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Zehntes Kapitel.

Rose, von Natur eines der uneigennützigsten und liebevollsten Mädchen, überlegte schnell, in welcher eigentümlichen Lage ihre Gebieterin sich befand und wie große Zurückhaltung bisher zwischen ihr und ihrem jugendlichen Schirmvogt bestanden hatte. Sie stellte daher sogleich ihre Betrachtungen darüber an, was nun mit dem verwundeten Ritter geschehen sollte. Doch als sie zu Eveline heranritt, um ihr diese wichtige Frage vorzulegen, fehlte ihr fast der Mut dazu.

Auch war Eveline von dem Abenteuer so angegriffen, daß es fast eine Grausamkeit gewesen wäre, ihr Augenmerk auf irgendwelchen Gegenstand der Sorge zu lenken, bevor sie Zeit gefunden, sich von der eben noch ausgestandenen Angst zu erholen. Ihr Angesicht war totenbleich, außer wo es mit Blutstropfen befleckt war: ihr Schleier war zerrissen und in Unordnung, beschmutzt mit Staub und geronnenem Blut; ihr wild zerzaustes Haar fiel in verwirrten Locken auf Stirn und Schulter; eine einzige zerknickte Feder war alles, was von ihrem Reithut übrig geblieben, und hatte sich in ihrem Haar verfangen, wo sie nun, mehr zum Spott als zum Schmucke, im Winde flatterte. Ihre Augen hefteten sich auf die Bahre, auf welcher Damian lag, sie ritt dicht an seiner Seite, ohne dem Anschein nach für irgend etwas anderes, als für die Gefahr dessen, der hier ausgestreckt lag, Sinn zu haben.

Rose begriff, daß ihre Gebieterin in allzu aufgeregter Stimmung war, um sich über ihre Lage klar zu werden. Sie suchte allmählich ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken. »Teuerste Gebieterin,« sagte sie, »wäre es Euch nicht gefällig, meinen Mantel umzunehmen?«

»Quäle mich nicht,« antwortete Eveline in einem etwas scharfen Tone.

»In der Tat, meine Gebieterin,« sagte Dame Gillian, sich mit Geräusch hervordrängend, als ob sie fürchtete, man wolle ihrem Amte als Garderobemeisterin Eintrag tun. »In der Tat, meine Gebieterin, Rose Flammock hat recht, weder Euer Mieder noch Euer Rock sitzen, wie sie sollten. Wenn also nur Rose ihr Pferd ein wenig aus dem Wege lenken will, so werde ich mit ein paar Nadeln Euern Anzug wieder in Ordnung bringen.«

»Was frage ich nach meinem Anzug?« erwiderte Eveline im selben Tone wie zuvor.

»So fragt nach Eurer Ehre, nach Eurem Rufe,« sagte Rose, dicht an ihre Gebieterin reitend und es ihr ins Ohr flüsternd. »Bedenkt, und zwar schnell, wohin der verwundete junge Mann gebracht werden soll.«

»Nach dem Schlosse,« antwortete Eveline ganz laut, als ob sie gleichsam die Ziererei des Geheimnisses verachte. »Führt uns zum Schlosse, und das auf dem kürzesten Wege!«

»Warum nicht lieber in sein Lager oder nach Malpas?« sagte Rose; »teuerste Gebieterin, glaubt mir, das wird das beste sein.«

»Warum nicht – warum nicht? – Warum ihn nicht lieber an der Landstraße liegen lassen, als willkommene Beute für das Messer eines Welschen oder den Zahn eines Wolfes? – Ein- Zwei-, dreimal ist er mein Retter gewesen. Wohin ich gehe, soll er gehen, und ich will nicht einen Augenblick früher in Sicherheit sein, als ich weiß, daß er es ist.«

