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11. Kapitel.
Ein treuer Helfer findet sich

Als Lizzie am anderen Tag, traurig und sorgenvoll, in einem Winkel an der Kirchtüre saß – denn sie mochte sich um der Ansteckungsgefahr willen noch immer nicht im geschlossenen Raum unter die Menschen mischen –, fiel ihr der Sonntag ein, an dem sie den Psalm gesungen hatte. Lebhaft stand da auf einmal Franz von Seeheims Bild vor ihr; wie mochte es ihm gehen? Die letzten Tage hatten keine Nachricht gebracht, sein Regiment hatte bei Gravelotte im Feuer gestanden, und die Seinigen harrten voll Unruhe auf einen Brief. Sie hob den Blick und schaute nach dem Platz hin, auf dem die Seeheims sonst saßen –, er war leer. Schmerzlich durchzuckte sie der Gedanke: es ist eine schlechte Nachricht gekommen, und zu den eigenen Sorgen kam quälend die Unruhe um den ihr liebgewordenen Verwandten. Gleich nach der Predigt verließ sie daher rasch die Kirche und lief nach dem Herrenhaus hinüber; schon an der Türe kam ihr Renate blaß und verweint entgegen.

»Franz?« rief Lizzie erschrocken.

Renate schluchzte auf: »Er ist verwundet worden – sie haben ihm einen Arm abgeschossen.«

»Er kann auch so ein ganzer Mann sein,« sagte Lizzie mit schwerem Ernst, und sie wußte nicht, daß vor vielen Jahren mit diesem Wort eine Seeheim ihren einzigen zum Krüppel geschossenen Sohn getröstet hatte. – Sanft legte sie ihren Arm um Renates Schulter, und die weinte ihr Leid an Lizzies Halse aus. Schwesterlich vereint gingen beide in das Haus; dort fand Lizzie ernste, traurige Mienen, aber kein lautes, verzweifeltes Klagen; die Eltern trugen still ihren Schmerz; ach, sie wußten, daß sie in diesen Tagen nicht allein litten.

Freude und Leid standen dicht beisammen in diesen Tagen. In Kloningken verließ ein Genesener nach dem andern das Schulhaus, und auf Frankreichs Erde floß stromweise rotes Blut. Ein Tag kam, an dem das ganze Land widerhallte von Glockenklang und Siegesrufen. Selbst des kleinsten Kirchleins Glocken schwangen und klangen, und überall rauschten und flatterten die Fahnen im Winde und verkündeten: Sieg, Sieg, Sieg!

Der zweite September war gekommen, die Schlacht von Sedan geschlagen worden, Kaiser Napoleon gefangen. Ganz Deutschland jauchzte, und Tausende sprachen im tiefsten Herzen dankbar das Wort König Wilhelms nach: »Welch eine Wendung durch Gottes Fügung!«

In Kloningken stieg der Jubel wie Weihrauch zum Himmel empor. Von Schönheide war der alte Amtsrat herübergekommen, und die beiden weißhaarigen Geschwister saßen mit ihren Kindern zusammen, und während die andern von Sedan sprachen, sprachen sie von den Tagen bei Leipzig. Auch von Franz sprachen sie, der im Lazarett lag, und von dem eine freundliche Schwester geschrieben hatte, »er sei fröhlich und geduldig«. »Wie sein Großvater,« sagte Frau Luise stolz, »er ist ein Seeheim, die bleiben tapfer und zufrieden auch in den Tagen der Not!«

»Ein Flemming ist diesmal nicht dabei gewesen,« sagte Fritz Flemming trübe zu seinem Vater.

»Es gibt auch Alltagshelden, und manch einer ist sein Lebtag Held.« Die Großmutter sah mit ihren klaren, milden Augen auf den Sohn ihres Bruders und nickte ihm herzlich zu, dann floß das Gespräch weiter. Fritz Flemmings Gesicht aber war hell geworden, und die Freude am Sieg überwuchs in ihm den Schmerz, daß er nicht mit für das Vaterland hatte kämpfen dürfen. –

Am nächsten Tag brachte die Post Lizzie wieder einen Brief aus Mülhausen, die Adresse war von Freddys kindlicher Hand geschrieben, den Brief selbst hatte Mary am 27. August angefangen; sie schrieb darin:

 

»Meine Lizzie!

