Heinrich Seidel
Reinhard Flemmings Abenteuer zu Wasser und zu Lande
Heinrich Seidel

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Die Wonne der Kinder aber war sein Kasperletheater, dessen Puppen er selber geschnitzt und gemalt und angezogen hatte, und die mir noch heute als Muster ihrer Art vor Augen stehen. Vielleicht würde ich anders über sie urteilen, wenn ich sie wiedersehen könnte, damals aber erschien mir die freche Lustigkeit des Hanswurstes unübertrefflich und die zahnlose Hinfälligkeit des alten Mannes mit der raten Nase und dem weissen Barte aus Kaninchenfell rührend und ergreifend. Welch erhabene Strenge drückte sich in dem Antlitz des Gerichtsdieners aus, und was für stiere, grosse runde Augen der Gerechtigkeit hatte er! Eine prachtvollere Hexe als die ältere Dame, die Kaspers Frau oder des Teufels Grossmutter darzustellen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, und der Liebreiz einer jungen Dame mit gelben Haaren und wasserblauen Augen war meiner Ansicht nach wohl geeignet, alle Herzen zu entzünden. Wundervoll scheusslich war der Teufel, der, schwarz mit gelben Augen, stets eine Musterprobe seiner langen feuerroten Zunge hervorhängen liess. Bei diesem Teufelskopf hatte Onkel Philipp sich selber übertroffen, denn diese Zunge liess sich anderthalb Fuss weit herausziehen und schnappte von selber wieder zurück, wenn man sie losliess. Was der Hanswurst in geeigneten Augenblicken hiermit für dramatische Effekte zu erzielen vermochte, kann man sich vorstellen. Über alle Begriffe prachtvoll graulich aber war der nur mit einem langen Hemde bekleidete Tod mit seinen leeren schwarzen Augenhöhlen und dem grinsenden Kiefernmaul voll schneeweisser Zähne. Ich höre es noch heute deutlich, wie der Hanswurst, der natürlich weder Tod noch Teufel fürchtet, zu ihm sagt:

»Wo sühst du denn aus? Du hast ja gar nichts an!«

Worauf der Tod ein paarmal feierlich hin und her wackelt und mit tiefer Grabesstimme psalmodierend antwortet:

»Die Toten brauchen keine Kli-kla-kleider.«

Hanswurst aber, ruchlos und respektlos wie immer, äfft ihm in ganz hoher Stimmlage nach:

»Na, da brauchen Sie auch keinen Schni-schna-schneider!«

Onkel Philipp war früher einmal bei günstiger Gelegenheit dem berühmten Puppenspieler Strauschild so lange nachgegangen, bis er alle seine Stücke auswendig gelernt hatte. Diese bildeten die Grundlage seines Dramenschatzes, den er aber durch Stücke eigener Erfindung zu vermehren stets bestrebt war. Denn auch die Muse hatte seine Stirn geküsst, und keine goldene, silberne oder grüne Hochzeit im Bekanntenkreise oder sonst ein bemerkenswertes Familienfest war denkbar, ohne die Mitwirkung seiner stets bereiten Dichterleier.

Ich will hier nicht aufzählen, was Onkel Philipp sonst noch alles konnte und leistete, denn dazu würde ich noch viele Seiten brauchen, nur eines muss ich noch erwähnen, weil dies für meinen Freund Adolf Martens und mich, wenn auch nicht gerade erfreulich, so doch von besonderer Wichtigkeit war. Als wir dem Abcbuch und der Rechenfibel des Dorfschulmeisters entwachsen waren, entsann sich Onkel Philipp selbstverständlich seines früheren Berufes und übernahm unsern Unterricht, indem er uns alltäglich von acht bis zwölf Uhr in die Geheimnisse der höheren Wissenschaften einzuführen versuchte.

