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14. Kapitel.
Wiederfinden

In dem Gasthaus, in dem die ganze Nacht Unruhe geherrscht hatte, wurde es jetzt noch lauter, und man hörte Stimmen und Schritte draußen. Fritz Flemming öffnete die Türe, die Treppe, die gerade an der Kammer endete, lag noch im Dämmern, durch diese Dämmerung aber schritt eine kleine dicke Frau und rief schon von unten laut: »Ich bringe Frühstück.« Es schien Frau Mary kaum möglich, daß sie etwas genießen sollte, die Wirtin tat aber, als sei sie ein kleines Kind, sie goß ihr Kaffee ein, gab ihr das Brot in die Hand und redete immer freundlich zu: »Esse se man, esse se man, Fraule, 's Esse hält Leib und Lebe z'samme!«

Der Frau und ihrem Begleiter zu Gefallen, den die Wirtin genau so päppelte, aß und trank Frau Mary. Jeden Bissen zählte ihr die Frau andächtig in den Mund, sie nickte bei jedem Schluck befriedigt, und als Mary Flemming endlich aufseufzend die Tasse von sich schob, da sagte die Wirtin freundlich: »Drauße komme Flüchtlinge, se habe de Tore aufgemacht.«

»Meine Kinder, meine Kinder!« schrie die Mutter und sprang auf, Fritz Flemming folgte ihr, und beide liefen eilig in den nebelgrauen Morgen hinein. Die dicke Wirtin nahm ihr Geschirr und sah beiden befriedigt nach: »Nu habe se was im Mage, esse und trinke darf mer net vergesse!«

Auf Fritz Flemmings Arm gestützt, eilte Frau Mary die Straße, die nach Illkirch führte, entlang. Was kümmerte es sie, daß über sie hinweg die Kugeln zischten, daß das Dröhnen der Geschütze laut und unheimlich klang, sie dachte nur an ihre Kinder, und angstvoll spähten ihre Augen einem Trupp Menschen entgegen, der langsam im Nebel auftauchte. Aber vergeblich durchforschte der suchende Blick der Mutter die Reihen, es waren Flüchtlinge, deren Wohnstätten niedergebrannt waren, Heimatlose, die nun vielleicht die Zahl der Unglücklichen in den Gräben vermehren würden.

Eine weinende Frau, an der drei Kinder hingen, kam vorbei. »Wir haben alles, alles verloren,« klagte sie, »mein Mann ist tot, wir sind ganz verlassen!«

Frau Mary blieb erschüttert stehen. Sie nestelte ihren Geldbeutel, den sie auf der Brust trug, hervor, nahm, was sie an Geld entbehren konnte heraus und gab es schweigend der Frau. Die sah erst fast erschrocken drein, dann zog leise eine matte Röte über das blasse Gesicht, ihre Hand umkrallte fest das Geld, und sie stammelte, wie entschuldigend: »Für meine Kinder!«

Frau Mary strich den Kindern sanft über die Wangen: »Ich suche meine Kinder,« murmelte sie, und ihr Blick flog angstvoll nach Straßburg hin, über dem noch immer der rote Schein lag. Da verstand sie die fremde Frau, sie konnte nicht mehr verweilen, denn die andern Flüchtlinge drängten nach, Frau Mary aber las in der Fremden Augen das heiße Gebet, sie möchte ihre Kinder finden. Weiter zogen die Flüchtlinge in den Nebel hinein, und weiter schritt Frau Mary an des Freundes Seite auf dem gefährlichen Wege.

Soldaten kamen ihnen entgegen und dann wieder ein Trupp Flüchtlinge, dann tauchte eine lange Reihe Wagen auf. Ob darin ihre Kinder waren? Die Mutter schwankte, eine plötzliche Schwäche kam über sie, sie klammerte sich zitternd an ihren Begleiter an und starrte mit weitaufgerissenen Augen den Wagen entgegen. Und wenn auch sie ihre Kinder nicht brachten, was dann?

