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2. Kapitel.
Im Pfarrhaus von Kloningken

Im Pfarrhaus waren längst alle zur Ruhe gegangen, alle Lichter gelöscht, als die Hausfrau plötzlich erwachte. Ein Fenster hatte geklappt, und aufschauend sah sie, daß oben im Fremdenzimmer noch Licht sein mußte, denn ein rötliches Schimmern lag auf den Zweigen der alten Linde im Garten, und der Schein konnte nur aus dem Gastzimmer kommen. War die Amerikanerin noch wach, fühlte sie sich nicht behaglich im fremden Hause? Die Pfarrerin stand auf und zog sich rasch und leise an, das fremde Mädchen hatte ihre Gedanken viel beschäftigt, und nun war es ihr, als riefe der rötliche Schein da draußen sie zu dem jungen Gast. Wenige Minuten später stand sie an der Tür des Fremdenzimmers und lauschte, ob das junge Mädchen schlief, vielleicht hatte es nur das Licht aus Gewohnheit brennen lassen. Aber da kam ein Ton aus dem Zimmer, der Frau Flemmings weiches Herz erzittern ließ: ihr Gast weinte. Kurz entschlossen klinkte sie die Türe auf, die nicht verschlossen war, und trat ein. Lizzie Brown saß in einem weißen Nachtgewand am offenen Fenster, durch das süßer Rosenduft ins Zimmer strömte, und weinte, heiß, schmerzlich.

»Mein liebes Kind,« sagte die Pfarrerin mütterlich und vergaß, daß das junge Mädchen ihr noch ganz fremd war: »Was fehlt Ihnen?«

So gut und weich, mit einem so lieben Klang in der Stimme, hatte lange niemand mehr zu Lizzie gesprochen; sie richtete sich ein wenig auf, sah aus tränenfeuchten Augen die freundliche Fragerin an und murmelte: »Ich bin so einsam!«

Einsame, unglückliche, hilfsbedürftige Menschen trösten war etwas, das die Pfarrerin Flemming in Kloningken wundervoll verstand; sie hatte dabei eine so heitere, herzliche Güte, wußte so geschwind das rechte Wort zu finden, daß selten jemand ohne Trost von dannen ging. Sie setzte sich auch jetzt geschwind neben ihren jungen Gast, legte ihre Arme mütterlich um Lizzies Schultern und sagte herzlich: »Erzählen Sie mir mal ein bißchen was von sich, mein liebes Kind, etwas von Ihren Eltern; ist's denn schon lange her, daß Sie allein sind, Sie armes Kind, Sie?«

