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12. Kapitel. Jahreswende.

Wie sind oft Tage so lang, so köstlich jede ihrer Stunden und wie schnell laufen sie doch davon!

Da war Kirmes in Untersberg und im Handumdrehen war sie auch schon vorbei und Purzel sagte: »Nächstes Jahr, wenn's nur erst wär' ich freue mich schon drauf.« Man dachte an die Apfelernte und da war sie bereits gewesen, die Bäume waren leer. Daß es nun Zeit sei, die Kartoffeln einzubringen, sagten die Bauern, und schon schwelte der Rauch des verbrannten Kartoffelkrautes über die Felder dahin, Kartoffeln wurden drin gebraten und Dieter und Gundula aßen die zum erstenmal in ihrem Leben und sie fanden, nichts Besseres könnte es geben.

»Man muß sich auf den Winter einrichten,« meinte Frau Huckebein und da riß auch schon der Sturm die letzten Blätter von den Bäumen und Dieter und Gundula raschelten vergnügt in dem trockenen Laube, wenn sie spazierengingen. Ehe sie es aber noch recht gemerkt hatten, fiel schon der erste Schnee und die Huckebeinin warf ihn zornig aus dem Nest und seufzte: »Da haben wir die Bescherung, nun fängt das dumme Geschneie wieder an. Wir hätten auch südwärts reisen sollen wie die Schwalben, so ein Winter ist gräßlich.«

Doch die Kinder jauchzten: »Schnee, Schnee!« und auf der Untersberger Dorfstraße wurde mit viel Geschrei und Gelächter die erste Schneeballschlacht geschlagen. Auf dem Burghof stand eines Tages ein kleiner grüner Schlitten, Justus hatte ihn vom Boden geholt, hatte ihn frisch angestrichen und Frau Susanne hatte trübe dazu gelächelt. Auf diesem Schlitten war einst ihr Pflegesohn Christian den Berg hinabgefahren, so froh, wie jetzt Dieter und Gundula, die mit Hallo und Hussa über den Burghof sausten. Als sie wieder an der Tante vorbeikamen und ihr glücklich erzählten, der Schlitten sei wundervoll, sagte Gundula: »Tantlein, dir sind Schneeflocken ins Gesicht geflogen, du hast lauter Tropfen auf der Backe.«

Frau Susanne wischte die Tropfen ab, daß es Tränen waren, brauchte niemand zu wissen.

Kaum war der erste Schnee gefallen, da schaute auch schon das Weihnachtsfest um die Ecke, es nickte und winkte, raschelte mit Schaumgold, klirrte mit glitzernden Kugeln und Sternen und lächelte die Kinder aus milden Augen an. Es begann nach Tannen zu riechen, nach Wachskerzen, Pfefferkuchen und Weihnachtsstollen und auf einmal war man mitten drin in einer strahlenden, glückseligen Festfreude. Weihnachtslieder durchtönten die Burg und rauschten hinaus in den winterstillen, weißen Wald.

Und – husch vorbei! Weihnachten war gewesen und das alte Jahr, das sich 1913 genannt hatte, wollte zur Ruhe gehen, über Nacht kam ein neues Jahr, was würde es bringen?

Silvester im Walde! Wer weiß etwas davon in einer lauten, großen Stadt, wie schön das ist!

Am Nachmittag ging Herr von Tracht mit den Kindern in das stille Tal, diesmal kam auch Frau Susanne mit. Es hatte stark geschneit in den letzten Tagen des alten Jahres und alle die großen alten Tannen hatten sich weiße Spitzengewänder über ihre dunkelgrünen Kleider gezogen. Und eine weiße Samtdecke, ein Königsmantel, war über den Boden gebreitet.

Die Waldseele sang ihr Winterlied. Die Burgbewohner hörten es, vor ihnen floh die Waldseele ja nicht, sie hörten das Lied, still war es und ernst, aber nicht traurig. Von ruhendem Schlaf im Erdenschoß sang die Waldseele und vom Auferstehen in kommender Frühlingslust. Es war ein Lied der Hoffnung.