Am 23. August hat das Bombardement von Straßburg begonnen! Seit Tagen kann ich nichts anderes mehr denken, unaufhörlich kreisen meine Gedanken um den einen Punkt. O, mein Gott, was soll ich nur tun? Ich muß hin und soll doch immer warten und warten. Henry tut, was er kann, aber er ist machtlos. Ich warte hier, und vielleicht geht ganz Straßburg in Flammen auf, meine Kinder sind verloren. Mir ist es immer, als höre ich das Dröhnen der Geschütze, sehe Flammen und höre das Jammergeschrei der Verwundeten. Wäre ich nur stark und gesund, ich liefe bis nach Straßburg, aber so fühle ich die Unmöglichkeit, das Wagnis allein zu unternehmen. Ach, wäre ich doch meinem Herzen gefolgt und hätte die Kinder mit mir genommen und mich mit ihnen an einen stillen Ort geflüchtet. Die glücklichen Menschen, die im Frieden leben! Wir sitzen hier hinter ängstlich verschlossenen Türen. Henry hat Dienst bei der Kommunalgarde, die Eltern sind krank vor Furcht, Germaine weint um ihr Vaterland, und ich kann mich kaum an den Siegen meiner Landsleute freuen: die Angst um die Kinder tötet alle anderen Empfindungen in mir. Mein einziger Trost sind die Buben, sie sind rührend lieb in dem Bestreben, mich zu trösten.

 

Den 30. August.

Ich will den Brief an Dich weiter schreiben. Ich bin ganz ruhig und kann nicht mehr weinen; ich habe fast alle Hoffnung verloren und fühle mich so elend, so nahe dem Ende. Früh war ich beim amerikanischen Konsul und sprach wegen des Geleitbriefes, den er mir für meine Reise ins Hauptquartier ausstellen soll. Ich fand den hilfsbereiten Mann selbst in sehr ernster Lage; er erzählte mir, daß sein Bruder als Arzt in Straßburg tätig sei, und daß dessen Frau und Kinder die Stadt nicht verlassen konnten, da die Frau ein ganz kleines Kind hat und krank ist. Vor einigen Tagen ist das Haus, in dem sie wohnten, abgebrannt, ein Geschoß ist eingeschlagen, und die arme Frau liegt in einem Schuppen. Dem Manne liefen die Tränen herab, und ich rang ordentlich mit mir, ehe ich fragen konnte: ›Wo liegt das Haus?‹ – Es lag in derselben Straße, in der sich das Pensionat befand. Was der Konsul noch gesagt hat und ich geantwortet habe, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur noch, daß ich die Straßen entlang ging, mitten durch einen Haufen schreiender, schimpfender Menschen hindurch. Ich kam erst etwas zu mir, als mir die Buben beim Eintritt ins Haus entgegenkamen. –«

Unter die Worte der Mutter hatte Freddy geschrieben:

 

»Liebe Tante Lizzie!

Mammi ist krank, Sarah fand sie vor einer Stunde ganz blaß und still im Zimmer liegen. Nun kann sie wieder sprechen und sagt, ich soll an Dich fertig schreiben, damit Du weißt, wie es uns geht. Ach, liebe Tante Lizzie, wir sind alle sehr traurig, Henry und ich machen gar keinen Spaß mehr zusammen. Ich weine auch manchmal, ich kann nichts dafür. Denke doch, Tante Lizzie, unsere Kate und Lotty sind mitten im Krieg drinnen. Wenn wir sie doch erst wieder hätten, wären wir doch dort, um Jungens braucht man doch nicht so traurig zu sein. Sarah sagt, sie schickt Dir viele Grüße und sie wollte, sie wäre auch an dem Ort, von dem sie den Namen nicht aussprechen kann. Sie meint nämlich Kloningken und das möchten wir auch alle. Die Jungens dort haben es gut! Jetzt schläft Mutti, Sarah weint und Henry macht auch so ein komisches Geräusch, ich glaube, er heult auch.