Fritz Flemming hielt ihre Hand fest. »Wir wollen stehenbleiben und aufpassen,« sagte er. Der erste Wagen rollte vorbei, fremde Gesichter sahen den Harrenden entgegen, und fremde Gesichter blickten auch aus dem zweiten Wagen.

»Mein Gott, sie sind nicht dabei,« stöhnte die verzweifelte Mutter. Der dritte, der vierte Wagen fuhr vorüber, alles fremde Gesichter. Frau Mary begann die Namen ihrer Kinder zu rufen, ganz heiser und fremd klang ihr die eigene Stimme. Forschend, mitleidig sahen die fremden Leute sie an, aber da klangen plötzlich zwei Stimmlein auf: »Mammi, Mammi, hier sind wir!«

»Meine Kinder!« Mit einem Schrei stürzte die Mutter vor, zwei blasse Gesichtchen bogen sich vor: »Mammi, Mammi!«

Frau Mary ergriff die Händchen, die sich ihr verlangend entgegenstreckten. Der Wagen konnte nicht halten, da sonst eine Stockung eingetreten wäre; so rannte die Frau immer neben dem Wagen her, sie stolperte auf dem schlechten Wege, jemand stützte sie, sie merkte es kaum. »Kate, Lotty,« schluchzte sie, und auch die Kinder riefen nur immer den Namen der Mutter, riefen ihn zitternd, jauchzend und weinend.

In der Nähe des Wirtshauses, in dem die Reisenden wohnten, hielten die Wagen, Leute kamen ihnen entgegen, ein starkes Gedränge entstand, Frau Mary fühlte sich von ihren Kindern fortgeschoben, sie schrie angstvoll auf, aber da hob Fritz Flemming die beiden Mädelchen kurz entschlossen aus dem Wagen, und wenige Minuten später standen sie alle in dem dicht gefüllten Wirtszimmer. Trotzdem sie alle Hände voll zu tun hatte, ließ die Wirtin doch ihre Arbeit im Stich und kam mit einer Kanne heißen Kaffees in der Hand angelaufen und rief: »Esse und trinke müsse de Kinderle, das ist de Hauptsach'!«

Es war auch wirklich vorläufig die Hauptsache, Kate und Lottys Augen weiteten sich, als sie die Mahnung der guten Frau hörten, und Kate flüsterte scheu: »Wir haben Hunger!« »Hunger« murmelte Lotty nach und schmiegte sich fester an die Mutter an. Die sah erschüttert ihre Lieblinge an: das waren nicht mehr ihre frischen, blühenden Mädels; bleich, abgemagert, nur notdürftig gekleidet, saßen sie verschüchtert neben ihr, kaum daß sie auf einige Fragen halblaute Antworten erhielt.

Wenn das Dröhnen der Geschütze lauter erklang, dann fuhren die Kleinen jedesmal bang zusammen, und einmal, als lautes Schreien draußen sich in das dumpfe Rollen mischte, schluchzte Lotty auf, schlang ihre Ärmchen um der Mutter Hals und flehte: »Laß mich bei dir, Mammi, schick' uns nie, nie mehr fort, ich will auch immer artig sein!«

Die Klage schnitt der Mutter tief ins Herz, sie preßte ihre Lieblinge an sich, und um sie zu beruhigen, begann sie ihnen leise von den Brüdern, von Sarah und von dem neuen Onkel zu erzählen, der sie alle zusammen mitnehmen wollte nach Schönheide. Da hellten sich die ängstlichen Mienen etwas auf, sie lauschten beide aufmerksam zu, auf Lottys Gesichtchen dämmerte ein mattes Lächeln auf, Kate aber sagte nachdenklich: »Ist dort kein Krieg, Mammi, ist es dort still?«

»Dort ist Friede,« sagte Frau Mary zärtlich.