Wir machten bei ihm die Bekanntschaft des alten Zumpt, der seine hohe dichterische Begabung leider, anstatt die Liebe, den Wein, das Wandern, den Mond, die Ewigkeit und das Meer zu besingen, auf den trockenen Stoff der lateinischen Formenlehre und Syntax verwendet hat, welchen letzteren Wissenschaftszweig wir Sündentaxe zu nennen pflegten, da sie gewissermassen eine Taxe aller unsrer reichlichen Sünden gegen den heiligen Geist der lateinischen Sprache enthielt. Dass Onkel Philipp sich um diese Zeit, um einem tief gefühlten Bedürfnis abzuhelfen, auf die Fabrikation einer genügenden Menge von ganz ausgezeichneter roter Tinte verlegte, sei nur nebenher bemerkt. Wir wurden eingeführt in die, leider durch so unendlich viele Jahreszahlen wehrsam gemachte, Geschichte, und noch heute hege ich eine tiefe Dankbarkeit gegen Karl den Grossen, der die Liebenswürdigkeit gehabt hat, sich im Jahre achthundert zum Kaiser krönen zu lassen, weil das so leicht zu behalten geht. Die Daten aller jener Tage zu wissen, an denen sich all die Jahrhunderte hindurch die Menschheit gegenseitig und massenhaft umgebracht hat, mag für den, der sie inne hat, ein erhebendes Gefühl sein, wir meinten aber dies leichten Herzens entbehren zu können, und jedenfalls hatte für uns die Kenntnis des Zeitpunktes, wann die Haselnüsse auf dem Rosenwerder reif wurden, ein höheres und, wie man es nennt, aktuelleres Interesse.

Wohl dem, der die deutsche Sprache mit der Muttermilch einsaugt und sich nicht mit ihrer verzwickten Deklination und Konjugation und dem hakigen Dorngestrüpp ihrer persönlichen Fürwörter so zu plagen braucht wie ein Ausländer, wie das in neuerer Zeit Mark Twain so lustig dargestellt hat. Diese Stunden verstand Onkel Philipp uns ganz besonders schmackhaft zu machen durch geschickt ausgewählte Lesestücke und Gedichte, die unserm Verständnis angemessen waren. Auch als wir später kleine Aufsätze schrieben, wusste er uns Aufgaben zu stellen, die mit unsern einfachen Mitteln zu beherrschen waren und uns deshalb Vergnügen machten. Die zu lernenden Gedichte durften wir uns selber wählen, und dass wir keines aussuchten, das über unser Verständnis ging, kann man sich wohl denken. Dass der Kanadier dabei nicht fehlte, – der Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte und sich so lecker von Hummer, Lachs und frischem Bärenschinken ernährte, so wie der Mann, der die Pfeife von rotem Thon mit goldnem Reifchen lieber hatte als sein Bein, darf wohl angenommen werden. Wir lasen bei ihm eine Prosadarstellung der homerischen Gedichte und waren beide unbedingt auf Seiten der Trojaner, und um Hektors schmähliches Ende habe ich manche heimliche Thräne geweint. Achilles hassten wir beide, und hätten wir damals diesen Ausdruck schon gekannt, so würden wir ihn ein ekliges Rauhbein genannt haben. Die tapferen und vertrauensvollen Trojaner wurden schliesslich doch nur durch die Pfiffigkeit des hinterlistigen Odysseus besiegt, welcher alte Herumtreiber dann zehn Jahre brauchte, um die lumpigen einhundertzwanzig geographischen Meilen Seeweg nach Ithaka zurückzulegen, weil er sich unterwegs allerwärts festkneipte und höchst merkwürdige Abenteuer mit Damen hatte. Und dann liess er, ehe er all die Freier abschlachtete wie eine Hammelherde, ihnen vorher die Waffen wegnehmen, damit sie sich nicht wehren konnten, was wir sehr wenig heldenmässig fanden, und was ihm ähnlich sah. Siegfried oder der Spielmann Volker, ja selbst der grimme Hagen hätten so was nicht gemacht. Amüsant waren die Abenteuer des Odysseus ja, besonders das mit Polyphem, aber leiden mochten wir ihn nicht. Um diese Zeit nannten wir einmal Hanne Bernitt, der die Schweine des Dorfes hütete, einen »göttlichen Sauhirten«. Seine Bildung reichte aber wohl nicht weit genug, um das Schmeichelhafte dieser Anrede zu erkennen, sondern er vermutete offenbar blutigen Hohn darunter, denn er schlug mit der Peitsche nach uns, warf uns mit Erdkluten und nannte uns »infamtige Snäsels!«

Am besten gefiel uns aber der Geographieunterricht, wie ihn Onkel Philipp zu erteilen und anregend zu machen verstand. Hatte er doch ein so grosses Stück der so weitläufigen Geographie mit eignen Augen besichtigt und war in fast allen Ländern Europas, ja sogar in Nordafrika und Kleinasien gewesen, was damals ungeheuer viel mehr bedeutete als jetzt, wo die Weltumbummler nach Hunderttausenden zählen und man schon einen der wenigen unentdeckten Landstriche »durchquert« haben muss, um als Reisender Beachtung zu finden.