Viele Küsse von Deinem traurigen
Freddy.«

Und wieder liefen ein paar Tage hin, in denen Lizzies Gedanken wie Schwalben ins Land flogen, zu den Lieben in Mülhausen, zu dem verwundeten Vetter. Es war ein unruhiges Harren auf Nachricht, und als Max an einem Morgen mit einem Brief kam, da eilten alle herbei, selbst die Magd fehlte nicht beim Zuhören. Mary hatte undeutlich und verwischt geschrieben. »Tränenspuren,« schrie es in Lizzie, als sie die Flecke auf den Bogen sah, sie selbst konnte vor Tränen kaum lesen:

 

»Mülhausen, den 4. September.

Liebe Lizzie!

Meinen Brief konnte ich neulich nicht mehr vollenden, und diese Tage hindurch habe ich verschiedene Male versucht zu schreiben, vergeblich. Ich war so müde und schwach. Ein Brief von dem Vetter Fritz Flemming und Deine lieben Zeilen heute früh haben mich etwas aufgerichtet. Ihr guten, treuen Menschen, mir waren die lieben Briefe eine Mahnung, nicht ganz den Mut sinken zu lassen, ich muß handeln und meine Schwäche überwinden. Ich habe den Entschluß gefaßt, morgen früh allein ins Hauptquartier zu reisen. Ich muß allein gehen, aber ich kann nicht mehr zögern, denn es wird bereits von einem Sturm auf Straßburg gesprochen. Jetzt nach der großen Siegesnachricht Sedan zweifelt man nicht mehr, daß auch das stolze, uneinnehmbare Straßburg fallen könnte. Hier ist tiefste Trauer, und meine Landsleute jubeln über den Sieg; wenn ich die Verlustlisten lese und des unendlichen Jammers gedenke, der neben der Freude steht, werde ich ruhiger. Wir stehen alle in Gottes Hand, und seinem Willen muß ich mich fügen – so namenlos schwer es mir auch wird.

Sei in Liebe umarmt von
Deiner Mary.

Die Buben sind gesund, Sarahs Fuß bessert sich auch, sie will mich morgen begleiten, aber ich bin ruhiger, wenn ich sie hier bei den Kindern weiß. Den Brief vollende ich unterwegs.

 

Kolmar, den 5. September.

In einem kleinen Hinterzimmer, das ich mir mühsam erobert habe – denn Kolmar ist von aus Paris kommenden Flüchtlingen überfüllt –, sitze ich hier und bin völlig mutlos und verzagt. Es ist unmöglich, von hier aus ins Hauptquartier zu gelangen. Nach unendlichem Hin- und Herfragen erhielt ich überhaupt erst Auskunft. Das Hauptquartier befindet sich zurzeit in Mundolsheim; um dort hinzukommen, müßte ich über Kleinbasel durch Baden nach Offenburg, und von dort aus, wenn man mich durchläßt, nach Mundolsheim. Der auskunftgebende Beamte riet mir dringend, nach Mülhausen zurückzukehren und doch zu versuchen, dort einen Begleiter zu finden, da ich schwer allein vorwärts kommen würde. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als die nächste Gelegenheit nach Mülhausen zur Rückkehr zu benutzen und von dort aus weitere Versuche zu machen. In Mülhausen da sind meine Buben bei meinem Bruder, der mir zürnt – zürnt, daß ich deutsch fühle.

Von hier aus hört man ganz deutlich das Dröhnen der Geschütze. Die ganze Nacht hindurch klang es wie fernes Donnerrollen, und viele der hier anwesenden Fremden sind auf den Turm gestiegen, um den Brand Straßburgs zu sehen. Mich forderte man auch auf. Ach, mein Gott, ich brauche es nicht zu sehen; das Bild der brennenden Stadt verfolgt mich Tag und Nacht.

