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4. Kapitel.
Lotte ärgert sich und wird wieder gut

Zum Essen erschien Lizzie dann aber wieder mit einem so fremden, verschlossenen Zug im feinen Gesicht, daß Lottes aus dem Heimweg von neuem lustig erblühte Hoffnung, die Fremde würde ihr doch eine Freundin werden, schnell zerflatterte. Auch Max flüsterte Walter zu: »Du, die spielt nie mit uns Indianer, keine Ahnung! Sie ist steif wie 'ne Bohnenstange.«

Die Eltern unterhielten sich mit der neuen Hausgenossin, der Pfarrer fragte eifrig nach Amerika, nach dortigen Verhältnissen und Sitten, und er hatte seine Freude an Lizzies klugen, klaren Antworten. Die drei Pfarrerskinder staunten, was die Fremde alles wußte, wie sie die Worte zu setzen verstand, und Lotte, die sich für sehr klug hielt, weil sie mit den Brüdern Lateinisch lernte und am besten vorwärts kam, seufzte schwer, diese Klugheit wurde ihr unheimlich. Einmal sagte auch der Pfarrer ein anerkennendes Wort bei einer besonders treffenden Antwort; da trübte sich Lizzies Blick, er wurde wieder dunkel und schwer, und leise sagte sie: »Mein Vater war sehr klug, und er war mein Lehrer, er besprach jedes Buch mit mir, das er las, und er freute sich, wenn ich ihn gut verstand!«

Das klang schlicht und bescheiden, und Lottes Bewunderung wurde wieder groß; aber da sagte die Mutter freundlich, um den Gast von einer trüben Erinnerung abzubringen: »Hoffentlich hat Ihnen der Brief vorhin die ersehnten Nachrichten gebracht!«

»Danke,« sagte Lizzie kurz, fast schroff, und sah wieder so hochmütig drein, als wäre sie eine Fürstin und säße im Kreis ihrer Vasallen. Lotte wurde rot vor Ärger. Wie konnte man nur ihrer lieben, freundlichen Mutter so eine kurze, »ungezogene«, nannte sie es, Antwort geben! Wirklich, bei dieser Fremden wußte man nicht, woran man war, sie war wie Regen und Sonnenschein in einer Minute. Ach und eigentlich war sie doch so schön und klug, und Lotte Flemming hätte sie himmelgern ein wenig angeschwärmt. Sie lief aber nach Tisch trotzig davon und ließ Lizzie stehen, auch die Buben gingen mit einem Bogen um die Fremde herum und wagten nicht, wie sie geplant hatten, sie zu einem Besuch ihres Kaninchenstalles aufzufordern.

Lizzie stand einige Augenblicke einsam auf der Veranda, die sich an das Eßzimmer anschloß, auch das Ehepaar hatte das Zimmer verlassen. Traurig sah sie in den Garten hinab, sie fühlte, daß sie zu schroff und ablehnend gewesen war, und dabei hätte sie doch gern der gütigen Hausfrau ihren Brief gezeigt und von ihren Sorgen gesprochen. »Du mußt dir Liebe und eine Heimat suchen, mein Kind,« hatte der sterbende Vater gesagt, aber wie schwer war das, wie schwer! Da kam die Pfarrerin zurück, sie trug dem jungen Mädchen die schroffe Antwort nicht nach, sondern sagte herzlich: »Wollen Sie mir ein Stündchen im Garten Gesellschaft leisten?«

Lizzie sah sie dankbar an, nickte aber nur schweigend, und ein Weilchen ging sie stumm neben der Hausfrau auf den schmalen, von Buchsbaum umsäumten Wegen hin; dann fragte sie plötzlich mit raschem Entschluß: »Darf ich Ihnen meinen Brief vorlesen? Ich meine – wenn Sie Interesse dafür haben!«

»Gewiß, Fräulein Brown,« sagte Frau Flemming gütig; »kommen Sie, wir wollen uns dort unter den alten Apfelbaum setzen.« Sie gingen beide auf den Platz zu, ein alter Steintisch stand darunter, in den vielerlei Namen eingekratzt waren, und Lizzie schaute eine Weile sinnend auf die Platte nieder. »Der Tisch steht hier gewiß schon lange,« murmelte sie.

»Ja,« antwortete die Pfarrerin, »unser Vater und Tante Luise erzählen, daß der Tisch schon in ihrer Kinderzeit gestanden hat; sie haben oft daran gesessen und gespielt, auch ihre Namen eingeritzt. Sehen Sie, da stehen diese: Walter, Luise und Fritz.«

Lizzie senkte tief den Blick darauf, eine Träne fiel auf den Stein, und dann sagte sie schmerzlich: »Es ist etwas Schönes um ein Haus, an dem so viele Erinnerungen haften; das Haus, das wir zuletzt in Amerika bewohnten, ist verkauft; ich bin in Nordamerika geboren, in Südamerika erzogen worden, eine rechte Heimat habe ich gar nicht.«

»Aber Sie haben liebe Verwandte,« tröstete Frau Flemming, »von ihnen wollten Sie mir vorlesen!«

Da nahm Lizzie Brown den Brief aus der Tasche, und während sie ihn entfaltete, dachte sie, wie seltsam es sei, daß sie, die noch kaum einen Tag im Hause weilte, doch schon so viel Vertrauen zu der freundlichen Frau gefaßt hatte; es war, als sei sie schon wochenlang hier, und zutraulich las sie:

 

»Liebe Lizzie!