Damals waren so weitgereiste Leute wie Onkel Philipp noch sehr selten, und das kleine Steinhusen konnte es sich zur Ehre anrechnen, einen solchen unter seinen wenigen Einwohnern aufzuweisen. Wie angenehm wurde nicht der »kleine Daniel« illustriert und ergänzt, wenn Onkel Philipp bei der Besprechung des Vesuvs aus seinem Raritätenschranke ein Stück Lava herbeiholte, in das in seiner Gegenwart vom Führer eine alte römische Kupfermünze eingeschmolzen worden war, und er dazu sagte: »Diese Lava hab' ich noch lebendig gesehen.« Oder wenn er eine kleine Bronzelampe aus Pompeji vorzeigte, die wie eine Theekanne aussah, und dazu die Meinung äusserte, vielleicht hätte beim Lichte dieser Lampe ein alter römischer Schriftsteller etwas geschrieben, das wir jetzt übersetzen müssten. Wir waren allerdings der Meinung, die alten Römer hätten ihre uns so lästig fallende Schriftstellerei lieber unterlassen sollen, jedoch betrachteten wir das grünliche, vom Alter umwitterte Gerät mit Ehrfurcht. Noch viel älter aber waren die steinernen Käfer und Püppchen, die aus einer wirklichen Pyramide stammen sollten, und ein Stück von einer Papyrusrolle, mit wunderlichen Figürchen bemalt, das Onkel Philipp wie ein Heiligtum verehrte und für einen Schatz hielt. Ganz aus neuer Zeit wieder waren die schönen Glasperlen aus Murano, die bei Gelegenheit Venedigs zum Vorschein kamen, und eine Tuchnadel aus Florenz mit einer Rose, die aus winzigen kleinen Steinen auf schwarzem Grunde eingelegt war. Aus Konstantinopel stammte eine schöne bunte Wasserpfeife mit langem rotem Schlauch, und es war ein vortrefflicher Spass, als Onkel Philipp sich mit gekreuzten Beinen auf ein Kissen setzte und uns etwas auf türkisch vorrauchte, wobei er sich ganz blau im Gesichte sog und ihm wegen der Tücke dieser zusammengesetzten Qualmmaschine plötzlich ein ungeheurer Strahl Rauch in die unrechte Kehle fuhr, so dass er sich fast die Seele aus dem Leibe husten musste. Als er endlich wieder zu Atem und Besinnung kam, meinte er: »Die Türken müssen wohl einen ganz andern Sogg haben als unsereiner, denn die greifen sich dabei gar nicht an.«

In der warmen Jahreszeit bei gutem Wetter hatten wir den Unterricht in einer grossen schattigen Lindenlaube, und waren wir dann mit schriftlichen Arbeiten oder dem Lernen von Aufgaben beschäftigt, was, da wir Hausarbeiten nicht zu machen hatten, immer einen grossen Teil der täglichen vier Stunden ausfüllte, so hatte Onkel Philipp die beste Gelegenheit, in seinem Garten zum Rechten zu sehen, eine scharfe Polizei über das Ungeziefer auszuüben und zu säen, zu pflanzen, zu hacken und zu begiessen. Zuweilen sah er sich dann nach uns um, entweder erloschenen Eifer anzufeuern, Gelerntes zu verhören oder strenges Gericht zu halten über unsre grausamen Misshandlungen der toten wie der lebendigen Sprachen. Und über uns in der Lindenlaube sang ein Buchfink sein Lied oder zwitscherte eine Zaungrasmücke ihre zierliche krause Weise. Hummeln und Bienen summten eilfertig vorüber, die Schwebefliegen standen in der warmen Luft, und spielende Schmetterlinge schwankten draussen im Sonnenschein. Einmal kam ein schönes Pfauenauge, vielleicht angezogen durch die Weisse des Papiers, hineingegaukelt in die Laube und setzte sich auf den alten Zumpt, der aufgeschlagen dalag, gerade auf die schöne Regel:

Viele Wörter sind auf is
Masculini generis.