Rose sah, daß sie keinen Eindruck auf ihre Gebieterin machte, und ihre eigene Ueberlegung sagte ihr, des Verwundeten Leben könne gefährdet werden, wenn der Transport unnötig in die Länge gezogen wurde. Ein Ausweg fiel ihr ein, dem vorzubeugen; doch war es notwendig, deshalb ihren Vater zu befragen. Sie gab ihrem Zelter die Reitgerte, und in einem Augenblick war ihr winziges, aber schönes Figürchen und ihr feuriger, kleiner Zelter an der Seite des riesigen Flamländers und seines großen schwarzen Rosses, und sie ritt sozusagen in deren breitem Schatten. »Mein teuerster Vater,« sagte Rose, »die Lady hat die Absicht, Sir Damian nach dem Schloß bringen zu lassen, wo er dann wahrscheinlich sehr lange wird verweilen müssen. – Was denkt Ihr davon? – Wird das gut sein?«

»Für den jungen Mann gewiß, Röschen;« antwortete der Flamländer, »er wird um so mehr der Gefahr des Fiebers entgehen.«

»Wohl wahr! Ist es aber auch verständig von meiner Gebieterin?« fuhr Rose fort.

»Verständig genug, wenn sie verständig verfährt. – Aber weshalb zweifelst Du an ihr, Röschen?«

»Ich weiß nicht,« sagte Rose, die selber gegen ihren Vater ungern ein Wörtchen von Furcht und Zweifel wollte fallen lassen, »aber wo es böse Zungen gibt, da gibt's auch Böses zu erzählen. Sir Damian und meine Gebieterin sind sehr jung. – Es wäre wohl viel besser, lieber Vater, so denke ich, Ihr bötet dem verwundeten Ritter Eures Daches Schutz an, statt daß er nach dem Schlosse gebracht werde.«

»Das werde ich nicht tun, Dirne,« antwortete der Flamländer etwas heftig. »Das werde ich nicht tun, wenn ich's vermeiden kann. Der Normann soll nicht über meine friedliche Schwelle kommen, der Engländer noch weniger, um sich über mein einfaches, sparsames Leben aufzuhalten und meinen Vorrat zu verzehren. Du kennst sie nicht, weil Du immer bei Deiner Lady und in ihrer Gunst bist. Aber ich kenne sie wohl, und das Beste, was ich noch von ihnen erlangen konnte, war ›fauler Flandersmann‹ und ›flämischer Tölpel‹ tituliert zu werden. – Ich danke allen Heiligen, daß sie seit des Welschen Gwenwyns Aufstand nicht mehr sagen können, ›flämische Memme‹.«

»Ich habe stets geglaubt, mein Vater,« erwiderte Rose, »Ihr wäret zu verständig, um auf diese niedrigen Verleumdungen zu achten. Gedenkt, wir gehören zum Banner dieser Lady, sie ist stets meine liebevolle Gebieterin gewesen, und ihr Vater war Euer guter Herr; selbst dem Connetable seid Ihr verpflichtet, denn er hat Euer Privilegium erweitert. Mit Geld kann man Schulden bezahlen, aber Freundlichkeit kann man nur mit Freundlichkeit vergelten. Und ich sage es Euch vorher, Ihr werdet nie mehr eine solche Gelegenheit haben, dem Hause der Berenger und de Lacy Gutes zu erweisen, als wenn Ihr die Türe Eures Hauses dem verwundeten Ritter öffnet.«

»Die Tür meines Hauses?« antwortete der Flamländer. »Weiß ich denn, wie lange ich dieses oder irgend ein Haus auf Erden mein eigen nennen kann? Ach! meine Tochter, wir zogen hierher, um der Wut der Elemente zu entfliehen, aber wer weiß, wie bald wir durch die Raserei der Menschen umkommen können.«

»Ihr sprecht sonderbar, mein Vater,« sagte Rose. »Es stimmt nicht mit Eurer sonst so sichern Einsicht überein, aus dem plötzlichen Ueberfall eines welschen Freibeuters ein so allgemeines Unglück zu weissagen.«

»Ich denke nicht an den einäugigen Räuber,« sagte Wilkin, »obgleich die wachsende Frechheit solcher Räuber wie Dawfyd kein gutes Zeichen für die Ruhe im Lande ist. Aber Du, die Du in jenen festen Mauern lebst, vernimmst nur wenig, was draußen vorgeht, und Euer Zustand ist daher sorgenloser. Du hättest auch diese Nachrichten nicht von mir erfahren, es sei denn, daß ich es für nötig gefunden, mich in ein anderes Land zu begeben.«