Lizzie Brown fand nicht gleich eine Antwort, aber sie legte den Kopf an der Pfarrerin Brust, ließ sich sachte streicheln und dachte nur: wie gut das tut. Die Pfarrerin drängte nicht zum Reden, sie wußte wohl: Vertrauen muß Zeit haben. »Sie ist eine Waise,« hatte vor einigen Wochen der Königsberger Amtsbruder von der jungen Amerikanerin geschrieben, für die er Aufnahme im Kloningkener Pfarrhaus suchte. Dies Wort hatte der Hausfrau ihre Zustimmung leicht gemacht; mochte die Fremde verwöhnt, anspruchsvoll sein, sie war eine Waise, war einsam, vielleicht suchte sie etwas Liebe in der Welt. Als die Fremde dann am Nachmittag aber so kühl und sicher, so ganz eine weltgewandte, junge Dame über die Schwelle des Pfarrhauses getreten war, da hatte Frau Flemming freilich gedacht: was will sie bei uns, was sucht sie hier in unserer Einfachheit und Stille, es war wohl ein Irrtum, daß unser Freund sie uns empfahl? Diese Gedanken wurden jedoch still, als sie nun das weinende Mädchen im Arm hielt, und Lizzie Browns Tränen versiegten auch nach und nach, und sie begann leise von ihren Eltern, ihrer Kindheit zu erzählen. Es war ein zögerndes Erzählen, als fesselten unsichtbare Ketten das junge Mädchen am freien Aussprechen. Die Pfarrerin mußte manche Zwischenfrage tun, manchmal stockte das Gespräch, und nur das Schluchzen der Nachtigall draußen war dann hörbar. Lizzie Browns Eltern waren Deutsche gewesen, die Mutter war als Kind hinüber gekommen, der Vater als junger Mann. Ein achtzehn Jahre älterer Bruder und sie waren von fünf Geschwistern die einzig Überlebenden, die Mutter starb wenige Tage nach Lizzies Geburt, und da der Bruder bald darauf zu seiner Ausbildung das Haus verließ, blieb Lizzie mit dem Vater allein und wuchs unter seinen Augen auf. Es war ein sehr inniges Zusammenleben gewesen. Der Vater, der ein ausgedehntes Geschäft besaß, wohnte mal hier, mal dort, mal im Süden, mal in Nordamerika, er machte lange Seereisen, und immer blieb die Tochter an seiner Seite. Sie wurde auch seine Pflegerin in langer Krankheit. Vor zwei Jahren war der Vater in Brasilien gestorben und wenige Wochen später sein Sohn ihm nachgefolgt. Das gelbe Fieber hatte den rüstigen Mann dahingerafft. Vater und Sohn hatten noch kurz vor ihrem Tode den Wunsch geäußert, ihre Angehörigen möchten nach Deutschland zurückkehren. Das große, ausgedehnte Geschäft aber war nicht so rasch aufgelöst; wohl standen treue Freunde den Verwaisten zur Seite, immerhin vergingen zwei Jahre, ehe Lizzie mit ihrer Schwägerin, den Kindern und einer alten Dienerin Sarah Amerika verlassen und die Reise nach Europa antreten konnte. Ihre Schwägerin war mit ihren Kindern zu ihrem Bruder nach Mülhausen im Elsaß gefahren. Lizzies Augen strahlten, als sie von den Kindern ihres Bruders erzählte, von Lotty und Kate, Freddy und Henry, dem lustigen Vierblatt.

»Warum sind Sie nicht mit ihnen zusammen gereist?« fragte Frau Flemming etwas erstaunt. Es kam ihr wunderlich vor, daß ein junges Mädchen ihre Angehörigen verließ und allein in der Welt herumreiste.

Lizzie schwieg, und in ihre Augen traten wieder die Tränen: »Meiner Schwägerin Bruder hat eine Französin geheiratet und ist selbst Franzose geworden,« sagte sie leise, »dahin passe ich nicht, ich wollte in meines Vaters Heimat. Er hat sie so sehr geliebt, seine Heimat, immer hat er mir davon erzählt, und manchmal war er so traurig vor Sehnsucht nach dem Land seiner Jugend. In seiner letzten Krankheit sprach er immer von Deutschland, ich mußte ihm geloben, in die alte Heimat zu reisen. So bin ich hergefahren, und seit ich hier bin, weiß ich erst, wie einsam ich bin. Schon als ich landete, wäre ich beinahe umgekehrt, so traurig war ich, so verlassen fühlte ich mich!«

»Armes, liebes Kind,« sagte die Pfarrerin gütig und strich wieder lind über des Mädchens Wange. »Stammte Ihr Vater hier aus unserer Gegend, warum kamen Sie gerade hierher? Hat er keine Verwandten mehr?«

»Er war aus Königsberg,« murmelte Lizzie gepreßt, »aber Verwandte – nein – er hatte niemand mehr – gar niemand.« Sie wurde rot, und ein fast finsterer Ausdruck verdüsterte ihr hübsches Gesicht; sie senkte tief, tief den Kopf, und ihr Blick wich dem der Pfarrerin aus. Die fühlte, daß ihre neue Hausgenossin ihr nur ein halbes Vertrauen gab, daß sie ihr jetzt etwas verschwieg, ihr nicht die Wahrheit sagte, und daß manches, was das junge Mädchen schwer bedrückte, unausgesprochen blieb. »Zeit lassen,« dachte sie, »Vertrauen muß erst wachsen wie eine Blume im Mai, die Sonne der Liebe ist dazu nötig.« Und so ermahnte sie herzlich: »Jetzt müssen Sie zu Bett gehen, liebes Kind, Sie werden müde sein von der langen Reise.«