Offenbar hatte er sich ganz etwas anderes von dem alten Zumpt vorgestellt und irgend einen verborgenen Honig in ihm vermutet, denn wie es uns schien, war seine Enttäuschung unbeschreiblich. Mit wahrem Entsetzen hob er sich eiligst davon und floh, so weit er konnte. Sehnsüchtig und verständnisvoll schauten wir ihm nach.

Kurz nach unserm Abenteuer auf dem Uhlenberge waren die grossen Ferien zu Ende, und wir trotteten eines Morgens, mit stummer Ergebung in ein unvermeidliches Schicksal, mit unsern Büchern zu dem gewohnten Unterricht. Wir trafen Onkel Philipp, wie er auf der Bank am Rheinfall sass und seine Morgenpfeife rauchte. Die letzte Wandlung, die nämlich die von ihm so sehr geliebte Quelle durchzumachen gehabt hatte, war, dass sie den Rhein darstellen musste, vom Ursprung bis zur Mündung. Dies war zurzeit der grösste Stolz seines Gartens. An der höchsten Stelle, wo das Wässerchen in das Grundstück eintrat, wurde es zunächst durch ein gemauertes Sammelbassin aufgefangen, dessen Inhalt bei festlichen Gelegenheiten den Springbrunnen zu speisen hatte. Für gewöhnlich aber lief das Wasser an drei Stellen über den Rand dieses durch Felsblöcke und Steintrümmer verkleideten Gemäuers und trat als Vorder-, Mittel- und Hinterrhein in eine grossartige Alpenlandschaft ein, deren höchste Gipfel sich mindestens sechs Fuss hoch über die umliegende Ebene erhoben. Dass in den Thälern und an den Hängen dieses Gebirges nur Alpenpflanzen, wie Edelweiss, Enzian, Alpenglöckchen, Alpenrosen, Alpenveilchen, Edelraute und dergleichen wuchsen, ist selbstverständlich. Hatten sich nun die drei fadendünnen Gerinnsel zum wirklichen Rhein vereinigt, so trat dieser sehr bald in den stattlichen und langgestreckten Bodensee ein. Es zuckte uns oft sehr in den Beinen, diesen prächtigen See zu überspringen, und nur die Ueberlegung hielt uns von dieser hasenfüssigen That zurück, dass Onkel Philipp das als eine schwere Kränkung empfunden haben würde. Gab es ihm doch schon immer einen Stich durch das Herz, wenn man diesen Rheinstrom anderswo als auf den eigens dazu angelegten Brücken zu überschreiten wagte. Im Bodensee lebte eine Anzahl sehr stattlicher Goldfische, denn die Forellenzucht hatte sich leider als zu schwierig erwiesen. Nicht sehr weit hinter ihm war dann natürlich der Rheinfall, wo der stattliche Strom anderthalb Fuss breit über einen glatten Stein schäumend in einen kochenden und wirbelnden, mindestens drei Fuss tiefen Abgrund stürzte. An ganz stillen Tagen konnte ein sehr scharfes Ohr den Donner dieses Falles fast durch den ganzen Garten vernehmen. Dort hatte Onkel Philipp ein Bänkchen und einen Tisch, und wenn ihn einmal die Lust ankam, Betrachtungen anzustellen über die Ewigkeit, über die Vergänglichkeit alles Irdischen oder die Erhabenheit des Weltalls, so fand er, dass dergleichen hier am besten zu erledigen ging, während er aus einem echt türkischen Tschibuk gelben gelockten Tabak dazu rauchte. In ruhigerem Laufe zog dann hinter dem Falle der Rhein dahin, vorüber am Schwarzwald, Odenwald, Taunus, Hundsrück und so weiter, bis er langsam und träge Holland, eine blumige Wiese am Ufer des Sees, in mehreren Armen durchkroch, um endlich in die Nordsee zu münden. Dass die kleineren Gebirge an seinen Ufern mit den Pflanzen des Mittelgebirges bis hinunter zur Ebene bestanden waren, versteht sich wiederum von selbst. Diese ganze sinnreiche Anlage hatte aber einen Uebelstand, der Onkel Philipp manchen Kummer bereitete. Wurde bei besonderen festlichen Gelegenheiten der Springbrunnen losgelassen, und hatte dieser nur eine kurze Weile mit seiner goldenen Kugel gespielt, so machte der vermehrte Wasserverbrauch, dass der Vorder-, der Mittel- und der Hinterrhein alsbald versiegten, so dass die Speisung des Bodensees aufhörte und dieser den Rheinfall nicht mehr zu versorgen vermochte. Nach einer Viertelstunde war dann der ganze Rhein bis auf ein paar kleine Tümpelchen weggelaufen, und der Rheinfall tropfte nur noch ein wenig, als weine er über seine eigene Unzulänglichkeit. Die Erhabenheit des Wasserfalles und die Lieblichkeit des Springbrunnens schlossen sich aus, beide zusammen konnte man nicht geniessen.

