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16. Kapitel. Bragis Tod.

Am nächsten Tag ging Herr von Tracht zur frühen Nachmittagsstunde allein in den Wald. Um diese Zeit ruhte er sonst. Heute trieb ihn die Sorge und Unruhe hinaus in die Stille. Doch im Walde war es auch lauter als sonst um diese Stunde, und selbst das Lied der Waldseele wurde mitunter übertönt durch das vielerlei Schreien, Zwitschern und Zirpen der Vögel, durch das Raunen und Rauschen der hohen Bäume. Die Raben ruhten nicht nach ihrem langen Fluge, hierhin und dahin flatterten sie, die Krähen krächzten laut, denn es bekümmerte sie, daß sie bei dem Fluge nicht hatten dabei sein dürfen. Sie ärgerten sich auch alle über die Huckebeine, die sich vor Stolz über ihr vornehmes Geschlecht noch mehr denn je aufplusterten.

Nur Bragi saß schweigend auf seiner Eiche im stillen Tälchen. Über dem glänzte der Himmel saphirblau, die Sonne liebkoste jedes Blatt, jeden seinen Grashalm, und die Schmetterlinge hielten wieder einmal heitere Zwiesprache mit den Blumen des Tälchens. Bragi sah nichts von der heiteren Schönheit des Sommertages, er saß aus dem untersten Ast der Eiche, dort saß er, seit er von dem großen Fluge zurückgekehrt war. Muna, die Gute, hatte ihm Speise gebracht, doch er hatte nichts angerührt, ihre Fragen blieben unbeantwortet und als Muna Bragi so unbeweglich sah, da dachte sie in ihrem Herzen: Bragi wird sterben. Es ist wohl ein schlimmes Schicksal, das dem Lande droht. Und dann flog sie zu Rara und Kara und die drei stimmten leise ein uraltes Lied an, das nur sie kannten. Muna hatte es den Schwestern gelehrt:

»Wehe, wir Raben,
Schweres Schicksal wir tragen.
Wir sehen,
Wir hören
Was noch verborgen
Blieb den Blicken
Der mächtigen Menschen.
Wehe uns, wehe!
Schicksalsvögel wir sind.
Wollen wir weise warnen,
Schelten schrill unsere Stimmen
Die törichten Menschen.
Wehe uns, wehe!«

Hörte Bragi das Lied?

Er rührte sich nicht, auch als der Herr des Waldes in das Tälchen kam, blieb er sitzen. Der trat zu ihm heran, strich sacht über das schwarze Gefieder und sagte halblaut: »mir ist's als wären wir zwei alte Bekannte.« Da sah ihn Bragi an und Herr von Tracht erstaunte über den klugen Blick des alten Vogels. Er setzte sich auf die Steine, neben der Eiche, da war sein Kopf neben dem Bragis und unverwandt hielt der seinen Blick auf ihn gerichtet. »Du siehst mich an, als wüßtest du, was vorgeht in der Welt,« murmelte er. »Sag' es mir, flogst du gestern über meine Burg, weißt du, was dem Lande droht?«

»Wie seltsam klingt Bragis Stimme!« rief Rara ihrem Manne zu. Sie beugte sich weit aus dem Nest, aber was Bragi da unten krächzte, verstand sie nicht. Verstand es denn der Herr des Waldes?

Der saß auf den Trümmern des Hauses, das einst seinen Vorfahren Schutz in schwerer Not geboten hatte, und er lauschte der Stimme neben sich. Was war es, das Bragi dem alten Herrn erzählte?

Von Gunnar und Segimer kündete er, wie einst die neue Lehre den alten Glauben überwunden hatte. Kannte denn der Burgherr die alte Sage noch nicht? Er kannte sie wohl, aber es war ihm doch, als höre er sie zum ersten Male. Den Pflegesohn hatte Gunnar verstoßen und hatte ihm dann doch das andere Denken verziehen.

Andere Zeiten, andere Gedanken. Herr von Tracht dachte an den Pflegesohn Christian, der kein Soldat, der ein Kaufmann hatte werden wollen, und der manches veraltet genannt, was sein Pflegevater hochhielt. Und wie er nach darüber nachsann, begann Bragi von Herrn Reinmar am Bühl zu erzählen. Ja, kannte denn der Herr der Burg nicht ihrer Gründung Geschichte? Doch, er kannte sie wohl, aber er hatte lange nicht an Herrn Reinmar gedacht, an sein tapferes Wiederaufbauen.

Wie viel wußte doch Bragi. Er kannte auch die Geschichte der Flüchtlinge, die in diesem Tal vor den Feinden sich verborgen hatten. Er kannte sie so gut wie Herr von Tracht selbst und der dachte: sonderbar ist es doch, daß mir der Rabe alle die alten Geschichten erzählt, es ist beinahe, als ob er mich mahnen wollte, den Mut nicht zu verlieren. Vielleicht weiß er auch von den goldenen Ringen, die meine Urgroßeltern Anno 1813 dem Vaterlande opferten, damals als sieben Jahre Fremdherrschaft über dem Lande lag. Und er dachte an die Briefe der Urgroßmutter, die er besaß und in denen immer wieder zu lesen stand: »Wir harren aus, wir verlieren den Mut nicht, unser Vaterland kann nicht untergehen.«

»Du alter Gesell,« rief er plötzlich, »mit siebzehn Jahren zog ich 1870 hinaus, ich focht bei Sedan mit und ich weiß – wir werden wieder siegen!«

Es ging ein Schauer durch den Wald, so laut und weh gellte Bragis Stimme. Die Raben erschraken, was verkündete ihnen Bragi »der Weise«. Seltsam war es, sie hörten ihn alle rufen, es verstand aber keiner seine Sprache. Nur einer hörte, was Bragi redete, das war der Herr des Waldes und der saß gebeugt auf den Steinen, saß da, als brause ein ungeheures Wetter über ihn hinweg.