Die Raben schrien an diesem Tage laut über dem Walde. Von da und dort kamen ihre Stimmen, Flügelschlag rauschte und als die Wanderer das stille Tal erreicht hatten, sahen sie auf den alten Eichen eine ganze Schar der dunklen Vögel sitzen.

»Ratsversammlung,« sagte Herr von Tracht, und Gundula rief in neugieriger Sehnsucht: »Hörte ich doch, was sie miteinander reden!«

Die Menschen wußten nicht, daß die Raben alle zu Bragi gekommen waren, um von ihm zu hören, was er von dem neuen Jahr für einen Spruch zu sagen hatte, denn es ging die Sage unter ihnen, Bragi könne in die Zukunft schauen.

Doch Bragi war an diesem Tage wortkarger denn je, stumm hockte er auf seinem Ast und er gab keine Antwort.

»Er schläft mal wieder, der Alte,« zürnten Hugi und Hogi. Doch Muna verwies ihnen die Rede streng. »Er schläft nicht, seht ihn doch an, hellwach ist er. Aber wißt, es ist ein schlimmes Zeichen, wenn Bragi, der Weise, dem Neuen Jahr kein Wort zu sagen weiß.«

Von dem Zwiegespräch hörten die Menschen nichts, sie durchschritten das stille Tal und schlugen den Weg ein, der zur Elfenhöhle führte. Ein Specht klopfte eine Tanne ab und sein Klopfen tönte laut durch die Stille.

»Holzfäller,« rief Dieter erschrocken.

»Noch nicht, erst ist es ein Specht – aber –« Herr von Tracht brach ab und ein Schatten lief über sein Gesicht, ein tiefer Schatten, doch gleich sprach er von etwas anderem, von den Wandervögeln, die sie im Sommer hier getroffen hatten. »Nun sitzen sie vielleicht hinter dem Ofen,« spottete er, »und wissen nichts von der Schönheit eines Winterwaldes.«

»O nein,« verteidigten die Kinder ihre Sommerfreunde, »sie haben doch neulich geschrieben, sie würden wieder wandern und vielleicht kommen sie an der Rabenburg vorbei.«

»Na ja, wenn sie gescheit sind, tun sie es.« Er lauschte in den Wald hinein, ein Ton durchdrang dessen Stille, es raschelte und knisterte und auf einmal kam ein Singen durch den Wald, fern und doch deutlich vernehmbar:

»O Täler weit, o Höhen,
O schöner, weißer Wald
Du meiner Lust und Wehen,
Andächtiger Aufenthalt.«

Eine schöne klare Männerstimme war es, die sang; wie ein Gebet so feierlich und andächtig tönte das Lied. Die vier Wanderer waren stehengeblieben, um keinen Ton zu verlieren, von dem Sänger selbst war nichts zu sehen, man hörte auch kein Rascheln und Schreiten mehr. Selbst die Raben waren verstummt, es war, als lausche der ganze Wald dem Liede.

»Da steht im Wald geschrieben
Ein stilles, ernstes Wort
Von rechtem Tun und Lieben
Und was des Menschen Hort.
Ich habe treu gelesen
Die Worte schlicht und wahr –«

Hier brach die Stimme plötzlich ab, schon die letzten Worte hatten so seltsam geschwankt, als könne der Sänger nicht weitersingen. »Dem ist das Herz schwer,« murmelte Frau Susanne und ein tiefes warmes Mitleid erfüllte sie.

»Bald werd' ich dich verlassen,
Fremd in die Fremde gehn,«

hub die Stimme wieder an, sie brach aber wieder ab und Gundula flüsterte, sich an die Tante schmiegend: »Der weint!«

Es war jemand im stillen Tal, »ein verlaufener Wandervogel wohl,« meinte Herr von Tracht.

