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Eilftes Kapitel.

Erziehung nennt Ihr das, Ihr lieben Leute?
's ist der gezwung'ne Gang der Ochsenheerde
Vor'm schrei'nden Treiber her. Der muntre Vortrab
Geht ganz gemächlich, bleibt zuweilen stehen,
Um einen Bissen Grases abzurupfen,
Indeß die Schläge, Flüche und das Zürnen
Allein aufs Kreuz des Unglücksel'gen fallen,
Der hinten nach sich schleppt.

Altes Schauspiel.

Zwei oder drei Jahre gingen hin, während deren der Sturm der nahenden Veränderung in der Kirchenverfassung täglich tobender und bedenklicher wurde. In Folge der am Schluß des vorigen Kapitels erwähnten Umstände hatte der Subprior Eustachius seine Gewohnheiten bedeutend geändert. Er lieh bei allen außerordentlichen Gelegenheiten dem Abt die Unterstützung seiner Weisheit oder Erfahrung, unter vier Augen sowohl wie im versammelten Kapitel; aber für gewöhnlich schien er jetzt mehr für sich zu leben und weniger für die Brüderschaft, als früher.

Oft entfernte er sich ganze Tage lang aus dem Kloster. Der tiefe Eindruck, welchen das Abenteuer von Glendearg auf ihn gemacht hatte, wurde Veranlassung, daß er häufig den einsamen Thurm und die unter dessen Dache weilenden Waisen besuchte. Gar zu gern hätte er wissen mögen, ob das Buch, welches er verloren hatte, als er so wunderbar von der Lanze des Mörders gerettet ward, wiederum seinen Weg zurück nach dem Thurm von Glendearg gefunden habe. »Sonderbar,« sagte er, »daß ein Geist,« (denn dafür konnte er nicht umhin das Wesen zu halten, dessen Stimme er gehört,) »daß ein Geist einerseits suchen sollte, Ketzerei zu befördern, und anderseits einschreiten, das Leben eines eifrigen katholischen Priesters zu schützen.« Allein so viel er auch bei den verschiedenen Einwohnern des Thurmes nachfragte, nie erfuhr er, daß die Bibel je wieder Einem derselben zu Gesicht gekommen wäre.

Diese gelegentlichen Besuche des guten Paters gereichten Edward Glendinning und Marien von Avenel zu nicht geringem Vortheil. Ersterer entwickelte eine Fassungskraft und ein Gedächtniß, welches den Subprior in Erstaunen setzte. Er war scharfsinnig und fleißig, regsam und pünktlich – Eigenschaften, die sich selten vereinigt finden.

Des Mönches eifriger Wunsch war, daß diese so früh entwickelten Fähigkeiten Edwards dem Dienst der Kirche gewidmet werden möchten. Er zweifelte nicht an der Zustimmung des Jünglings, der einen ruhigen, zu Betrachtungen und zur Zurückgezogenheit aufgelegten Sinn offenbarte und Kenntniß als Hauptzweck, sowie Erweiterung derselben als das höchste Glück des Lebens zu betrachten schien. Die Mutter anlangend, dachte Eustach, diese würde bei ihrer tiefen Ehrfurcht vor den Mönchen von S. Marien sich glücklich preisen, einen ihrer Söhne in deren verehrter Gemeinschaft aufgenommen zu sehen. Aber es zeigte sich, daß der gute Pater sich in beiden Stücken gewaltig geirrt hatte.

Wenn er mit Elspeth Glendinning von dem sprach, was eine Mutter am liebsten hört – von den Fortschritten und Fähigkeiten ihres Sohnes – dann horchte sie mit Entzücken zu. So wie er aber auf die Verpflichtung anspielte, dem Dienst der Kirche Fähigkeiten zu widmen, welche geeignet schienen, dieselbe zu vertheidigen, dann bemühte sich die Dame stets, die Rede auf etwas Anderes zu bringen. Sprach der Subprior sich entschieden aus, so stellte sie vor, wie sie, als eine verlassen stehende Frau unmöglich die Wirthschaft bestreiten könnte, wie ihre Nachbarn in der Stadtschaft ihren hülflosen Zustand benutzten, um sie zu übervortheilen, und wie sie wünsche, Edward möge in seines Vaters Stelle treten, im Thurme bleiben und ihr die Augen zudrücken. Der Subprior entgegnete dann, daß selbst nach weltlichen Rücksichten, das Wohl der Familie am besten berathen sein würde, wenn einer der Söhne in die Klostergemeinde zu S. Marien einträte, wo er dann im Stande wäre, den Seinen wirksamen Schutz zu gewähren. Was könnte sie Schöneres erleben, als ihn in hohen Ehren zu sehen? was könnte ihrem Herzen wohler thun, als sich die letzten Pflichten von einem Sohne erweisen zu lassen, der verehrt wäre wegen der Heiligkeit seines Lebens und wegen musterhaften Wandels? Halbert, mit seinem kecken Sinn und unbändigen Wesen unfähig zum Lernen, sei eben darum und als der Aeltere am besten geeignet, sich in der Welt durchzuschlagen und das Gütchen zu bewirthschaften.