»Euch wegbegeben, mein teuerster Vater, von einem Lande, wo Eure Betriebsamkeit und Sparsamkeit Euch ein so ehrenvolles Auskommen verschafft haben?«

»Ja, und wo der Hunger von Bösewichtern, welche mir den Ertrag meiner Arbeit beneiden, mir leicht einen ehrlosen Tod bereiten kann. Es sind unter dem englischen Pöbel in mehr als einer Grafschaft Unruhen ausgebrochen, die Wut des Volkes richtet sich gerade gegen unsere Nation, als ob wir Juden oder Heiden wären und nicht bessere Christen und bessere Menschen als sie selbst. Zu York, Bristol und anderswo haben sie die Häuser der Flamländer gestürmt, ihr Gut geplündert, ihre Familien gemißhandelt, und selbst ermordet. Und warum? Wahrscheinlich nur deswegen, weil wir Künste und Gewerbe zu ihnen brachten, die sie vorher nicht kannten, und weil ein Wohlstand, den sie ohne uns nie in Britannien erblickt hätten, der Lohn für unsere Kunst und Mühe wurde. Röschen, dieser böse Geist verbreitet sich täglich mehr. Hier zwar sind wir sicherer als sonst irgendwo, weil wir eine ziemlich zahlreiche und starke Kolonie bilden. Aber ich traue unsern Nachbarn nicht, und wärest Du, Rose, nicht in Sicherheit gewesen, schon lange hätte ich dieses alles aufgegeben und Britannien verlassen.«

»Alles aufgegeben, und Britannien verlassen!« Wundersam klangen diese Worte in den Ohren seiner Tochter, die am besten wußte, wie es ihrem Vater mit seiner Betriebsamkeit geglückt war, und wie es seinem festen und ruhigen Charakter gar nicht ähnlich sah, sichere und gegenwärtige Vorteile aus Furcht vor entfernter oder möglicher Gefahr aufzugeben. Endlich erwiderte sie: »Droht diese Gefahr wirklich, mein Vater, so scheint es mir, Euer Haus und Eigentum kann keinen bessern Schutz finden, als die Gegenwart dieses edlen Ritters. Wo lebt der Mann, der irgend eine Gewalttat gegen das Haus wagen wollte, welches Damian de Lacy beherbergt?«

»Das weiß ich doch nicht!« sagte der Flamländer in demselben gesetzten, aber doch abweisenden Tone. »Möge der Himmel es mir vergeben, wenn es Sünde ist! aber ich sehe nichts wie Narrheit in diesen Kreuzzügen, die die Priester so erfolgreich gepredigt haben. – Da ist nun der Connetable fast drei Jahre schon abwesend, und wir erhielten keine sichere Nachricht, ob er lebt oder tot ist, ob er gesiegt hat oder eine Niederlage erlitt. Er zog aus, als ob er gesonnen sei, nicht eher abzuzäumen oder das Schwert einzustecken, bis das heilige Grab den Sarazenen entrissen wäre, und wir hören jetzt nichts davon, ob den Sarazenen auch nur ein Dorf genommen wurde. Während der Zeit wird das Volk zu Hause immer mißvergnügter – ihre Herren mit dem besten Teile ihres Geleites sind in Palästina, ob tot oder noch am Leben, ist schwer zu wissen – sie selbst werden unterdrückt und geschunden von Haushofmeistern und Stellvertretern, deren Joch nie so leicht ist und nie so leicht ertragen wird wie das des wirklichen Herrn. Die Bürgerlichen, die natürlich die Ritter und den Adel hassen, halten den Zeitpunkt für günstig, ihnen die Spitze zu bieten – ja, es gibt auch einige von edlem Blut, die sich nichts daraus machen, sie anzuführen, um ihren Teil an der Beute zu haben. Die Abenteuer in der Fremde und die Gewöhnung an ein liederliches Leben haben viele arm gemacht; und wer arm ist, wird für Geld den eigenen Vater morden. Ich hasse arme Leute, und ich wollte, der Teufel holte einen jeden, der sich nicht mit seiner Hände Arbeit ernähren kann!«