Als Onkel Philipp uns von seinem Simulierplatz am Wasserfall aus bemerkte, stand er auf und ging mit uns in die Lindenlaube, wo eine Flasche und ein Fässchen mit köstlicher Gallustinte und einige Bücher schon auf uns warteten. Aber anstatt sich mit uns sofort in den Strudel der Wissenschaften zu stürzen, liess er es heute sachte angehen und examinierte uns noch ein wenig über unsere Erlebnisse auf dem Uhlenberge. »Habt ihr die Orchideen nicht gesehen, so habt ihr nichts gesehen«, sagte er im Laufe dieses Gespräches und wiederholte, wie in tiefem Sinnen, als ob er all diese Herrlichkeiten im Geiste schaue: »habt ihr gar nichts gesehen, gar nichts gesehen. Wisst ihr, was Orchideen sind, wisst ihr?«

»Orchis maculata!« rief ich.

»Epipactis rubiginosa!« rief Adolf, offenbar stolz, dass er den krausen lateinischen Ausdruck bei der Hand hatte.

Onkel Philipp lachte und rief: »Jeja, jeja, das sind einheimische Orchideen, kleine, kümmerliche Dinger, wachsen hier in der Gegend auf der Reuterwiese und auf dem Rugahner Sandberg und in den Hasenhören. Aber Herr Wohland hat tropische Orchideen, tropische! Sind Wunderblumen wie aus ›Tausend und einer Nacht‹, Wunderblumen! Sehen aus wie riesige Schmetterlinge oder bunte Kolibris, und manche sind geformt wie aus gefärbtem durchsichtigem Wachs und sehen ganz unmöglich aus, dass man sagt, es ist nicht wahr, wenn man sie sieht, die Blumen sind gelogen. Prachtvoll, sag' ich euch, ganz ungemein prachtvoll, übernatürlich prachtvoll. Hab' sie gesehen in England, Hamburg und Berlin, aber in England waren die schönsten. Kommt dem Engländer auf 'ne Handvoll Guineen nicht an, wenn er dafür haben kann, was andre Leute nicht haben, kommt ihm nicht darauf an. Bezahlt Reisende, die ihm solche unmöglichen Dinger sammeln müssen im unbekannten Urwald zwischen Giftschlangen und Kopfabschneidern – Giftschlangen und Kopfabschneidern sag' ich!«

Hier wurde er durch ein kleines Dorfmädchen unterbrochen, das den Gartensteig herunterkam in einer eilfertigen, geschäftsmässigen Weise, dass man gleich sah, wie es ganz unter der Hypnose eines ihm gewordenen Auftrages stand. Es trat an den Tisch heran, schoss, scheinbar von einem innern Schnappwerk getrieben, zu einem Knicks zusammen, hob die ängstlich zusammengeballte kleine Faust auf den Tisch, liess ein warmes Kupferstück herausfallen und sagte: »För 'n Dreiling (eineinhalb Pfennig) Dint!«

»Hest denn ok 'ne Buddel, lütt Diern?« fragte Onkel Philipp.

»'n Köppken heww ick,« sagte das Kind und brachte eine henkellose Tasse mit einem Riss zum Vorschein. Während er nun ein wenig von der schwarzen Flüssigkeit in dieses sonderbare Gefäss goss, fragte er: »Kannst du denn all schrieben?«

Die Kleine, die sich unterdes aus dem Zeigefinger fortwährend Mut gesogen hatte, nahm diesen aus dem Munde und antwortete, sichtlich verwundert über die Unwissenheit dieses Mannes in den bekanntesten Dingen: »Ick kam doch ierst tau Micheel bi 'n Köster. Un dei Dint is doch för uns' Trina. Dei will doch an ehrn Brüjam schrieben.«

»Szü, szü, wo nüdlich«, sagte Onkel Philipp, »wahnt denn ehr Brüjam in 'n anner Dörp?«