»Friede!« Kate wiederholte das Wort träumerisch, und nun begann sie stockend von Straßburg und ihren Erlebnissen zu erzählen. Das Haus, in dem sie gewohnt hatten, war zum Teil abgebrannt, Madame Fleury hatte man krank fortgeschafft, wohin, wußte Kate nicht zu sagen. Sie beide waren jeden Abend mit zwei größeren Mädchen nach den Kasematten gelaufen. Den Tag über hatten sie sich im Keller und in den Trümmern des Hauses aufgehalten. In den Kasematten hatten viele Kranke gelegen, um sie hatte sich niemand sonderlich gekümmert. Kate stockte, ihr blasses Gesichtchen wurde blutrot, sie sah Lotty an, auch Lotty erglühte, und dann sagten beide bebend: »Wenn – wenn wir Hunger hatten – mußten wir fremde Leute um Brot bitten.«

»Gott segne alle, die euch halfen,« rief die Mutter weinend. Da seufzte Kate tief auf: »Ich dachte doch gleich, daß das nicht schlimm ist.«

»Seid ihr denn immer durch die Straßen gelaufen, auch wenn geschossen wurde?« fragte Onkel Fritz.

Kate nickte, und Lotty sagte mit einem leisen Schelmenlächeln, das das blasse Gesichtchen ordentlich überstrahlte: »Wir sind immer so geschwind gelaufen, da konnten uns die Kugeln nicht einholen. Und sieh mal, Mammi, das haben wir für die Jungens mitgebracht.« Stolz holte sie aus ihrem Bündelchen eine Anzahl Granatsplitter heraus. Entsetzt sah Frau Mary das Spielzeug an, die Wirtin aber, die dabei stand und der Erzählung gelauscht hatte, nickte mit dem Kopf und sagte andächtig: »Dene Kinderle ihre Engel habe ihre Sach' brav gemacht!« –

Fritz Flemming mahnte zum Aufbruch, er hatte sein Ehrenwort gegeben, sofort nach Rheinau an der badischen Grenze aufzubrechen, wohin das Schweizer Komitee selbst die Flüchtlinge brachte. Unter tausend warmen Segenswünschen verpackte die Wirtin Mutter und Kinder in den Wagen, Onkel Fritz bestieg den Bock, und fort ging es auf gefahrvollem Wege. Es dauerte noch über eine Stunde, ehe sie aus dem Bereich der Geschosse heraus waren. Kate und Lotty saßen ganz dicht an die Mutter geschmiegt, von ihrem Mantel umhüllt, Frau Mary hörte ihr Herzchen schlagen, aber in ihr war keine Angst mehr, nur ein großes, gläubiges Vertrauen, daß ihre Fahrt ohne Unfall enden würde. Wenn Onkel Fritz sich nach ihr umwandte, dann nickte sie ihm immer tapfer zu, und zuletzt begann sie, um die Kinder abzulenken, wieder von Schönheide, dem Großonkel, von Tante Lizzie und Kloningken zu erzählen. Darüber vergaßen auch die Kinder ihre Angst, und zuletzt schliefen beide unter den sanften Worten der Mutter ein, wie früher so oft unter ihren Märchen.

In Rheinau trennte sich Fritz Flemming von seinen Schützlingen, um den Krankentransport zu treffen, bei dem Franz von Seeheim sein sollte. Frau Mary wollte ihre Buben aus Basel holen, und alle miteinander wollten sie dann in Frankfurt zusammentreffen, um gemeinsam die Reise in die Heimat anzutreten. –

Freddy und Henry waren in diesen Tagen eigentlich immer nur vom Imbergäßlein nach dem Bahnhof und vom Bahnhof nach dem Imbergäßlein gelaufen. Einmal kamen sie zurück und meldeten: »Nach Mülhausen gehen keine Züge mehr, das hat deutsche Besatzung bekommen!« Da brummte Sarah: »Laßt mich mit dem Ort zufrieden; wären wir gleich nach Klo …, na, das Dings soll einer aussprechen, gefahren, dann« –