Der Flamländer beschloß mit diesem charakteristischen Fluch eine Rede, die seiner Tochter eine so furchtbare Schilderung vom Zustande Englands gab, wie sie in der Einsamkeit von Garde Douloureuse noch nie zu vernehmen Gelegenheit gehabt hatte. »Sicherlich,« sagte sie, »sind derartige Gewalttätigkeiten nicht von denen zu befürchten, die unter dem Banner de Lacys und Berengers stehen!«

»Berenger besteht nur noch dem Namen nach,« antwortete Wilkin Flammock, »und Damian, wiewohl ein wackerer junger Mann, steht an Charakter und Ansehen noch lange nicht so hoch wie sein Oheim. Auch beklagen sich seine Leute, daß sie unnütz geplagt werden, ein Schloß zu bewachen, das an sich uneinnehmbar ist und eine hinlängliche Besatzung hat. Sie führten hier ein tatenloses, unrühmliches Dasein und verlören alle Gelegenheit zu ehrenvollen Taten, wie sie es nennen, worunter sie aber nur Raufen und Plündern verstehen. Sie sagen, Damian, der Bartlose, war ein Mann, aber Damian mit dem Knebelbart ist nicht viel mehr als ein Weib, und die Jahre, die seine Oberlippe dunkel machten, haben zugleich seinen Mut gebleicht. – Und sie sagen noch mehr, aber es ist zu langweilig, davon zu reden.«

»Gut! aber doch laßt mich wissen, was sie sagen! Laßt's mich wissen, um des Himmels willen!« anwortete Rose, »wenn es, wie es der Fall sein muß, meine treue Gebieterin betrifft.«

»So ist es, Röschen,« antwortete Wilkin, »da gibt es viele unter den normannischen Kriegern, die erzählen sich's, so beim Weinkruge, daß Damian de Lucy ein Liebesverhältnis mit der Braut seines Oheims habe: ja, und daß sie miteinander verkehrten durch – Zauberkünste.«

»Durch Zauberkünste! Wahrhaftig, so muß es sein,« sagte Rose, verächtlich lächelnd, »denn durch irdische Mittel stehen sie in keiner Gemeinschaft, das kann ich bezeugen,«

»Demzufolge schreiben sie es der Zauberkunst zu,« sagte Wilkin Flammock, »daß de Lacy, sobald nur Mylady sich aus dem Schloßtor herausrührt, auch gleich mit seinen Leuten im Sattel ist, wiewohl sie es ganz genau wissen wollen, daß er weder durch einen Boten, noch durch einen Brief, noch auf sonst welchem gewöhnlichen Wege, Nachricht von ihrer Absicht erhalten hat. Auch waren sie jedesmal nur kurze Zeit in den Bergpässen herumgeritten, so hörten oder sahen sie auch schon, daß Lady Eveline außerhalb des Schlosses sei.«

»Das ist mir nicht entgangen,« erwiderte Rose, »und Mylady hat bisweilen ihr Mißvergnügen gezeigt, daß Damian so sorgfältig sich Kenntnis von allen ihren Bewegungen zu verschaffen wüßte und sie dann mit einer so zudringlichen Pünktlichkeit beobachtete und beschützte. Der heutige Tag jedoch hat es bewiesen,« fuhr sie fort, »daß seine Wachsamkeit sehr am Platze ist. Da sie aber selbst bei solchen Gelegenheiten nie zusammenkamen, sondern sich immer in einer solchen Entfernung hielten, daß jede Möglichkeit, sich zu sprechen, ausgeschlossen war, so hätte ich denken sollen, daß auf beide kein Verdacht fallen könnte.«

»Ach, Tochter Röschen,« erwiderte Wilkin, »man kann bisweilen auch die Vorsicht so weit treiben, daß eben dadurch Argwohn erregt wird. Warum, sagen die Reisigen, müssen sie denn immer so förmlich gegeneinander sein? Warum müssen sie sich immer so nahe sein und dürfen doch nie zusammenkommen? Wären sie sich gegenseitig nichts mehr als der Neffe und des Oheims Braut, so dürften sie öffentlich und frei miteinander umgehen; und sind sie anderseits heimliche Liebesleute, so ist doch anzunehmen, daß sie im geheimen zusammentreffen, obwohl sie dies sehr schlau zu verbergen wissen.«

