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V.

Jedes Ding hat seinen eigenen Geruch für die, die Nasen haben zu riechen. Sein ganzes Leben lang hatte Wahb Gerüche kennengelernt, und die Bedeutung der meisten, die im Gebirge vorkommen, war ihm bekannt. Es war, als ob alles eine eigene Stimme für ihn hätte, und doch war es weit besser als eine Stimme, denn es ist allbekannt, daß eine gute Nase besser ist als Augen und Ohren zusammen. Und jede dieser zahllosen Stimmen rief beständig: »Ich bin hier, und ich bin der und der.«

Die Wacholderbeeren, die Hagebutten, die Stachelbeeren, jede hatte ein leises, süßes Stimmchen, das rief: »Hier sind wir – Beeren, Beeren!«

Die großen Fichtenwälder besaßen eine laute, weitreichende Stimme: »Hier sind wir, die Fichtenbäume!« Kam er aber geradeaus zu ihnen, so konnte Wahb den leisen, süßen Ruf der Fichtennüsse hören: »Hier sind wir, die Fichtennüsse!«

Und die Camassiapflanzen sangen gar im Mai, wenn der Wind recht ging, in vollkommenem Chor: »Camassia, viele Camassia hier!«

Und war er dann unter ihnen, so unterschied er jedes einzelne Stimmchen. Jede Wurzel hatte seiner Nase ihr besonderes Wörtchen zuzuflüstern: »Hier bin ich, eine große Camassia, reich und reif!« oder eine winzige scharfe Stimme: »hier bin ich, eine nichtsnutzige, zähe, kleine Wurzel!«

Und im Herbst riefen die großen, dicken Steinpilze laut: »Ich bin ein feister, bekömmlicher Pilz!« und der tödliche Knollenblätterpilz schrie: »Ich bin ein Knollenblätterpilz! Laß mich stehen oder du wirst ein kranker Bär!« Und das feenhafte Hasen-BIauglöckchen auf der Uferbank sang auch ein Lied, so fein wie sein fadengleicher Stengel und so sanft wie sein zartes Blau; aber der Engel der Gerüche wußte schon, daß er ihn nicht zu melden brauchte, denn dieser und eine Million ähnlicher Gerüche hatten für Wahb keinen Reiz.

So hatte alles Lebendige, das sich regt, und jede Blume, die da wächst, jeder Fels und Stein und jedwede irdische Form etwas von sich zu erzählen und seiner Nase ihre kleine Geschichte vorzusingen. Bei Tag und Nacht, bei Nebel und bei hellem Schein berichtete ihm diese große, feuchte Nase das meiste von dem, was ihm zu wissen not tat, und ließ, was bedeutungslos war, unbeachtet, und er verließ sich immer mehr auf sie. Selbst wenn ihm Augen und Ohren zusammen meldeten: so und so, selbst dann wollte er es nicht glauben, bis seine Nase sagte: »Ja, das ist richtig!«

Aber der Mensch kann das nicht verstehen, denn er hat das Geburtsrecht seiner Nase um das Vorrecht verkauft, in Ortschaften zusammengedrängt zu leben.

Während Hunderte von Gerüchen Wahb angenehm waren, waren ihm Tausende gleichgültig, eine ganze Anzahl waren ihm unangenehm und manche versetzten ihn tatsächlich in Wut.

Oft hatte er bemerkt, daß, wenn er ganz oben im Fichtenflußtal stand, der Westwind ihm einen sonderbaren neuen Geruch zuwehte. An manchen Tagen machte dieser ihm nichts aus, an anderen verdroß er ihn, aber niemals spürte er ihm nach. An anderen Tagen wieder trug der Nordwind von der hohen Wasserscheide einen höchst schrecklichen Geruch herüber, der keinem andern zu vergleichen war und der ihn sofort in die Flucht trieb.

