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9. Kapitel.
Arbeit und Sorgen

Lizzie hatte nicht geahnt, daß ihr Wunsch, ihre Kräfte regen zu dürfen, sich so unerwartet rasch erfüllen würde. Über Kloningken kam eine schwere Heimsuchung, der Typhus brach aus, und im sogenannten Unterdorf, das einen eigenen Brunnen hatte, lagen binnen wenigen Tagen fast in jedem Haus ein oder zwei Kranke. Dabei hatten die Leute in diesem Jahr, wo so viele Arbeitskräfte fehlten, mehr denn sonst zu tun, und die vom Gut und Pfarrhaus sahen bald ein, daß die Kranken, wenn sie nicht aus Mangel an Pflege sterben sollten, wo anders untergebracht werden mußten. Der Freiherr von Seeheim bestimmte ein altes Gartenhaus dazu. Ein Krankenhaus war somit da, Betten wurden auch geschafft, es fehlte aber vor allem an den nötigen Pflegerinnen. So viele protestantische und katholische Schwestern waren einberufen worden, ihre Kräfte fehlten im Land, da mußten andere einspringen. Es war allen eine Überraschung, als Lizzie sich sofort erbot, zu helfen. Die Verwandten wollten es nicht erlauben, die Gefahr der Ansteckung sei zu groß; aber da zeigte Lizzie, wie viel sie doch von einer praktischen Amerikanerin an sich hatte. Sie fürchtete sich gar nicht vor Ansteckung, wußte, wie sie sich zu schützen hatte, und gab so vernünftige Ratschläge, zeigte sich so besonnen und klug, daß selbst ihr Onkel Walter meinte, es sei richtig, ihre Hilfe anzunehmen. Frau Anna von Seeheim, die Pfarrerin und Lizzie übernahmen die Leitung des kleinen Lazaretts. »Nun zeigt, daß ihr unsere vernünftigen Töchter seid,« sagten die beiden Mütter zu ihren Backfischchen, »ihr müßt den Haushalt führen.«

Da wurden plötzlich aus den drei Wildfängen verständige Mädchen, sorgsame Haustöchter, die sich redlich mühten, ihre Aufgaben zu erfüllen. Leicht war es nicht, die Herzelein waren sorgenbeschwert um die Mütter, die nicht minderer Gefahr ausgesetzt waren als die Brüder im Krieg; dazu die Arbeit, die große Verantwortung; die Väter brauchten auch mehr als sonst die Töchter, sie wollten mancherlei Hilfe von ihnen; da gab es manche verzagte Stunde. Nur gut, daß Großchen da war; immer voll gelassener, friedsamer Heiterkeit, wußte sie so gut zu raten, einzugreifen, zu trösten, versagenden Kräften aufzuhelfen. Und dann schwebte auch Lizzie den drei Bäslein immer als leuchtendes Beispiel vor; sie bewunderten diese über die Maßen; wenn über Lotte, die eigentlich ein Irrwisch war, die Ungeduld kommen wollte, dann sagte sie manchmal ganz ernsthaft vor sich hin: »Lizzie.« Das hob ihren Mut und stärkte ihre Geduld. –

Dreimal schwebte der Totenglocke tiefer Klang über Kloningken, dreimal standen die tapferen Pflegerinnen an Sterbebetten und mußten einsehen, daß all ihre Mühe vergeblich gewesen war. Sie konnten sich aber sagen, daß ohne ihre Hilfe, ohne ihr Ausharren die Zahl wohl viel, viel größer gewesen wäre. Dank der vorsichtigen Absperrung gab es bald keine neuen Fälle mehr; freilich bedurften die Kranken, die lagen, noch wochenlanger, aufopfernder Pflege.