»Jedes Wort, das Ihr sprecht, mein Vater, macht es unumgänglich notwendig, daß Ihr den verwundeten jungen Mann in Euer Haus aufnehmt. Mögen die Uebel, die Ihr fürchtet, noch so groß sein, so könnt Ihr Euch doch darauf verlassen, sie werden nicht dadurch vermehrt, daß Ihr ihm und einigen wenigen seiner treuen Begleiter Obdach gewährt.«

»Seinen Begleitern nicht!« sagte der Flamländer heftig, »Nicht einem von ihnen! Nur dem Pagen, der ihn bedient, und dem Arzt, der ihn behandelt.«

»So kann ich also Euer Dach wenigstens den dreien anbieten?« sagte Rose.

»Tu, was Du willst! Tu, was Du willst!« rief der sie so innig liebende Vater. »Bei meiner Treu, Röschen, es ist sehr gut, daß Du in allen Deinen Forderungen verständig und bescheiden bleibst, weil ich doch mal so närrisch bin, Dir alles gleich zuzugestehen. Das ist nun wieder einmal eine Deiner wunderlichen Regungen von Großmut und Ehre – mir gegenüber freilich stellst Du es als Klugheit und Rechtlichkeit hin. Ach, Rose, Rose, die, welche mehr noch als das Gute tun wollen, bringen zuweilen etwas hervor, was übler ist als das Böse. – Aber ich denke, ich werde diesmal mit der Furcht davonkommen, denn Deine Gebieterin, die, mit allem Respekt zu sagen, ein bißchen abenteuerlich veranlagt ist, wird schon eigensinnig auf das ritterliche Vorrecht bestehen, ihren Ritter in ihrem eigenen Gemach aufzunehmen und ihn in Person zu pflegen.«

Der Flamländer hatte recht prophezeit. Kaum hatte Rose Evelinen den Vorschlag getan, den verwundeten Damian bis zu seiner Wiederherstellung in ihres Vaters Hause zu lassen, als ihre Gebieterin kurz und entschieden das Anerbieten verwarf. »Er ist mein Erretter gewesen,« sagte sie, »und gibt es ein Wesen, vor welchem die Tore von Garde Douloureuse von selbst aufspringen müßten, so ist es Damian de Lacy. – Nein, Jungfer, wirf nicht auf mich einen so argwöhnischen, bekümmerten Blick. – Wer über Verstellung erhaben ist, Mädchen, verachtet den Argwohn, Gott ist's und Unsere Frau, denen ich Rechenschaft schuldig bin, und vor ihnen liegt mein Herz offen!«

Sie gelangten schweigend zu dem Burgtore, woselbst Lady Eveline Befehl erteilte, daß ihr Beschützer, wie sie mit Nachdruck Damian nannte, ihres Vaters Gemach bewohnen sollte; und mit der Klugheit eines reifern Alters gab sie die nötigen Anweisungen für die Aufnahme und Bequemlichkeit seiner Begleitung. Alles tat sie mit der größten Fassung und Geistesgegenwart, noch ehe sie ihre eigene, in Unordnung geratene Kleidung wechselte.

Noch ein Schritt blieb ihr zu tun übrig. Sie eilte zu der Kapelle der Jungfrau, und sich vor ihrer heimlichen Beschützerin niederwerfend, brachte sie ihr Dank für ihre zweite Befreiung dar und flehte um ihren Schuh und durch ihre Fürsprache um den Beistand des allmächtigen Gottes in all ihren Zweifeln, wie sie fernerhin sich verhalten sollte. »Du weißt«, sagte sie, »daß ich nicht in übermütigem Vertrauen auf meine eigenen Kräfte mich in Gefahr begeben habe. O mache mich stark, wo ich am schwächsten bin! Laß meine Dankbarkeit und mein Mitleid nicht einen Fallstrick für mich sein, und während ich dahin strebe, die Pflichten zu erfüllen, die mein dankbares Herz mir auferlegt, errette mich von den bösen Zungen der Menschen – und rette mich – o, rette mich von den hinterlistigen Nachstellungen meines eigenen Herzens!«

Mit andächtigem Eifer betete sie jetzt ihren Rosenkranz ab, dann begab sie sich in ihr Zimmer, rief ihre Frauen und ließ ihre Kleidung in Ordnung bringen.


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