geistliche brauche durchaus nicht an die Lehre selbst zu glauben, die er von der Kanzel herab verkündigt. Freilich dürfe er sie nicht positiv für falsch halten, denn damit würde er eine Lüge begehen. Aber er sei doch nur angestellt, diese Lehre zu predigen, sein inneres Verhältnis dazu sei seine Privatsache. Es bedarf keiner Verdeutlichung, wie hier die religiösen Werte, ohne die geringste Empfindung für ihr spezifisches Wesen, restlos der rationalistisch-moralischen Norm eingeordnet sind: der Beamte hat eben die aufgetragene Pflicht zu erfüllen, innerlich muß er die Freiheit haben, darüber zu denken, wie er will – er sagt bezeichnend: »als Gelehrter« dürfe er über die Dogmen ganz andre Meinungen haben, ja, äußern –, ausschließlich unter dem Vorbehalt, daß er mit der Verkündigung von der Kanzel keine Lüge begeht; wozu ersichtlich genügt, daß er das, was er verkündet, nicht für unmöglich hält – für wirklich braucht er es nicht zu halten. Dies ist nicht einmal logisch richtig, denn wenn er, wie es in der Predigt geschieht, dasjenige als unbezweifelte Wirklichkeit verkündet, was er für bloß möglich hält, so ist die reinliche gegenseitige Unabhängigkeit der beiden Funktionen nicht bewahrt, sondern in solchem Ausüben der einen lügt er. Und nicht nur dies, sondern er kann überhaupt unter diesen Umständen die ihm »als Beamten« aufgetragene Funktion in der bei seiner Anstellung vorausgesetzten Beschaffenheit gar nicht ausüben: denn was würde das für eine Qualität der Predigt sein, an deren Inhalt der Prediger selbst nicht glaubt? Und es gibt kein ärgeres Mißverständnis des religiösen Glaubens, als in Kants Absicht, »das Wissen aufzuheben, um für den Glauben Platz zu bekommen«, diesen also beginnen zu lassen, »wo das Wissen aufhört«. Wiederum verrät der raumsymbolische Ausdruck die mechanistisch-intellektualistische Gesinnung: als wäre mit der begrifflichen Scheidung nach Gegenständen die Problematik im Erleben dieser Gegenstände aufgehoben! Als wäre der religiöse Glaube nicht ein seelisches Verhältnis zu all den Dingen, die vielleicht auch dem Wissen zugängig sind! Als würde nicht auch das Wissen von ihm sowohl umfaßt wie durchdrungen! Man hat mehr als einmal behauptet, daß Kant mit der Einfügung der religiösen Begriffe in sein System eine unwürdige Konzession gemacht, daß er die Wissenschaft und die Aufrichtigkeit den religiösen Ansprüchen geopfert habe. Mir scheint es genau umgekehrt: er hat die Religion mit ihrem Eigensten und Wesentlichen dem Moralismus und dem rationalistischen Denken seiner Zeit geopfert. –