Auf den Feldern hatte unterdessen die Ernte begonnen, und in dieser Zeit hatte in Kloningken kaum jemand Zeit, an Ruhe und Erholung zu denken; in diesen Jahre mußten sie alle, nach dem Worte der Schrift, ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts essen, denn manch einer hatte noch für des Nachbars Felder zu sorgen. Selbst aus den Wildlingen waren ein paar Erntearbeiter geworden. Indianerspiel und lustige Jungensstreiche waren vergessen, bei Tagesanbruch zogen Max und Walter mit aufs Feld, um abends wie Plumpsäcke in die Betten zu fallen vor Müdigkeit. Der Vater hatte gesagt, man könne auch im Frieden durch Arbeit für das Vaterland kämpfen, und dies Wort hatte die Buben angespornt. Kein größeres Lob, als wenn Onkel Seeheim ihnen sagte: »Wirklich, ihr ersetzt ein paar Knechte.«

In dieser Zeit der Arbeit und Sorge bekam Lizzie wieder einen Brief von Mary; er war vom 26. Juli bis zum 1. August geschrieben worden und mit einem Umweg über die Schweiz in ihre Hände gelangt. Mary schrieb:

 

»Mülhausen, den 26. 7. 1870.

Liebe Lizzie!

Seit einigen Tagen sind wir wieder hier. Wir verließen Ems am 18. früh, um über Straßburg hierher zurückzukehren, der Zug brachte uns aber nur bis Schaidt (Grenzstation). Hier waren die Schienen schon ausgehoben und der Eisenbahnverkehr nach Weißenburg eingestellt. Es herrschte eine furchtbare Verwirrung; die Beamten wußten sich selbst nicht Rat und hörten gar nicht auf unsere Bitten um Weiterbeförderung. Zug auf Zug brachte neue Reisende, alle wollten weiter, sie baten, drohten, schalten. Endlich wurden von den umliegenden Ortschaften Fuhrwerke requiriert, aber stundenlang kampierten unterdessen Hunderte von Reisenden im Freien. Ich hielt mich kaum aufrecht, so elend fühlte ich mich, und dazu quälte mich die Unruhe, zu meinen Kindern zu kommen. Nach langem Harren kamen endlich Züge von großen Heu-, Ernte- und Leiterwagen; die Passagiere legten selbst Hand mit an, die Koffer auf die Wagen zu setzen, einige Bündel Stroh darüber, und fertig waren die Sitze für die Reisenden. Nach anderthalb Stunden ungefähr langten wir am Octroi (Zollhaus) in Weißenburg an; hier gab es Revision, und jedes Fuhrwerk erhielt einen Retourschein. Leider kamen wir zu spät und versäumten den Personenzug; wir mußten nun 24 Stunden hier aushalten; Du kannst Dir meine Unruhe vorstellen, aber Hunderte teilten mit uns den unfreiwilligen Aufenthalt, und erst am 20. abends kamen wir todmatt in Straßburg an. Gott sei Dank! fand ich meine Mädels gesund und vergnügt vor. Was wissen die Kinder von dem Jammer, der wie ein Gewitter über uns schwebt!

Du machst Dir keinen Begriff, Lizzie, von dem Enthusiasmus, der hier herrscht: ein Siegestaumel, ein Freudenrausch hat alle erfaßt. Die Kriegserklärung ist erfolgt, und der König von Preußen gilt hier als der Herausfordernde, der die große Nation beleidigt hat. Wir hatten Mühe, mit unserem Wagen durch die Menge zu kommen; schon am Bahnhof stauten sich die Massen, die Züge brachten fortwährend Militär, und die Bevölkerung der Umgegend kam auf allen erdenklichen Fuhrwerken nach Straßburg. Die Plätze waren fast tageshell erleuchtet, die Musikkapellen spielten die Marseillaise, die Frauen gingen in großer Toilette am Broglie auf und ab, sie schwenkten die Tücher, stimmten den Gesang der Marseillaise an, man umarmte sich, jubelte, es war, als würde ein großer Sieg gefeiert. Mir wurde das Herz immer schwerer. O du mein armes Deutschland, wie wird es dir ergehen! Ich kann es nicht begreifen, wie man im Angesicht eines Krieges so jubeln kann! Ich mag gar nicht an all das kommende Elend denken, und hier feiert man Freudenfeste.