Lebe wohl, Lizzie, und bete für
Deine Mary.«

 

»Ich muß hin, ich muß Mary helfen,« das war das Einzige, was Lizzie anfangs zu sagen wußte. Der Pfarrer mahnte gütig: »Nicht übereilen, Kind,« aber Lizzie zürnte ihm fast um dieser Ruhe willen. Alles in ihr drängte zu handeln, zu helfen, zu retten. Es war, als ob Lotte ihre Gedanken erriet; sie sagte plötzlich: »Wenn du hinfährst nach Mülhausen oder Straßburg, fahre ich mit.«

Dies Wort brachte Lizzie das Abenteuerliche ihres Planes, allein dorthin zu reisen, erst zum Bewußtsein, und sie fand etwas ihre Besonnenheit wieder. »Vielleicht fährt mein Bruder,« sagte der Pfarrer, »ich würde herzlich gern reisen, aber ich kann nicht so schnell fort, eine Vertretung ist zu schwer zu finden in dieser Zeit, ich muß auf meinem Posten bleiben!«

Onkel Fritz! Lizzie schämte sich beinahe, daß sie nicht gleich an ihn gedacht hatte, er hatte ihr Hilfe versprochen und er würde sein Wort halten. »Ich will hinlaufen,« rief sie rasch, »ich will ihn bitten.«

»Er ist in Amsee und wollte auf dem Rückweg vorbeikommen,« wußte Max, der den Onkel vor einer Stunde gesehen hatte.

»Laß uns ihm entgegenlaufen, Lotte,« bat Lizzie; die willigte gern ein, da die Mutter freundlich ihre Haushaltspflichten zu übernehmen versprach.

Das Land lag still im Dunst beginnenden Regens, als die beiden Mädchen den Fahrweg nach Amsee entlang liefen. Durstig trank die Erde die kühlen Tropfen, ermattet von der Glut der letzten Tage. Aber Lizzie spürte die matte, ausruhende Stille kaum, sie spähte nur in die Ferne nach dem wohlbekannten Wagen des Onkels aus. Sie brauchte nicht zu warten, dicht hinter dem Dorf schon sah sie das Gefährt, und wenige Minuten später saßen die Mädchen neben dem Onkel, und Lizzie las ihm den Brief vor.

»Ich fahre hin,« versprach Fritz Flemming gelassen. »Ich habe bereits vor einiger Zeit an den mir befreundeten Chefredakteur einer Berliner Zeitung geschrieben, er hat mir eine Karte als Kriegskorrespondent verschafft, mit ihrer Hilfe gelingt es mir vielleicht, zum Ziel zu gelangen. Deiner Schwägerin habe ich auch schon geschrieben, vielleicht ist es mir möglich, mit ihr, wenn sie über Basel fährt, in Offenburg zusammenzutreffen und von da aus nach Mundolsheim zu gelangen. Ich habe dir nichts von meinen Plänen gesagt, um dich nicht zu beunruhigen, aber heute abend reise ich.«

Lizzie konnte nicht sprechen, so bewegt war sie; Lotte, die nahe ans Wasser gebaut hatte, ließ ihre Tränlein rinnen, aber ihre Cousine dankte dem Onkel nur mit einem stummen Blick. »Nimm uns mit,« bat Lotte unter Tränen, »vielleicht können wir was helfen, ich will ganz mutig sein, du sollst sehen!« Aber trotz dieser Versicherung lehnte der Onkel mit leichtem Lächeln ab: »Sollen wir alle Kloningken und Schönheide verlassen?« fragte er. »Soll mein Vater ganz allein bleiben, Lizzies kaum genesene Patienten, deine Mutter, die so angegriffen ist, ohne alle Hilfe?«

»So viel Arbeit,« rief Lotte erschrocken und sah ordentlich verängstigt drein. Auch Lizzie sah wieder ihr Arbeitsfeld weit werden und sie versprach: »Ich will deinen Vater umsorgen, als wäre es der meine.« Leiser fügte sie hinzu: »Bringst du Franz mit heim?«

Fritz Flemming nickte: »So Gott will. Ich will versuchen, ob ich mit ihm zusammenkommen kann, hoffentlich ist er transportfähig.«

»Und Hans-Heinrich,« schluchzte Lotte vor sich hin, »ach, wäre doch der Krieg erst zu Ende.« –