Nun sind wir schon beinahe drei Wochen voneinander getrennt, Du bist in Deutschland, ich – in Frankreich. Das hätte ich nicht gedacht, als ich den Entschluß faßte, mit meinen Kindern zu meinem Bruder zu gehen, daß ich Heinrich so ganz und gar verändert wiederfinden würde. Er ist vollständig Franzose geworden, im Hause wird kein deutsches Wort gesprochen, wenn ich einmal mit meinen Kindern Deutsch spreche, dann lacht meine Schwägerin Germaine über diese abscheuliche Sprache. Das klingt wie eine Klage und ist auch eine. In Amerika vergaß ich oft, daß ich eine Deutsche war; nun ich durch die alte Heimat gefahren bin, fühle ich erst, wie sehr mein Herz an ihr hängt. Ach, Lizzie, wir sind beide heimatlos. Du und ich, und hier fühle ich erst, was es heißt, keine rechte Heimat zu haben, kein Vaterland, an dem man mit aller Seele hängt. Und nun denke Dir meine Not: meine Erkältung, die, wie Du weißt, mich schon auf der Reise so gequält hat, ist schlimmer geworden, der Arzt hier rät dringend eine strenge Kur in Ems an. Ich wollte gleich hingehen und die Kinder natürlich mitnehmen, aber Bruder Henry erhob Einspruch. Du weißt ja, zahm sind meine Kinder nicht, und er behauptete, die vier Wildfänge würden in Ems eine Erholung unmöglich machen. Er mag ja recht haben. Sarah soll mich begleiten, aber nicht die Kinder. In Henrys Haus kann ich sie nicht lassen, man ist dort zu wenig an Kinderlärm gewöhnt, und so habe ich mich zu dem schweren Schritt entschlossen, sie vorläufig fremden Händen anzuvertrauen. Ich wollte sie in deutsche Pensionate bringen, aber Henry und Germaine wußten gute Erziehungsanstalten, und so bin ich einstweilen dem Rat der Geschwister gefolgt. Aber nun höre, wo ich meine Lieblinge untergebracht habe. Freddy und Henry habe ich in eine hiesige französische Schule, die Ecole professionelle, getan; diese hat 400 Zöglinge und sogar eine eigene aus Schülern gebildete Musikkapelle. Disziplin und Verpflegung sollen vorzüglich sein, ebenso wird der Unterricht sehr gelobt. Die beiden Buben sehen sehr schmuck in ihren Uniformen aus, mit dem Mülhausener Wappen, einem goldenen Rädchen am Kragen, und Henry ist ordentlich stolz auf seine Neffen. Schwerer wurde es mir, eine geeignete Anstalt für die Mädchen zu finden; da es hier keine empfehlenswerten gibt, habe ich mich entschlossen, Lotty und Kate nach Straßburg zu bringen. Vorgestern war ich dort bei Madame Fleury und habe sie da, wo auch Germaine erzogen ist, untergebracht. Die hellen, luftigen Räume, die wirklich liebevolle Art von Madame Fleury haben mir einen ungemein sympathischen Eindruck gemacht, und die Mädels fühlten sich auch gleich behaglich. Freilich ohne Tränen ging der Abschied, besonders bei der weichherzigen Kate, nicht ab, aber sie fügte sich doch, da sie sah, wie sehr ich selbst unter der Trennung litt. Ich blieb noch einen Tag mit Germaine, um zu sehen, wie die Kinder sich in die neuen Verhältnisse finden würden. Ach, Lizzie, als zehnjähriges Mädchen war ich einige Zeit in Straßburg, und ein wehmütiges Gefühl beschlich mich, als ich die Straßen durchschritt und daran dachte, was für ein übermütiges Ding ich damals war. Wie die Zeit vergeht! Jetzt sind meine Zwillinge schon zwölf Jahre alt. Ich fand die Stadt sehr verändert; viele Neubauten sind entstanden, aber wie bisher ist der Broglie der Zentralpunkt des Verkehrs. Ich habe die Kinder auch zum Münster geführt und ihnen von Erwin von Steinbach und Goethe erzählt; ich wurde ganz lebhaft dabei, alles erinnerte mich so stark an meine eigene Jugendzeit, und wenn Germaine nicht gewesen wäre, die für meine Erzählungen nur ein etwas spöttisches Lächeln hatte, so hätte ich noch lange den Kindern erzählt. Am Abend traten wir die Rückreise an, und ich war froh, die Kinder so gut untergebracht zu haben. Ich hoffe, der Aufenthalt bei Madame Fleury wird für ihre Entwicklung nur von Vorteil sein. Ich reise nun nächste Woche mit unserer treuen Sarah nach Ems, von dort erhältst Du ausführliche Nachricht. Halte mich nicht für egoistisch, daß ich erst jetzt nach Deinen Erlebnissen frage, aber Du weißt ja, wieviel meine Gedanken trotz aller eigenen Sorgen bei Dir sind. Wie geht es Dir, hast Du schon –«
hier brach Lizzie Brown jäh ab und ließ den Brief sinken.