Ich war froh, als unser Wagen am Broglie abschwenkte und wir bald darauf vor Madame Fleurys Hause hielten. Sie war verwundert, uns in so später Stunde – es war gegen neun Uhr – hier zu sehen, und es berührte mich besonders sympathisch, als sie erwähnte, daß sie am Abend nie das Haus verlasse. Die Kinder schliefen bereits alle, und ich teilte ihr mit, daß es meine Absicht sei, meine Mädels sofort mit mir zu nehmen. Die Dame hörte mich ruhig an; sie hat so ein offenes, gütiges Gesicht, und als sie mir dann erklärte, daß die Kinder in Straßburg besser aufgehoben seien als in Mülhausen, das doch eine offene Stadt sei, daß sie besonders in einem französischen Hause vor aller Gefahr geschützt wären, mußte ich ihr zustimmen. Straßburg ist ja auch uneinnehmbar; aus allen Ortschaften der Umgegend werden Depots, Pretiosen, ja sogar Kranke hierhergebracht. Auch Sarah und Mr. K., ein alter Herr, den ich auf der Reise kennen gelernt hatte und der sich uns sehr hilfreich erwies, unterstützten Madame Fleurys Ausführungen. Ich überlegte mir, daß ich vielleicht mit Freddy und Henry hierherkommen könnte. Wenn wirklich, was ja wohl ausgeschlossen ist, der Kriegsschauplatz in dieser Gegend ist, dann kann ich immer noch die Kinder holen und nach der Schweiz gehen.

Ich bat Madame Fleury, mich zu den Kindern zu führen, und folgte ihr ins Schlafzimmer. Welch ein liebliches Bild der Ruhe und des Friedens! Mit rosigen Bäckchen lagen da die schlafenden Kinder. Bei meiner Annäherung machte Kate eine Bewegung, um die schweren Haare zur Seite zu schieben. Dann legte sie das Ärmchen unter den Kopf, flüsterte einige Worte und schlief weiter. Ich konnte mich nicht bezwingen, ich beugte mich über ihr Bettchen und küßte sie. Lotty, die nebenbei schlief, erwachte. ›Mammi!‹ rief sie und stand im weißen Nachtkittel mit einem Ruck schlaftrunken im Bett aufrecht. Madame Fleury winkte mir, daß die anderen Kinder wach würden; hier und da tauchte ein Köpfchen aus dem Bette auf, und neugierige, verschlafene Augen sahen mich an. Da nahm ich Lotty, die sich an mich schmiegte, in meinen Arm und trug sie nach dem Salon. Sie schlug die Augen auf, lachte Sarah und mich vergnügt an; sie träumte noch und dachte, wir wären drüben in unserem lieben Heim; dann blickte sie verwundert auf Madame Fleury, blinzelte noch einmal, legte ihr Köpfchen an meine Brust und schlief ruhig weiter. – Ich mußte an unsere beschwerliche Fahrt hierher denken, an alle Unannehmlichkeiten, die betrunkenen Soldaten, die in unserem Kupee waren, und alledem sollte ich jetzt in der Nacht die Kinder aussetzen. So legte ich denn meine Kleine wieder in Madame Fleurys Arm, ich habe das Vertrauen, daß sie dort in gutem Schutz ist. Madame Fleury versprach mir nochmals, nach besten Kräften für die Kinder zu sorgen und sie vor jeder Gefahr zu behüten. Sie tat das freilich etwas wortreich und überschwenglich; drüben würde es mir noch etwas mehr aufgefallen sein, aber hier bin ich schon durch Germaine und die anderen etwas daran gewöhnt, aber herzlich schwer wurde mir der Abschied doch. Nun, vielleicht ist es nicht auf lange, vielleicht, ja, Gott gebe es, erreicht der Krieg ein rasches Ende.

Auf der Rückfahrt kam unser Wagen nur mühsam vorwärts, es regnete etwas, und anscheinend hatten die vornehmeren Einwohner sich zurückgezogen und einer wüsten, lärmenden Menge Platz gemacht. Auf dem Bahnhof mußten wir wieder lange warten, ehe wir Beförderung nach Mülhausen fanden. Hier war die Freude groß, daß wir nicht abgeschnitten waren, da Gerüchte über Aushebung aller nach Süden führenden Geleise kursierten. Daß ich die Kinder in Straßburg gelassen, fand man sehr vernünftig, und ich bin auch froh darüber, denn viele senden von hier aus ihre Wertsachen dorthin. Henry und Germaine raten mir, vorläufig den Lauf der Dinge abzuwarten; man glaubt nämlich allgemein, daß Baden der Schauplatz des furchtbaren Dramas sein wird. Armes Land, arme Bewohner! –

 

Mülhausen, den 29. Juli.