‹Wat dei Mann ok all nich weit!‹ dachte offenbar die Kleine, ehe sie antwortete: »Hei deint doch bi de Dreiguners in Lurwigslust. Un hett 'n blagen Rock an mit 'n roden Kragen un blanke Knöp, un 'n groten Säbel hett hei ganz von Sülver un sonne feine Stäwels, un wenn hei geiht, denn klingelt dat.«

»Nu, szü mal an!« sagte Onkel Philipp, »denn is dat woll Krischan Kiwitt? Na, denn segg man jug Trina, wenn sei an em schriwwt, denn sall sei em von mi grüssen; hürst woll, lütt Diern? Un nu gah ok schön langsam mit dei Dint, und schurr di nix von up dei Schört, un fall nich äwern Süll.«

Die Kleine bedankte sich und machte wieder einen Knicks, aber vorsichtig, dem kostbaren Inhalt ihrer Tasse entsprechend, und ging dann fort, einen Fuss dicht vor den andern setzend und die Augen andächtig auf die schwarze Flüssigkeit gerichtet, als trüge sie den heiligen Gral. Es dauerte über eine Minute, ehe sie aus der Sicht kam, und Onkel Philipp sah ihr wohlwollend nach, denn es schmeichelte ihm stets, wenn man von seiner Tinte begehrte.

Wir hofften auf einige weitere Mitteilungen über das Leben eines Orchideensammlers, das wir uns in reizvoller Weise mit Giftschlangen- und Kopfabschneiderabenteuern durchflochten dachten, allein diese Hoffnung schlug fehl, denn durch den Tintenhandel schien Onkel Philipp an den eigentlichen Zweck dieser Stunden erinnert worden zu sein und steuerte ohne Gnade auf den Cornelius Nepos los. Bald radebrechten wir mit höchst mässigem Interesse an der Sache unser Latein, wie vor uns schon ungezählte Millionen junger unglücklicher Opfer des Humanismus. Wenn der alte Cornelius Nepos in seinem, wie ich denke, behaglichen Jenseits erfahren könnte, welches Leid und welche Langweile er über die geplagte Jugend späterer Jahrhunderte gebracht hat, und wieviel Stunden, die zu Lust und Freude hätten geschaffen sein können, er gleich Gummi zu unendlicher Länge gedehnt hat, wieviel »Jagdhiebe« seinethalben schon niedergesaust sind auf jugendliche Schultern, würde er dann wohl noch wünschen, seine Vitae geschrieben zu haben? Ich nehme zu seiner Ehre an – nein.

Und doch, sollte dieser alte Heide ganz unzugänglich sein jenem unchristlichen, aber sprichwörtlich süssen Gefühle, das man Rache nennt? Würde es ihn nicht am Ende doch freuen und ihm einen diebischen Spass machen, dass er den Nachkommen jenes Volkes, das einst die Macht des Römischen Reiches brach und vernichtete, noch nach Jahrhunderten und durch Jahrhunderte das Leben verbitterte, seine Träume vergiftete und seine blühende Jugend mit Vokabeln ängstigte? Eine wohl aufzuwerfende Frage.

Aber auch diese vier Stunden, die im Gegensatz zu den vergangenen vergnüglichen Ferienwochen sich zu unendlicher Länge dehnten, gingen endlich vorüber, und als wir vergnügt davonrannten, trafen wir isern Hinrich, der vor der Gartenthür auf uns wartete. Nach den feierlich vollzogenen Begrüssungsformalitäten sagte er: »Up 'n Uhlenbarg is dat dull hergahn. Wat gawt ji mi, wenn ick jug dat vertell?«

Isern Hinrich war merkantilisch veranlagt und »schuterte« gern mit uns, wobei wir meist den kürzeren zogen. Auch hatte er, wie man sieht, bereits begriffen, dass es auch Waren geistiger Natur giebt, und dass die Kenntnis von Neuigkeiten sich fruktifizieren lässt. Obwohl uns nun Nachrichten vom Uhlenberge sehr interessierten, so fingierten wir doch, in der Hoffnung, den Preis zu drücken, einen gänzlichen Mangel an Neugier und boten ihm zunächst jeder einen »Backs« dafür.