»Das war kein lustiger Wandervogel,« Frau Susanne sagte es wehmütig, »das war einer, der in Trauer durch den Wald ging.«

»Vielleicht fängt er noch einmal an.« Gundula wagte es kaum zu flüstern. Wunderbar geheimnisvoll erschien ihr dies Singen im winterlichen Walde. Sie lauschten alle vier, doch es blieb still, nur ganz leise rieselte Schnee von ein paar hohen Tannen herab, obgleich die wie erstarrt standen und kein Windhauch den Wald durchzog.

Jetzt erhoben auch die Raben wieder ihre Stimmen, aber nicht so laut mehr als vorher. Dann raschelte und knisterte es wieder und über den Weg, der von der Höhe herab kam, lief ein Reh. Unbeweglich stand es eine Weile und sah mit seinen schönen braunen Augen nachdenklich die Menschen an, als wollte es fragen: »Kann ich euch vertrauen?« Dann sprang es eilig weiter, und ein paar Augenblicke später kam ein zweites, ein drittes, ein ganzes Rudel war es. Nun Hub auch wieder der Specht zu klopfen an, poch, poch, poch!

Da gingen die Wanderer weiter und erreichten bald die Elfenhöhle. Eine weite weiße Fläche dehnte sich die Wiese vor ihnen, drüben der Wald, die ansteigenden Berge, alles war in einen zarten grauen Dunst gehüllt, darüber stand am blassen Winterhimmel die seine Sichel des zunehmenden Mondes. Sie glänzte noch nicht, sie glich mehr einem mattsilbernen Wölkchen, aber sie redete doch schon von des Tages Ende und Herr von Tracht schlug den Heimweg ein. Als sie die Burg wieder erreichten, war der Himmel schon dunkel geworden, der Mond glänzte nun und er hatte im unermeßlichen Luftraum des Himmels einen leuchtenden Gefährten bekommen, ein Stern strahlte in ruhevoller, schimmernder Schönheit neben ihm.

Dieser eine Stern bekam viele, viele Gefährten in der Nacht, da ein neues Jahr anbrach. Ein Weilchen sahen Dieter und Gundula noch zu der himmlischen Pracht empor und sie redeten davon, daß sie noch wach sein wollten, wenn die Glocke in Untersberg das neue Jahr einläutete, aber dann schliefen sie doch länger und kein Glockenton weckte sie.

Herr von Tracht und seine Frau wachten und sie sprachen von ernsten Dingen. »Es hilft nichts,« sagte der Burgherr, »ich muß im Wald Holz verkaufen, muß unserem Vetter helfen.«

»Wald verkaufen, deinen Wald verkaufen!« Der Frau rannen die Tränen über das Gesicht. Der, dem ihr Mann helfen wollte, war ein Verwandter von ihr, einer, der unverschuldet ins Unglück gekommen war. Und doch, so gern sie ihm geholfen hätte, sie sagte: »Deinen Wald, nein, nein, wir wollen überlegen, es findet sich schon ein Ausweg.«

»Weine nicht, Sanna, Liebste du. Ich bin ganz ruhig. Hätten wir die Kinder nicht zu uns genommen, dann würde ich etwas Geld aufnehmen, es wäre leicht, aber denen will ich einst das Gut unverschuldet überlassen und unser Leben kostet jetzt mehr. Herr Specht gibt mir wohl einen guten Preis, wir haben dann keine Sorgen.« Herr von Tracht lächelte sogar, er wollte seiner Frau nicht zeigen, wie bitter schwer ihm der Entschluß wurde. »Wald wächst wieder,« meinte er ganz heiter, »und die Kinder wachsen auch, so wachsen Bäume und Kinder zusammen empor zu unserer Freude.«

Frau Susanne ging auf das Gespräch ein, denn auch sie wollte dem Manne das Herz nicht schwer machen. Wie sie noch sprachen und darüber die Zeit vergaßen, tat sich die Türe auf und Justus trat herein mit Gläsern, in denen Punsch dampfte. »Es ist zwölf,« sagte er feierlich. »Gott segne das Neue Jahr!«