 

Frau Flemming fühlte des jungen Mädchens Sorge um die Schwägerin nach, spürte aber auch wieder das halbe Vertrauen. Doch sie tröstete lind, eine Emser Kur sei nicht schlimm und den Kindern einmal der Aufenthalt bei fremden Menschen gewiß gut. »Ihre Schwägerin hat es freilich schwer,« sagte sie, »mit vier Kindern allein in der Welt dazustehen, ist kein leichtes Los.«

Dann erzählte sie, um ihren Gast zu zerstreuen, allerlei von den Bewohnern des Dorfes; einmal nannte sie dabei den Namen Ragnit, da sagte Lizzie gedankenvoll: »Den Namen hörte ich schon.« Plötzlich aber errötete sie jäh und begann so hastig und unvermittelt von etwas anderem zu reden, daß die Pfarrerin sie ganz erstaunt ansah.

Ehe sie aber noch eine Frage tun konnte, kam Lotte. Sie hüpfte auf einem Bein den breiten Mittelweg entlang und berichtete, atemlos von der Anstrengung, daß eine Bauersfrau die Mutter sprechen wollte. Die Kleine nahm vergnügt den verlassenen Platz der Mutter ein, sie hatte ihren Ärger über Lizzies Kühle bereits wieder vergessen, und in ihrem Herzen gab sie ihr wieder lauter zärtliche, überschwengliche Namen. Als Lizzie sie bat, mit ihr hinaufzugehen und ein Kleid für den Nachmittag auszusuchen, da sagte sie auch begeistert zu.

Trällernd stieg sie neben dem Gast die Treppe empor und riß oben vor Erstaunen ihre Augen weit auf. Sie fand alles wundervoll, meinte, eine richtige Märchenprinzessin könnte keine schöneren Gewänder haben. So viel feine Stoffe, Spitzen und Seide hatte sie noch gar nicht beieinander gesehen, denn in Kloningken kümmerte man sich nicht allzuviel um die jeweilige Mode. »Wenn ich so schrecklich reich wäre, dann – dann würde ich nicht nach Kloningken gehen,« rief Lotte naiv.

»Dies Kleid ist aus Paris,« sagte Lizzie rasch, die Worte der Kleinen unbeachtet lassend.

»Aus Paris!« schrie Lotte, »ja waren Sie denn dort?«

»Ja, wir sind in Cherbourg gelandet, ich bin dann noch mit englischen Freunden drei Tage in Paris gewesen, es war recht nett!«

»Nett, bloß nett, nicht himmlisch, wundervoll, berauschend?« rief Lotte aufgeregt.

Lizzie lachte, setzte sich neben das Pfarrtöchterlein und erzählte einiges von ihrer Reise; Lotte machte Kulleraugen, wie Hans-Heinrich es nannte, es war ihr, als blättere sie in einem schönen, bunten Bilderbuch herum. »Immer von Kloningken fortzugehen, hielte ich gar nicht aus,« sagte sie endlich nachdenklich, »aber mal und gründlich in die weite Welt reisen, das möchte ich!«

»Reisen ist schön,« sagte Lizzie, »aber ein rechtes Daheim haben, ist doch am allerschönsten auf der Welt.« Wehmütig klang das, und Lotte vergaß geschwind ihre Reisebegeisterung, Mitleid schwellte ihr Herzlein, und sie begann sacht und zärtlich Lizzies Hand zu streicheln und wollte ihr gerade ihre Freundschaft antragen, als es, sehr zur Unzeit, draußen so herzhaft an die Türe klopfte, daß kein Zweifel blieb, daß es Bubenfäuste waren, die da polterten.

»Es ist Zeit, es ist Zeit,« schrien die Wildlinge draußen, »Mutter sagt, in fünf Minuten müßten wir gehen.«

»Trödelsusen,« brummte Walter noch leise hinterher; laut wagte er es aber nicht zu sagen, die Amerikanerin flößte ihm doch einigen Respekt ein.

Nun hieß es sich sputen, um zur rechten Zeit fertig zu werden; ein anderes Kleid anzuziehen, dazu war es freilich zu spät. Als die beiden Mädchen unten erschienen, da hieß es: »Geschwind, geschwind, Großtante Luise mag das Zuspätkommen nicht leiden«, und im Eilschritt lief die Jugend nach dem Herrenhaus hinüber, der Pfarrer und seine Frau folgten etwas langsamer nach.



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