Um diese Nachmittagsstunde ging einer auf dem stillen Waldweg, den vor einem Jahr Dieter und Gundula gegangen waren, der Rabenburg zu. Doch als er die vor sich auftauchen sah, schlug er einen Seitenweg ein, und als er es tat, schalt er sich selbst feige. Er wußte doch, er mußte auf die Burg gehen, aber trotzdem schritt er erst in den schmalen Zickzackpfad ein, der zu dem stillen Tälchen führte. Wer dem goldete der Abendsonne Schein, als er es betrat und als er so aus dem Dämmer des Waldes heraustrat, blendete ihn erst das klare Licht. Er blieb stehen und sah in das Tälchen hinein, da sah er unter der ältesten Eiche jemand sitzen, den er suchte und dem zu begegnen er doch bangte.

Herr von Tracht wußte gar nicht, wie viele Stunden er im stillen Tal der Flüchtlinge gesessen und Bragi gelauscht hatte. Oder hatte der gar nicht gesprochen? Hätte er vielleicht nur von all den alten Geschichten und der schweren Zukunft geträumt?

Der fremde Schritt schreckte den Waldherrn auf, er rieb sich die Augen und er mußte sich erst besinnen, wo er eigentlich war. Da sah er einen Fremden nicht weit von sich stehen, dessen Gesicht war überflutet vom Schein der Abendsonne und Herr von Tracht mußte plötzlich denken, so stand wohl einst Segimer der Abtrünnige, vor seinem Pflegevater.

»Christian,« rief er, »kommst du – endlich wieder!«

»Vater!« Da kniete Christian von Tracht neben seinem Pflegevater unter der alten Eiche und der blickte ihn ohne Zorn milde an. »Ich habe auf dich gewartet,« sagte er. »Ich dachte, jetzt müßtest du kommen, jetzt, wo es vielleicht Krieg gibt.«

»Nicht nur vielleicht – es ist entschieden, Vater. Ich war in England, da spürte ich es und kam noch zur rechten Zeit heim.«

»Und willst du mit in den Krieg ziehen?«

»Ja, Vater!«

»Und wolltest doch immer kein Soldat sein?«

»Ich denke noch so, Vater, aber ich kenne meine Pflicht. Deutschland in Not, da fehlt kein ehrlicher Mann!«

Herr von Tracht sagte nichts, er hielt nur des Pflegesohns Hand fest umschlungen und er dachte an die Tage, die nun kommen würden, ernste, trübe, schwere Tage. Hatte er nicht vorhin eine Stimme neben sich über Deutschlands Schicksal klagen hören? Er sah sich um, wo war der Rabe hingekommen? Der saß nicht mehr auf dem Ast, aber da bückte sich Christian von Tracht plötzlich und hob einen schwarzen Vogel auf. »Ein toter Rabe liegt hier,« sagte er, »er ist noch ganz warm, er muß eben gestorben sein!«

Bragi, der Weise, war tot.

»Ein Schicksalsvogel!« Herr von Tracht nahm den toten Bragi sacht dem Sohne aus der Hand, er streichelte das schwarze Gefieder, fühlte, ob nicht noch Leben in ihm wäre. Aber Bragis kleines tapferes Herz war gebrochen.

»Willst du ihn mitnehmen und ausstopfen lassen?« fragte Christian.

Sein Pflegevater schüttelte den Kopf. »Er soll hier in dem Walde ruhen, wo er gelebt hat.« Und mit der scharfen Spitze seines Stockes warf Herr von Tracht etwas Erde auf, er legte Bragi in die kleine Grube, warf die Erde wieder darüber, dann hob er einen großen Stein auf und deckte ihn darüber, daneben steckte er einen Eichenzweig. »Nun ruht er in einem Hünengrabs wie die alten Helden der Vorzeit,« sagte er nachdenklich.

Miteinander verließen die beiden Männer das Tal der Flüchtlinge, ihnen nach tönte lautes klagendes Geschrei. Die Raben flogen alle zusammen, »Bragi ist tot, Bragi ist tot,« gellte ihr Klageruf durch den Wald. Und auf der Eiche, unter der Bragi begraben lag, sammelten sich die schwarzen Vögel und bis tief in den sinkenden Abend hinein klagten sie um den weisesten ihres Geschlechtes.

Das Klagerufen tönte den beiden Männern nach, die durch den Wald heimwärts schritten. Sie achteten nicht darauf, sie redeten von kommenden Tagen und ihrer Schwere. Am Burgtor blieb Herr von Tracht stehen. »Geh du voran zur Mutter,« sagte er zu dem Pflegesohn, »seitdem sie dich im Walde hat singen hören, wartet sie Tag um Tag auf dich.«

Da ging Christian von Tracht zu der gütigen Frau, die ihm Mutter gewesen war, und Frau Susanne nahm ihn an ihr Herz wie einst. Justus kam herbei, die Kinder drängten sich halb scheu, halb froh hinzu und eine Weile sang die Freude laut auf der Rabenburg.

Der Burgherr aber stand draußen vor dem Tor und las wieder den alten Spruch des frommen Ahnherren:

»In Trübsal und in Not,
Im Leben und im Tod
Verlaß uns nicht. HERR GOTT!«

wiederholte er andächtig.

Da tönte ein Klingen und Brausen von Untersberg herauf. Glockenklänge schwangen durch die Luft. Ernst, tief hallte und dröhnte es. über Deutschland war der Krieg hereingebrochen.


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