Die drei alten Leute stießen miteinander an und sie redeten auch wieder von den Kindern und Justus sagte, wohl zum tausendsten Male seit die Geschwister auf der Rabenburg waren: »es ist ein Glück, sie passen hierher. Ja, ja, ein Glück, ein rechtes Glück!« Er schlurfte vergnügt mit seinem Punschglas in der Hand nach der Türe, der Gedanke an die Kinder hatte ihn in die allerbeste Laune versetzt.

Da rief ihm Herr von Tracht noch nach: »Ist heute kein Fremder hier gewesen, ich möchte doch wissen, wer der Sänger im Walde war.«

»Wer soll's gewesen sein, so'n Wandervogel,« brummte Justus und er lief mit einem so bösen Gesicht hinaus, als hätte ihm der unbekannte Sänger den größten Ärger bereitet. Vor der Türe aber blieb der Alte tief aufatmend stehen und ganz leise sagte er zu sich: »Das war der Herr Christian. Alleweil ist das sein Lieblingslied gewesen, den treibt die Sehnsucht zurück. Ja, ja, er kommt schon noch mal, Geduld überwindet Buttermilch, er kommt sicher wieder.«

»Und nun heißt das Jahr 1914,« sagte Dieter am Morgen, er reckte und streckte sich und er sah dem neuen Jahr so freundlich entgegen wie einem lieben Kameraden, auch Gundula grüßte es herzensfroh, nach ihren Gedanken hätte das Neue Jahr einem sonnigen Sonntag gleich sein müssen.

Als die Burgbewohner vom Kirchgange zurückkehrten und am Tore anlangten, stand dort Justus und begrüßte sie mit jammervoller Miene. »Der Herr Specht ist da,« flüsterte er und sah seinen Herrn bang an. Was wollte der Holzhändler auf der Burg, was hatte der bei seinem Herrn zu schaffen?

»Es ist gut.« Das Gesicht des Burgherrn verfinsterte sich, Frau Susanne wurde blaß und da merkten auch die Kinder, es gab Kummer am ersten Tag im neuen Jahr. Was es sein konnte, sagte ihnen Justus nachher, als er wieder aus dem Schlosse trat. Sie standen alle drei auf dem Schloßhof so trübselig, als lägen schon alle Bäume des Waldes gefällt, zu Klaftern aufgeschichtet da.

»Herr Specht ist schlecht!« schluchzte Gundula, »ich kann ihn nicht leiden.«

Dieters Augen blitzten zornig, auch er hatte vergessen, wie freundlich der dicke Holzhändler ihnen im Sommer begegnet war. Sie hatten ihn seitdem nicht wieder gesehen, nun schalten sie mit Justus um die Wette auf ihn. »Hätte ich ihn nur gar nicht hereingelassen, das Tor gleich zugemacht,« klagte der Alte; er tat, als ob das seinem Herrn etwas genützt hätte.

Unterdessen stand oben der Holzhändler vor dem Burgherrn, der ihn selbst bestellt hatte und ließ sich erklären, warum er im Walde Holz fällen lassen wollte. Herrn Spechts dickes Gesicht glänzte wie ein freundlicher voller Mond und Herr von Tracht dachte bitter: Wie er sich freut, daß er in meinem Walde schlagen kann.

Doch als er geendet hatte, sagte der Holzhändler gelassen: »Da muß ich nein sagen, Herr Baron. Ihren Wald kaufe ich nicht, in dem schlage ich keine Bäume, denn ich würde bei jedem Baum, der fällt, denken, da trifft's einen ins Herz.«

Herr von Tracht war an das offene Fenster getreten und sah hinaus. Da lag zu seinen Füßen sein geliebter Wald im Winterkleid und neben ihm stand der Mann, den er immer mißachtet hatte, weil er gemeint, der wolle diesen geliebten Wald zerstören. Er seufzte schwer, nun mußte er auch noch darum bitten, daß jener ihm ein Stück Wald abkaufte.