Wahb war jetzt schon lange kein Jüngling mehr, und er fing an, im Hinterbein, das so oft verwundet worden war, Schmerzen zu empfinden. Nach einer kalten Nacht oder nach andauernder feuchter Witterung konnte er das Bein kaum gebrauchen, und als er sich einmal in diesem krüppelhaften Zustande befand, kam der Westwind den Cañon herunter und blies ihm eine sonderbare Botschaft in die Nase. Wahb konnte die Botschaft nicht deutlich verstehen, aber sie schien zu sagen: »Komm!« und etwas in ihm sagte: »Geh!« Der Geruch von Eßbarem zieht ein hungriges Geschöpf an und stößt ein gesättigtes ab. Warum, wissen wir nicht, und wir können nur sagen: »Das Verlangen entspringt aus dem Bedarf des Körpers.« So fühlte sich Wahb jetzt von dem angezogen, was ihn so lange bei Wohlsein abgestoßen hatte, und er kroch langsam am Wasser entlang bergauf, vor sich hinbrummend und bissig nach den Zweigen schnappend, die ihm ins Gesicht schlugen.

Der sonderbare Geruch wurde sehr stark; er führte ihn an eine Stelle, wo er vorher noch nie gewesen war, eine Böschung von weißlichem Sand hinauf zu einer Bank von gleicher Färbung, wo ein trübe aussehendes Wasser herabfloß und aus einem Loch eine Art Nebel hervorquoll. Wahb warf die Nase argwöhnisch in die Luft – was für ein verdrehter Geruch! Er ging die Bank hinab.


Eine Schlange wand sich vorn über den Sand. Wahb zerschmetterte sie mit einem Schlage, daß die nahen Bäume zitterten und ein schwankender Felsblock herunterpolterte, und er stieß ein tiefes Gebrüll aus, das wie ferner Donner im Tale widerhallte. Dann stand er an dem Nebelloche. Es war voll Wasser, das sich schwach bewegte und dampfte. Wahb steckte seinen Fuß hinein und fand, daß es ganz warm war und ihm auf der Haut eine angenehme Empfindung erregte. Er steckte beide Füße hinein und ging noch weiter, so daß das Wasser nach allen Seiten überfloß, bis er in voller Länge in der warmen, fast heißen Schwefelquelle lag und in dem grünlichen Wasser schmorte, während der Wind den Dampf um seinen Kopf wirbelte.

In voller Länge lag Wahb in der warmen, fast heißen Schwefelquelle.

 

Solche Schwefelquellen gibt es im Felsengebirge in großer Anzahl, aber dies war zufällig die einzige in Wahbs Gebiet. Über eine Stunde blieb er darin; als er dann fühlte, daß er genug hatte, schleppte er seinen mächtigen Körper die Böschung hinauf und bemerkte dabei, daß er sich auffallend wohl und gelenkig fühlte. Die Steifheit seines Hinterbeines war verschwunden.

Er schüttelte das Wasser aus seinem zottigen Mantel. Eine breite Felsenleiste lud ihn ein, sich zum Trocknen auszustrecken. Aber zuerst richtete er sich gegen den nächsten Baum auf und hinterließ eine Marke, die niemand verkennen konnte. Allerdings, viele Denkzeichen zeugten davon, daß auch andere Tiere das Schwefelbad gegen ihre Leiden gebrauchten; doch was tut das? Hinfort trug der Baum folgende, mit Schmutz, Haaren und Geruch eingegrabene Inschrift, die jedes Berggeschöpf lesen konnte:

Mein Bad! Fernbleiben!

(gez.) Wahb.

Wahb lag auf dem Bauch, bis ihm der Rücken trocken war; dann drehte er sich auf den breiten Rücken und wälzte sich behaglich hin und her, bis ihn die sengende Sonne ganz getrocknet hatte. Er merkte, daß er sich jetzt wirklich ganz wohl fühlte. Er sagte sich zwar nicht: »Ich leide an der unangenehmen Krankheit, die man Rheumatismus nennt, und die Behandlung mit Schwefelbädern ist das beste Heilmittel für mich,« aber das wußte er doch: »Ich habe schreckliche Schmerzen und fühle mich wohler, wenn ich in diesem stinkenden Pfuhl bin.« So kehrte er von nun an immer wieder hierher zurück, wenn die Schmerzen wiederkamen, und jedesmal fand er Heilung.


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