Lizzie nickte folgsam, sie erhob sich, blieb aber noch einige Minuten am Fenster stehen. Es war eine so helle Sommernacht, daß man unten im Garten die Wege und Beete unterscheiden konnte, unzählige Sterne standen am tiefblauen Himmel, und im Gebüsch sang noch immer leise die Nachtigall. Hinter dem Garten schimmerten weiß die Häuser des Dorfes, der Kirchturm ragte auf, aber nirgends brannte mehr ein Licht, es war ganz still, ein tiefer Friede lag über dem kleinen Ort.

»Es ist so still hier,« flüsterte Lizzie beklommen und schmiegte sich fest an die Pfarrerin an, die neben ihr stand.

»Fürchten Sie sich vor unserer ländlichen Stille?« fragte diese.

»Nein,« sagte Lizzie rasch, »wenn – wenn Sie mich ein wenig lieb haben wollen!«

Da nahm die Pfarrerin das junge Mädchen in ihre Arme, küßte es herzlich und sagte warm: »Ich denke, wir werden Sie alle liebgewinnen; denn wer kommt und Liebe sucht, der findet auch welche!« Und dann brachte Frau Flemming ihren Gast zu Bett, wie sie es wohl mit ihren eigenen Kindern tat; dabei hatte sie das Gefühl, als sei ihr diese junge Fremde gar nicht fremd.

Sehr spät schlief Lizzie Brown endlich ein, am Himmel schimmerte schon ein feines, zartes Rot, als sie endlich die müden, verweinten Augen schloß. Dann schlief sie freilich bis in den hellen Tag hinein, sehr zum Mißfallen der drei Pfarrerskinder, die schon sehr neugierig auf die nähere Bekanntschaft der Amerikanerin waren.

»Ich halt's nicht mehr aus, so'n Geschlafe, es ist dumm so was,« murrte Max; trotzdem Schwester Lotte Stille unterm Fremdenstubenfenster geboten hatte, beschloß er, die Fremde zu wecken; er kletterte auf die Linde und begann sein Amselgeflöte. Er nannte wenigstens dieses Geräusch so. Zu seiner großen Entrüstung aber wurde sein Vogelgesang in der Familie nicht sehr geschätzt, und Schwester Lotte behauptete stets: es sei zum Davonlaufen! Max meinte jedoch, es sei eine liebliche Art, die Langschläferin zu wecken, und wirklich fuhr Lizzie Brown nach etlichen Minuten erschrocken empor, und nach etwa einer halben Stunde erschien sie unten im Familienzimmer. Sie wurde dort herzlich begrüßt, auf Lottes Frage, wie sie geschlafen hätte, antwortete sie lachend: »O, sehr gut, nur so ein fürchterliches Nebelhorn hat mich aufgeweckt, es klang greulich. Bitte sagen Sie, was ist das?«

Maxel, der hinter dem Gast in das Zimmer getreten war, wurde blutrot und verschwand eiligst. Lotte lachte schelmisch: »Eine Amsel hat geflötet oder eine Nachtigall gesungen; fragen Sie nachher einmal Bruder Max.«

Erst schaute Lizzie erstaunt drein, aber plötzlich brach sie in ein lustiges Lachen aus und sagte: »Freddy und Henry, meine Neffen, sind manchmal Löwe und Frosch; viel anders klingt das auch nicht, es ist aber sehr lustig!«

Da lief Walter Flemming eiligst zu seinem Bruder, der im äußersten Gartenwinkel darüber brummte, daß man seine Kunst so schnöde verspottete, und rief: »Komm vor, Max, sie versteht Spaß. Paß auf, die ist keine Zimperliese, die macht 'nen rechtschaffnen Unsinn mit, wenn sie auch aussieht wie 'ne feine Wachspuppe.«

Maxel kam vergnügt aus seinem Schmollwinkel heraus, und Walter verhieß: »Ich glaube, die spielt sogar Indianers mit uns, und vielleicht kann sie das richtige Geschrei, weil sie doch von dorther ist.«



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