Der Holzhändler hörte den Seufzer und er sah den Blick des Schloßherrn schmerzlich auf seinem Walde ruhen, da sagte er einfach: »Es geht nicht, Herr Baron, ich kann's nicht tun, es wäre mir, als täte ich einem Menschen ein Leid an. Früher ja, da habe ich oft gedacht, es schadete nichts, wenn Sie Bäume fällen ließen in Ihrem Wald; er wächst ja wieder. Aber im Sommer war es, da habe ich die Kinder, die jetzt bei Ihnen sind, ein Stück gefahren und wie die an den Wald kamen, da haben sie eine solche Freude gehabt, daß ich bei mir gedacht habe, die Waldliebe muß den Trachts im Blute liegen –«

»Allen nicht,« unterbrach Herr von Tracht bitter den Holzhändler.

»Ich weiß, was Sie meinen, Herr Baron,« fuhr der fort. »Sie denken an den Herrn Christian, der den Wald an mich verkaufen wollte. Das war eine Dummheit, nur so eine Rede, und ich glaub' es fest, auch den Herrn Christian treibt noch einmal die Sehnsucht nach der Waldheimat zurück.«

Dem Burgherrn war es auf einmal, als höre er wieder die schöne traurige Stimme im Walde singen:

»Bald werd' ich dich verlassen,
Fremd in die Fremde gehn.«

Und er seufzte wieder, schwerer fast als über den Verlust des Waldes.

»Mein Urgroßvater, Herr Baron, war ein Untersberger,« begann der dicke Holzhändler wieder. »Bei Leipzig hat er mit einem Tracht zusammen gefochten, bei Leipzig sind beide gefallen, sie ruhen vielleicht in einem Grabe, wer kann's wissen. Sollten die Urenkel sich nicht auch helfen in der Not? Nehmen Sie meine Hilfe an, Herr Baron, für Ihren Verwandten, aber lassen Sie Ihren Wald stehen. In dem soll kein Baum fallen, der soll weiter Ihre Burg umrauschen wie bisher, so unser Herrgott es will.«

Da streckte der Burgherr dem Holzhändler beide Hände hin, »ich danke Ihnen,« sagte er tief aufatmend, »und verzeihen Sie mir, ich habe Ihnen oft Unrecht getan.«

»Das schon, Herr Baron,« antwortete der Holzhändler gelassen. »Sie verachten mein Geschäft –«

»Verachten, nein, Sie tun mir jetzt Unrecht, nur dies Jagen nach Erwerb und Gewinn von heute will mir nicht gefallen!«

»Mir auch nicht,« sagte Herr Specht behaglich. »Ich mach's auch nicht wie der dicke Binder, mein Nachbar, der dem Teufel schon gerne seine Seele um Geld verkaufte, wenn der noch wie in alten Märchen auf der Welt herumspazierte. Aber wir können heute nicht mehr leben wie in alten Zeiten, Herr Baron. Auf der Rabenburg und in Untersberg geht alles seinen alten Gang, in der Welt draußen sieht es anders aus und was heranwächst will sich umsehen – auch die Bäume aus dem Walde.«

»Es müßte schon ausgeholzt werden in meinem Walde, ich weiß –«

»Noch nicht,« unterbrach Herr Specht den alten Herrn. »Später, die Zeit kommt noch, jetzt soll kein Baum angerührt werden, noch nicht!«

Der Wald bleibt stehen! Kein Baum wird geholt. Es war, als atme die ganze Rabenburg auf, erlöst von schwerer Sorge.