Dieses Wort sagten laut und leise an diesem Abend noch manche Bewohner von Kloningken. Die Nachricht, daß der junge Herr aus Schönheide – denn so wurde Fritz Flemming trotz seiner fünfundvierzig Jahre allgemein genannt – nach Frankreich reisen würde, hatte sich rasch im Dorf verbreitet. Immer war das Verhältnis zwischen Herrenhaus, Pfarrhaus und Dorf ein gutes gewesen, aber in dieser Zeit wurde das Band noch fester, sie fühlten sich alle wieder wie damals in den Jahren der Fremdherrschaft eins in ihrer Liebe zum Vaterland, sie waren verbunden in Sorge und Hoffnung. Aller Gedanken waren in der Ferne, und wenn zwei miteinander sprachen, dann sprachen sie von den Kämpfern draußen, von den Siegen, die diese errangen, und darüber vergaßen sie manches kleine, enge Alltagsgefühl. Es wunderte sich darum am Abend niemand, daß Männer und Frauen ins Pfarrhaus kamen, um dem Abreisenden noch allerhand Aufträge zu geben. Viele meinten, es würde dem Schönheider Herrn leicht sein, alle, die aus dem Dorfe waren, zu sehen und zu sprechen, und etliche Bäuerinnen hatten rasch große Pakete mit Eßwaren zusammengepackt, für die Lieben in der Ferne. Hanne Bradke, die Müllersfrau, kam und brachte einen Schinken; sie meinte treuherzig: es sei schade, daß sie es nicht früher gewußt hätte, daß der junge Herr reiste, sie hätte sonst geschwind noch einen Kuchen für ihr Jungchen gebacken. Das Jungchen war ein baumlanger Kerl, der bei der Garde stand.

Fritz Flemming ließ die Liebesgaben zusammenpacken, nur die Eier, die ein fürsorgliches Mütterchen gebracht hatte, wies er zu deren großer Betrübnis zurück. Es war freilich beschwerlich, mit so viel Gepäck zu reisen, aber er dachte: »Abnehmer werde ich schon finden; vielleicht kann ich alles einem Transportzug mit Liebesgaben übergeben, und bekommen es die Rechten nicht, einer Mutter Sohn ist ja jeder, und jeder kämpft für das Vaterland.« Er sagte das auch zu den Bauern, und der Müller Bradke nickte ernsthaft: »So ist's recht, sie bluten alle für uns.«

Auch die Wildlinge wären gern mit dem Onkel gezogen und hätten die unbekannten, eingeschlossenen Bäslein befreit, aber der Vater hatte nur erstaunt gefragt: »Ihr wolltet eure Arbeit im Stich lassen, einmal übernommene Pflichten nicht erfüllen?« Da waren beide geschwind verstummt, sie dehnten und reckten sich, beschauten ihre schwielig gewordenen Hände, und Max sagte ein bissel protzig zu Schwester Lotte: »Morgen wird's ein heißer Tag, wir müssen mächtig schaffen, sorg' nur beizeiten für ordentliche Frühstücksstullen.«

»Bring' mir meinen Franz wieder, meinen armen Jungen,« bat Frau Anna von Seeheim. Renate und Rikchen hatten sich schon gewundert, wie still die Mutter das Leid trug, und daß sie gar nicht weinte und klagte um den Sohn; aus diesem einen Wort aber hörten sie das schmerzvolle Weinen der Mutter heraus, es war wie eine Quelle, die tief verborgen quillt, und deren Rieseln nur in großer Stille zu hören ist.

Ein Stück gaben alle dem Scheidenden das Geleit. Der Mond, dem noch ein wenig an seiner Fülle fehlte, stieg wie ein roter Ball am Himmel auf und wandelte sich sacht zur blassen, schimmernden Scheibe. In diesem Glanz gingen alle die Landstraße entlang, der Wagen rollte nebenher, und es war ein stilles, friedvolles Gehen in dem Schweigen der aufsteigenden Nacht.

Die Jugend wäre am liebsten bis Neuhaus mitgelaufen, aber der Onkel mahnte auf halbem Wege zur Rückkehr. Noch einmal nahm er von allen Abschied, dann bestieg er den Wagen, der Kutscher trieb die Pferde an, und bald verhallte das Rollen leiser und leiser in der Nacht. Schweigend gingen die Zurückbleibenden heim, aber ihre Wünsche und Gedanken begleiteten den Reisenden auf seiner Fahrt.



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