»Makt kein Spijök!« sagte er, »von Driebenkiel ganz wat Dulls! Acht Appels von den groten Sommerschiebenboom in 'n Pastergoren, dorför dauh 'k 't.«

»Wir handelten bis auf sechs herunter, wobei isern Hinrich sich aber Aussuchen bedang, gingen dann hin und schüttelten den mächtigen Baum, der in diesem Jahr ungemein reich trug, so dass wir mit aller Mühe und Aufopferung seine uns gänzlich überlassenen Früchte noch nicht hatten bewältigen können. Die Sommerscheiben waren überreif und schon ein wenig »glarig«, das heisst durchscheinend, und mit Behagen sammelte sich isern Hinrich die sechs grössten und schönsten heraus. Wir setzten uns auf eine benachbarte Bank, und während wir von Zeit zu Zeit kräftig in die Apfel bissen, begann isern Hinrich zu erzählen.

»Driebenkiel wir gistern werre hier«, sagte er. »Herr Wohland hett em schasst un aflohnt, hei hett sin Greld kragen bet Micheel.«

Die Pause unsrer Verwunderung benutzte er, einen ungeheuren Apfel zu essen, während er mit dem zweitgrössten liebäugelte.

»Ja«, fuhr isern Hinrich fort, »gistern Namiddag kümmt Driebenkiel mit eins bi uns an tau stahn, lett sick 'n groten Akkewiet gäben un seggt tau mi: ›Jung, ick gäw di ok 'n Schilling‹, seggt hei, gah mal hen un segg Jochen Nehls, hei süll mal 'n beten 'rümkamen un 'n Sluck mit mi drinken.‹ Ick jo nu ok hen un drap Jochen Nehls bi 't Maddick graben, wil dat hei s' abens rutführn wull tau 'n Angeln. As ick em dat nu segg, lett hei allens liggen un stahn un kümmt gliek mit mi, denn wo 't wat tau supen gift, is hei fix bi dei Hand. Na, dor hett em Driebenkiel jo nu allens verteilt, un ick seet achterm Aben un dehr, as wenn ick gor nich dor wir, un heww allens hürt. Driebenkiel, dei allerhand kann, 'n beten muern, 'n beten dischern, 'n beten gärtnerieren un wat dat süss noch gift, dei hett vor drei Wochen mal in 'n Winkeller tau dauhn hatt, wil dat Herr Wohland 'n poor niege Winburten von em maken laten dauhn dehr. Hei wir süss nich för Win, sär Driebenkiel, hei wir em tau suer un harr kein Kraasch; 'n düchtigen Rum wir em leiwer. Dor harr nu äwer in ein Eck von den Keller so 'n Hümpel von vierkantige Buddels lägen, ganz vull Stow un Spennwäben, dei harren em so anners ankäken, as wenn dor mäglich woll Snapps in sin dauhn dehr. Dor hett hei sich ein von ünner dei Jack knöpt un mit rup nahmen, un abens nah Disch hett hei ehr upmakt un dorvon drunken. Un dor is dat doch Win wäst. ›Junge di!‹ sär Driebenkiel tau Jochen Nehls, ›nu kreeg ick ierst tau weiten, wat Win is. Dei güng mi dei Gördel dal as idel säut Füer un leep mi dörch 't ganze Liew bet in dei Knäwel un bet in dei Tehn. Un wat för 'ne vergnäugte Duhniteh geew dat; as ick dei Buddel utharr, dacht ick, ick hürt dei Engel in 'n Himmel singen.‹ Na, den annern Dag hett sick Driebenkiel so ein bi ein noch fiew von dei Buddels mit rup nahmen, un sei in 't Hauschuer ünner dei Hubelspön verstäken. Un dei hett hei denn na un na so sachten utlutscht. Un hebben em ganz gefehrlich na mihr smekt, äwer dat oll grote Kunstslott hett nu all werre for den Keller bammelt, un hei hett dor nich bikamen künnt. Na, dat wir jewoll ok all ganz gaud gahn, meint Driebenkiel, wenn dei infamtigen, wittsnutigen Karnalljen von Bengels – dor meint hei jug mit – donn nich dat in 't Water fallen kragen harren. Dor is nahst Herr Wohland in 'n Keller gähn un hett ein von dei vierkantigen Buddels ruphalt, wil dat hei dei sakermentschen Krätendinger, dei gälen Snäsels – dor meint er jug mit – mit den Win 'n beten werre upwarmen wull. As wenn Kamellenthee nich gaud naug wir för sonne kalwerigen Dämelacks, dei achter dei Uhren noch nich drög sünd – dor meint hei jug mit. As Herr Wohland nu den Win halt hett, is em dat all so vorkamen, as wenn dor wen bi wäst wir un as Driebenkiel jug na Hus führt hett, dor hett hei natellt, un söss Buddels hebben fehlt. Donn hett hei nasöcht in Driebenkiel sin Kamer un in 't Hauschuer un dor hett hei achter dei Hubelspön dei söss lerrigen Buddels funnen un is in 'ne gruglige Wut kamen. As nu Driebenkiel so 'n bäten duhn na Hus kamen dauhn dehr und Herr Wohland em dat mit den Win up 'n Kopp tauseggen dauhn dehr, dor hett hei ierst noch leigen wullt un upbegehrt. Dor hett em Herr Wohland äwer dei söss leddigen Buddels wiest, un dor is 't ut wäst. Herr Wohland hett em so ankäken, dat Driebenkiel sick vor em grast hett, un hei hett sin poor Plünnen gliek tausamenpacken müsst, und den annern Dag hett hei ut 'n Hus' müsst. Hei hett hürt, wo Mamsell Kallmorgen tau Stina seggt hett: ›Warum nimmt er aber auch von den Herrn sein Inselwein, wo er sich so mit hat, un was ein Heiligtum for ihn is? Um sechs Buddel von seinen gewöhnlichen Schatoh da hätt' er gar keine Wirtschaft gemacht. Un nahst sär Driebenkiel: ›Un dat ganze Mallühr kümmt doch man blot von dei däsigen Snappenlickers von Jungs her‹ – dor meint hei jug mit –, ›un krieg' ick dei mal tau faten, denn will ick sei so mit dei Snuten tausamen stöten, dat sei den Mand för 'n Bodderfatt anseihn sälen.‹«