Herr Specht blieb zu Tisch auf der Burg und da schloß er mit Dieter und Gundula von neuem Freundschaft. »Aber nun nicht so, daß man sich einmal sieht und dann nicht mehr,« sagte er heiter. »Ich bin doch eure erste Bekanntschaft in der Gegend, mich müßt ihr auch einmal besuchen.«

Das versprachen die Kinder gern, und als der Holzhändler sich zur Abfahrt rüstete, er war in einem Schlitten gekommen, und sie zur Mitfahrt einlud, da kletterten sie vergnügt in den Schlitten hinein. »Ich bin nicht dünner geworden und ihr wohl nicht so viel dicker, obgleich ihr nun nicht mehr so spitznasig und stadtweiß ausseht,« sagte Herr Specht, »also werden wir alle drei Platz haben, wie im Sommer.«

»Findet Ihr auch zurück?« fragte Frau Susanne etwas ängstlich.

»Natürlich,« riefen Dieter und Gundula und der Oheim versicherte auch: »Sie kennen schon die Wege.«

»Bis zum Kreuzweg, wie damals, nehme ich euch mit, von da müßt ihr laufen.«

Herr Specht sah die beiden nun doch etwas zweifelnd an. Aber denen leuchtete die Lust an der Schlittenfahrt aus den Augen und nach mancherlei Ermahnungen und dem Versprechen, gleich zurückzukommen, durften sie mitfahren.

Mit Klinglingling ging es sausend den Berg hinab! Hussa! das war sein! Da war Untersberg, da liefen Buben und Mädels auf der Dorfstraße herum, die Kinder nickten und grüßten: »Wir fahren spazieren, heissa! wir fahren spazieren!«

»Die von der Burg sind's, seht doch, seht!« Purzel purzelte allen voran, er wollte dem Schlitten nachlaufen, aber der war schon vorbei, zum Dorf hinaus, weiter ging es, weiter.

Herr Specht machte einen Umweg, damit die Kinder etwas länger im Schlitten fahren konnten, aber dann war doch noch immer viel zu schnell der Kreuzweg da und die Kinder sahen ganz ungläubig drein, als ihr neuer Freund sagte: »So, eine halbe Stunde sind wir gefahren, nun müßt ihr aussteigen.«

»Schon? Ach, wie schade!«

»Ja, schade, aber wir fahren bald wieder. Hier ist es ja nicht wie in der Stadt, wo der Schnee gleich schwarz vom Himmel fällt und sich dann flink in Matsch verwandelt. Bei uns bleibt er liegen, da kann man mehr Schlitten fahren. Werdet ihr euch auch nicht verlaufen?« Herr Specht fragte es nun wieder etwas besorgt.

»Nein, nein, gewiß nicht, wir kennen den Weg!«

Mit »Dankeschön« und »Auf Wiedersehn« nahmen die Kinder nun Abschied. Die Pferde zogen an, der Holzhändler winkte noch, ein paar Augenblicke und der Schlitten war verschwunden, nur das seine Klingen der Schellen tönte noch eine Weile durch die Stille, bis auch das sich in der Ferne verlor.

Die Kinder sahen sich um, sie waren im Sommer etliche Male den Weg gegangen, dann im Herbst, aber noch niemals im Schnee. Wie still es jetzt war, wie weiß, wie fremd. Die Wege alle verschneit, die Gräben verschwunden, die Ferne verhüllt.

»Dort müssen wir gehen,« sagte Dieter etwas zaghaft. Um aber der Schwester die eigene Unsicherheit nicht zu zeigen, rief er: »Komm, wir laufen ein Stück.« Sie liefen, bis sie plötzlich beide tief in dem Schnee versanken. »Ein Graben?« Sie arbeiteten sich heraus und Gundula sagte etwas ängstlich: »Hier war aber doch kein Graben.«

»Wir sind etwas zu weit links gegangen, glaube ich,« murmelte Dieter, »komm rasch, hier, das wird der rechte Weg sein.«

Sie gingen ein Stück und immer dichter, dichter schien der Wald zu werden, nirgends mehr ein Ausblick. »Es wird schon dunkel,« sagte Dieter betroffen, »es ist aber erst halb drei.«