»Dann säßen Sie jetzt nicht bei mir,« fiel Frau Sprüngli ein; »aber was ist denn das, wer spricht da unten?«

»Die Mutter!« schrien die Buben wie aus einem Munde, »sie sind da, sie sind da!« Henry kugelte vor lauter Eile die Treppe hinunter und fiel unten Lotty gerade vor die Füße; die wich erst erschrocken aus, aber dann rief sie mit ihrem alten, strahlenden Lachen: »O, Henry macht schon wieder Spaß!«

Ein Spaß war es nun freilich von Henry nicht gewesen, er hatte sich braun und blau geschlagen, aber darum kümmerte er sich nicht weiter; die Mutter war da, sie hatte die so angstvoll vermißten Schwestern gebracht; welcher Junge hätte da wohl um ein paar Schrammen gejammert! Freddy preßte seine Zwillingsschwester Kate so fest an sich, daß diese wie ein Fischlein auf dem trockenen Land nach Luft zu schnappen begann, und dann umarmte er die Mutter und Lotty, und dazu schrie Henry immer: »Hurra! Hurra!« Die alte Sarah aber saß oben an der Treppe und weinte Tränen des Glücks, ihre Füße versagten ihr den Dienst, die Freude war ihr hineingefahren, wie sie sagte.

Draußen rannten alle Bewohner des Imbergäßleins zusammen, die Alten und die Kinder, wer gerade daheim war, und es gab, wie die Buben fanden, einen wundervollen Lärm. Er war so wundervoll und umbrauste so laut die Angekommenen, daß Frau Mary fast ohnmächtig wurde; die furchtbare Aufregung der letzten Tage zitterte noch in ihr nach, dazu die Freude, der Lärm, sie lehnte sich blaß und erschöpft an den Türpfosten. Frau Sprüngli sah es, und sie schaffte geschwind Ruhe, sie schloß die Türe und trug Frau Mary hinauf, als sei sie ein Kind, die Buben aber nahmen ihre Schwestern stolz und zärtlich in die Mitte. »Aber eine Dame bist du noch nicht geworden,« sagte Freddy und schaute Kate betrübt an, die Schwester sah gar so blaß und jämmerlich aus.

»Nein,« seufzte Kate, »da kam der Krieg dazwischen, nun wurde nichts draus! Aber weißt du, ich will lieber keine Dame werden, wenn man dazu in Pension muß, wo gerade Krieg ist!«

»Wir lassen euch gar nicht mehr fort, nie mehr,« versicherte Freddy. »Nie mehr, nie mehr,« wiederholte Sarah hinter ihm, »wir gehen alle nach – nach –«

»Kloningken,« jauchzten die Buben, »Sarah lernt den Namen nie.«

»Schadet nichts, wenn ich den Ort nur sehe,« lachte die Alte.

»Ich wollte, wir reisten gleich hin!« rief Freddy, und die Geschwister wiederholten einstimmig den Wunsch. Sie mußten aber doch noch einige Tage warten, ehe die Reise angetreten wurde, das alte Haus im Imbergäßlein schien Frau Mary, trotz seiner Einfachheit, ein guter Ort zum Ausruhen zu sein. Sie schrieb gleich am Tage ihrer Ankunft noch einmal nach Mülhausen an ihren Bruder, schrieb von der Befreiung ihrer Kinder und von Fritz Flemmings treuer Hilfe. Sie bekam nie eine Antwort; der Bruder fühlte im tiefsten Herzen sein Unrecht, aber er war zu feige, es einzugestehen, darum schwieg er. Seine Schwester aber reiste nach drei Tagen mit ihren Kindern von Basel ab, um in der Ferne die Heimat zu suchen, die sie bei dem Bruder nicht gefunden hatte.


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