Damit jenes Höchste, was wir uns denken können, die Einheit vollendeter Sittlichkeit mit vollendeter Glückseligkeit, für eine göttliche Macht herstellbar sei, bedarf es eines Weiteren, das bisher wie selbstverständlich mit vorausgesetzt wurde: der Unsterblichkeit der Seele. In der Art, wie Kant diese deduziert, wird die Beziehung zu jenem Zustand der Seligkeit eigentlich aufgegeben, und es bleibt eine nur moralphilosophische Metaphysik, die, weil sie ganz unabhängig von religiösen Velleitäten ist, unleugbar größer und sozusagen stilvoller ist als die Postulierung Gottes. Das moralische Gesetz fordert, daß der Wille ihm absolut angemessen sei. Dazu aber ist ein Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkt seines Daseins fähig. Dennoch, da es sittlich gefordert wird, muß es auch möglich sein. So bleibt nur eine Form, in der dieses sich Ausschließende sich dennoch vereinigt: der ins Unendliche gehende Fortschritt der Seele zu ihrer Vollendung. Jeder gegebene Augenblick sieht jene absolute Forderung noch unerfüllt; aber der nächste kann sich ihr mehr nähern, und so wird die tatsächliche Unerfüllbarkeit unsrer sittlichen Bestimmung durch eine stetig sich vollziehende Annäherung an sie überwunden. Dazu ist freilich die Unsterblichkeit erfordert, aber diese ist nur eine Art äußerlicher, formaler Bedingung, kaum anders als die Unendlichkeit der Zeit, deren es auch zu dieser Entwicklung bedarf; es fehlt ihr ganz die Eigenbedeutung, mit der das Leben über den Tod hinaus sonst schon an und für sich ausgestattet wird. Sie ist eigentlich nur der Ausdruck dafür, daß an ein endliches Wesen eine unendliche Forderung gestellt wird. Soll diese nicht als sinnlos verneint werden – womit die Seele sich selbst verneinen würde, weil für die Kantische Wertbildung diese Forderung ihr eignes, eigentliches Wesen ausmacht – so ist ihre Fortdauer über das Irdische hinaus der einzige für uns erdenkbare Träger jener Entwicklung, die zwar ihren abschließenden Punkt nie erreicht, aber über jeden vorher gelegenen hinausgeht. Wie Goethe die Unsterblichkeit fordert, weil die Anlagen seiner Natur sich im Erdenleben nicht völlig entwickeln könnten, die Natur also verpflichtet wäre, ihm dazu eine weitere Form anzuweisen – so ist sie auch für Kant nur die Schale und die extensive Ausgestaltung des rein intensiven, rein inhaltlich bestimmten Verhältnisses des Menschen zu seiner sittlichen Aufgabe. Das Pfand dafür, daß dieses Verhältnis nicht ewig in ein hoffnungsloses Gegenüber gebannt sei, finde der Mensch ausschließlich in dem Bewußtsein, schon in diesem Leben zum Guten vorgeschritten zu sein, ihm am Ende des Lebens näher zu stehen als vorher (was mir übrigens empirisch keineswegs der typische Fall zu sein scheint); daraus ergebe sich die Hoffnung, daß dies die erste Strecke jenes Weges ist, der ins Unendliche weiterführt. Sehr schön sagt Kant auf diesem Höhepunkt seiner ethischen Spekulation, ein göttliches Wesen, dessen Anschauung nicht an die Bedingung der Zeit gebunden ist, sähe in dieser für uns endlosen Entwicklungsreihe die eine Tatsache des Gehorsams gegen das moralische Gesetz. Für Kant realisiert sich der vernünftige, alle Möglichkeiten unsrer Anlagen erschöpfende Sinn der historischen menschlichen Existenz nicht im Individuum, sondern nur in der Unendlichkeit der Gattungsentwicklung. Und so ist die unendliche Reihe individueller Handlungen, die in aller ihrer Unvollkommenheit doch die eine Tendenz auf das Ideal haben – sie ist nichts als die in unsrer Anschauung ausgedrückte, d. h. in die Entwicklungsform der Zeit distrahierte einheitliche Wirklichkeit der sittlichen Seele. Vielleicht ist die Unsterblichkeit niemals edler begründet worden, niemals ferner von dem gemeinen Immer-weiterleben-wollen. Für Goethe ist die Vernichtung vor der inneren Vollendung des Daseins ein Widerspruch der Natur gegen sich selbst: hat sie uns nun einmal Anlagen und Möglichkeiten verliehen, so darf sie die Bedingungen ihrer Entwicklung nicht versagen. Kant sieht in eben dem den Widerspruch der menschlichen Wirklichkeit gegen die ideale Forderung, der zugleich ein Widerspruch des Menschen gegen sein innerstes, echtestes Selbst ist, weil in dieser Forderung der Kern unsres Wesens sich unsrer Erscheinung in ihrer Unvollkommenheit gegenüberstellt. Liegt hierin einerseits ein logisches Motiv, das dann ein französischer Religionsphilosoph ganz rein herausgearbeitet hat: es bedürfe der Unsterblichkeit, weil das irdische Leben keinen »reinen Begriff« gäbe – so doch andrerseits die tiefe Redlichkeit, die meint, nicht aus dem Leben gehen zu dürfen, ehe sie jede Schuldforderung beglichen hat – in der Empfindung, daß in einer solchen nicht nur der Anspruch eines andren, sondern viel mehr noch ein Anspruch ihrer selbst an sich selbst lebt.

Indem Gott und Unsterblichkeit eigentlich nur Symbole dafür sind, daß die Forderungen, die der sittliche Mensch an sich selbst und die er an die Ordnung der Dinge stellt, nur im Unendlichen realisierbar sind – ist Kant der Frage enthoben, wie diese Ideen denn mit den Grundsätzen unsres realen Weltbildes vereinbar wären. Denn da sie gerade die Unzulänglichkeit des Wirklichen bezeichnen, so greifen sie in dieses in keiner Weise ein und brauchen deshalb vor seinen Gesetzen keine Rechenschaft abzulegen. Anders aber steht es mit dem, was für Kant das dritte Postulat der praktischen Vernunft ist: mit der Freiheit des Willens. Denn während die Sittlichkeit in jene nur ausläuft, beginnt sie mit dieser, und während jene die empirische Wirklichkeit ganz ungestört lassen, setzt diese sich in den entschiedensten Widerspruch zu ihr, indem sie das Kausalgesetz zu verneinen scheint. Hier liegt demnach der Punkt, in dem die Probleme der praktischen Philosophie sich mit denen der theoretischen kreuzen. Seine Erörterung wird deshalb die Darstellung beider um so geeigneter abschließen, als es scheint, als habe Kant selbst in seiner Lösung des Freiheitsproblems den Mittelpunkt seiner Gesamtleistung erblickt.



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