»Es fängt an zu schneien!« Gundula rief es lustig, sie streckte die Hände aus, »sieh und wie dicht!« Da sah sie, wie der Bruder sich ängstlich suchend umblickte und ganz erschrocken fragte sie:

»Glaubst du, wir haben uns verlaufen?«

»Ach was, komm nur!« Dieter tat mutig, er schritt voran und merkte nun doch, daß er den Weg nicht mehr wußte. Da schrie es auf einmal laut über ihnen. Drei Raben flogen über den Wald und Gundula jauchzte: »Das sind unsere, sieh nur, sie fliegen sicher zur Burg zurück, sie zeigen uns den Weg.«

Die Raben flogen langsam und ihr Schreien unterbrach immer wieder die tiefe Stille, es war, als riefen und lockten sie. Die Kinder gingen ihnen nach, unbeirrt, sie gingen mitten durch den Wald, denn einen Weg konnten sie nicht mehr sehen, immer dichter fielen die Flocken, sie rieselten lautlos herab, immer mehr kamen und zuletzt konnten die Kinder nicht einmal mehr die Raben über sich sehen, sie hörten nur deren Rufen.

»Ich fürchte mich!« Gundula blieb stehen, sie sah den Bruder angstvoll an. »Es ist so unheimlich im Walde!«

»Unsinn!« sagte der mutig und schüttelte sich den Schnee ab, »komm nur weiter, wir finden schon den Weg. Jetzt geht's schon bergan, bald –«

»Da – da ist jemand!« Gundula klammerte sich erschrocken an den Bruder an. Eine hohe dunkle Gestalt kam durch den Wald auf sie zu.

»Ja, freilich, da ist jemand!« Herr von Tracht stand vor den Kindern und neben ihm tauchte sein Hund auf. »He, Mädel,« fragte er lachend, »du hältst mich wohl für einen Waldgeist, daß du so ein Geschrei anhebst.«

»Oheim, du!« Jauchzend stürzten die Kinder auf ihn zu, denn jetzt fühlten sie erst recht alle beide, wie sehr sie sich geängstigt hatten in der tiefen Stille ringsum, gefürchtet in dem geliebten Walde. Sie gestanden es zaghaft dem Oheim. »Das glaube ich wohl, Kinder,« sagte der. »So eines Winterwaldes Gesicht, das muß man kennen. Ich bin einmal als junger Bursche viele Stunden lang an einem solchen Tage im Walde herumgelaufen, immer im Bogen, ehe ich heimkehrte, übrigens seid ihr bis jetzt ganz richtig gegangen.«

»Die Raben haben uns geführt,« sagte Gundula, »oben flogen sie.«

»Die Raben?« Herr von Tracht versuchte die dunklen Vögel zu erblicken, aber kein Laut ertönte mehr, das Rufen war verstummt.

»Sie haben sich gesputet in das Nest zu kommen; das wollen wir ihnen nachtun!« Lustig stapften die Kinder neben dem Oheim her; der ging durch den Wald, als wäre klarer, Heller Sonnentag. Und dann ragte plötzlich die Burg dunkel vor ihnen auf, ein paar helle Fenster strahlten in die Dämmerung und am Tore stand trotz Schnee und Kälte Justus und erwartete die Heimkehrenden.

»Der Kaffee ist fertig,« schrie er ihnen schallend entgegen.

Er schrie noch lauter als sonst und tat dann ganz rauh und verdrießlich, damit es die Kinder nicht spüren sollten, wie sehr er sich um sie geängstigt hatte.

»Da sind wir, Hurra! Hast du lange gewartet?«

»Ach, papperlapapp! Geduld überwindet Buttermilch.« Und halb schon in der Türe drehte sich der Alte noch einmal um, »die Raben oben sind heimgekommen, da dachte ich's schon, daß ihr auch bald da sein würdet.« – – –


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