Es war bemerkenswert, zu hören wie isern Hinrich die reichlichen und saftigen gegen uns gerichteten Injurien in gehobenem Tone vorbrachte, sozusagen zweimal unterstrichen und mit dem Behagen eines Feinschmeckers, der köstliche Austern schlürft. Dann fuhr er fort: »Un donn füng Driebenkiel an tau snacken von Herrn Wohland sin'n Giez, dat hei von söss Buddel Win so 'n Upheben maken dauhn dehr, un füng an tau swögen von sin väles Geld, un wenn hei, Driebenkiel, dat hebben dehr, denn süll dat 'n annern Swung kriegen. Un tauletzt kreegen sei dat mit dat Tuscheln un Flustern, dat ick nix mihr verstahn künn, blot wennigmal so ein Wurt von 'n ›Wandschapp ünner dat Bild‹ un ›Diamanten un Rubins‹, un von ein 'n ›Jubelierer ut Hamborg‹ un ›hunnertdusend Daler‹ un 'n ›Johannitermln‹ un ›Geldhalen ut Hamborg‹ un donn müsst em Jochen Nehls dei Hand gäben un wat swören, wat ick nich verstahn künn, und donn füng Driebenkiel so liesing an tau tuscheln, dat ick nix mihr hüren künn blot as ick mal so sachting um dei Eck von den Aben schulen dauhn dehr, dor seeg ick, dat Jochen Nehls sin Gesicht ganz witt wir, un dat hei utseeg, as wenn hei sick gräsen dehr. Driebenkiel tusche äwer ümmer wiere, bet min Oll inkeem un mi na 'n Goren schicken dehr. Nahst, as ick werre rinkamen dauhn dehr, wiren sei beir' all weg.«

Damit war isern Hinrichs Bericht zu Ende, und da er in den häufigen Pausen, die er zur Erhöhung der Spannung machte, nicht müssig gewesen war, hatten auch die Sommerscheiben ihren Beruf erfüllt. Wir drückten unsre Zufriedenheit über diese wertvollen Nachrichten dadurch aus, dass wir ihm nachträglich seine ursprüngliche Forderung bewilligten und ihm aus freien Stücken zwei prachtvolle Äpfel nachlieferten, worüber er nicht geringe Befriedigung empfand.

Wir trennten uns, indem wir die Hoffnung aussprachen, dass es Driebenkiel niemals gelingen möge, uns durch seine angedrohten Experimente die Ähnlichkeit des Mondes mit einem Butterfass einleuchtend zu machen.


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