Gestern wurde ich in meinem Brief unterbrochen, die Buben kamen und verlangten stürmisch, nach Kloningken zu fahren, Du hast ihnen das Herz warm gemacht. Ach, Lizzie, ich wollte, ich wäre mit den Kindern dort bei Dir in der friedvollen Stille. Hier ist alles Unruhe und Erregung. Viele Eltern nehmen die Kinder aus der Schule, sie halten Mülhausen als offene Stadt für zu sehr preisgegeben und die Deutschen für so barbarisch wie Anno 1812 die Kosaken. Aber wenn ich mir die Bilder der Turkos und Zuaven in den Journalen ansehe, wird es mir unheimlich. Diese Horden losgelassen über blühende Gefilde, über wehrlose Frauen und Kinder, das ist ein schrecklicher Gedanke. Immer rechnet man doch nach seinen eigenen Empfindungen, und so muß ich immer an die Mütter denken, die ihre Söhne hergeben mußten. – Ich bin froh, daß ich meine Mädels in Straßburg gelassen habe; ach, und doch will eine innere Stimme nicht zum Schweigen kommen: wären sie doch bei mir! Freddy sagte: ›Mutter, wenn wir nur erst wieder alle zusammen wären und ein richtiges Zuhause hätten.‹ –

 

Den 1. August.

Ich war einige Tage leidend und kann meinen Brief erst heute beenden, hoffentlich kommt er bald in Deine Hände. Sorge Dich nicht um mich, ich werde wieder gesund werden; was mich elend macht, ist nur die Unruhe, in der wir leben. – Hier ist es jetzt stiller, der Streik ist durch die Einberufung so vieler zum Militär beendet. Die Geschäfte blühen, da sich die Stadt und die Umgegend verproviantieren. Die Zeitungen schreiben voller Siegeszuversicht, man eilt schon den Ereignissen voraus, und Flaggen werden angefertigt. Germaine bat mich, bei dieser Arbeit mitzuhelfen, und als ich nur stumm die Stoffe beiseite schob, meinte sie begütigend: › Enfin, vous n'êtes plus Allemande, vous êtes Américaine!‹ Ich gab ihr gar keine Antwort, ich kann ihr doch nicht erklären, daß ich trotz meines langen Aufenthaltes drüben im Herzen und dem Gefühl nach eine Deutsche bin, ich müßte ja, sollte es anders sein, meine ganze glückliche Jugend vergessen. Vor kurzem standen wir uns noch als Mensch zu Mensch gegenüber, und nun auf einmal sind wir Nationalitäten. – Ich fühle, daß ich durch meine Gegenwart einen Druck auf meine Umgebung ausübe, man nimmt in seinen Äußerungen Rücksicht auf mich, ich denke darum ernstlicher an einen Aufenthalt in der Schweiz. Freddy und Henry werde ich ohnehin aus der Schule nehmen, Lotty und Kate fühlen sich zwar glücklich in Madame Fleurys Hause, sie haben noch keine Ahnung von dem Haß der Menschen untereinander, in ihrem kleinen Herzen war bisher alles Liebe.

Doch nun will ich schließen und Dir das Herz nicht beschweren. Führe ich meinen Vorsatz aus und gehe nach der Schweiz, teile ich es Dir sofort mit. Hoffentlich erhalte ich auch von Dir bald Nachricht. Die Buben senden Dir viele Grüße, sie reden von Kloningken, wie wir in unserer Jugend von einem wundervollen goldnen Märchenschloß uns etwas erzählten. Und Sarah grüßt auch, sie hat einen schlimmen Fuß, ich denke aber, es wird bald vorübergehen.

In treuer Liebe
Deine Mary.«

Der Brief machte Lizzie unruhig, aber gerade in diesen Tagen erforderten einige der Kranken doppelte Pflege und Fürsorge, und so ging ihre Unruhe in der Arbeit für andere unter. Den Brief sandte sie an Fritz Flemming und bat ihn, einige Worte an Lizzie zu einem kurzen Brieflein zu schreiben; sie meinte, dies würde der Schwägerin ein Trost sein.


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