Elspeth wagte nicht, geradezu zu widersprechen, aus Furcht, Mißfallen zu erregen, indeß hatte sie immer Etwas einzuwenden. Halbert, meinte sie, sei nicht wie andere Nachbarskinder, er sei einen Kopf größer und noch einmal so stark, als irgend ein Knabe seines Alters im ganzen Stift. Aber er tauge zu keinem friedlichen Geschäft. Wenn er an Büchern keine Lust habe, so habe er noch weniger an Pflug und Schaufel. Er habe seines Vaters altes Schwert geputzt, umgeschnallt und gehe selten ohne dasselbe aus. Er sei ein lieber Junge und sanft, wenn man ihm gute Worte gebe, fahre man ihm aber durch den Sinn, dann sei er ein leibhaftiger Teufel. »Mit einem Wort,« sprach sie, in Thränen ausbrechend, »nehmt mir Edwarden, guter Pater, und Ihr beraubt mich meiner Stütze und meines Stabes, denn mein Herz sagt mir, Halbert wird seines Vaters Wege wandeln und seines Vaters Tod sterben.«

Wenn das Gespräch diese Wendung nahm, war der gute Mönch immer bedacht, die Erörterung für einige Zeit ruhen zu lassen, in der Hoffnung, es werde sich später eine Gelegenheit finden, ihre Vorurtheile, wie er es nannte, gegen Edwards vorgeschlagene Bestimmung zu beseitigen.

Wandte der Mönch sich von der Mutter zum Sohne, seine Wißbegier anregend und ihm vorstellend, wie vollständig diese im geistlichen Stande befriedigt werden könnte, so fand er gleiche Ungeneigtheit. Edward schützte vor, er fühle keinen rechten Beruf zu einem so ernsten Leben, es gehe ihm wider die Seele, seine Mutter zu verlassen, und machte andere Einwände, welche der Subprior als Ausflüchte betrachtete.

»Ich sehe,« sprach er eines Tages, »daß der Teufel seine Geschäftsführer hat, so gut wie der Himmel, und daß dieselben beiderseits oder leider! vielleicht die ersteren mehr, eifrig sind, für ihren Herrn die beste Waare auf dem Markt in Beschlag zu nehmen. Ich will glauben, junger Freund, daß weder Trägheit, noch Sinnenlust, noch Liebe zu weltlichem Gewinn und zu weltlicher Größe, die hauptsächlichsten Köder, unter welchen der große Seelenfischer seine Angeln verbirgt, die Ursachen sind, weshalb Ihr keine Lust zu der Laufbahn habt, die ich Euch anweisen möchte. Vornehmlich aber will ich glauben, will ich hoffen, daß nicht Eitelkeit auf größeres Wissen – eine Sünde, in welche Diejenigen so häufig verfallen, welche Fortschritte im Lernen gemacht haben, Euch in Versuchung geführt hat, auf die gefährlichen Lehren in Betreff der Religion zu horchen, welche jetzt im Schwang gehen. Besser für Euch, Ihr wäret so unwissend wie das Vieh, als daß der Stolz auf höheres Wissen Euch verführte, der Stimme der Ketzer Euer Ohr zu leihen.« Edward Glendinning hörte die Strafrede mit niedergeschlagenen Augen an und ermangelte nicht, sich nach Beendigung derselben eifrig gegen den Vorwurf zu vertheidigen, als habe er seine Forschungen auf Gegenstände erstreckt, welche die Kirche verbietet. Und so blieb dem Mönch nichts übrig, als sich in leeren Vermuthungen über seinen Widerwillen gegen das Klosterleben zu verlieren.

Es ist ein altes von Chaucer angebrachtes und von Elisabeth angeführtes Sprichwort: »Gelehrte Männer sind nicht immer Weise;« und es ist wahr, auch wenn der Dichter es nie in's Reine gebracht, und die Königin nie Betrachtungen daran geknüpft hätte. Wären die Gedanken des Pater Eustachius nicht so sehr auf die Fortschritte der Ketzerei gerichtet gewesen, und so wenig auf das, was im Thurme vorging, so würde er in den sprechenden Augen Mariens von Avenel, jetzt eines Mädchens von vierzehn bis fünfzehn Jahren, Gründe der Abneigung ihres Jugendgespielen gegen die Mönchsgelübde gefunden haben. Wie oben bemerkt, war sie ebenfalls eine hoffnungslose Schülerin des guten Paters, auf welchen ihre unschuldige kindliche Schönheit einen Eindruck machte, der ihm selber wohl unbewußt war. Ihr Rang und ihre Aussichten berechtigten sie, Unterricht im Lesen und Schreiben zu empfangen. Jede Aufgabe, die der Mönch ihr gab, ward in Gemeinschaft mit Edward gelernt, von diesem erklärt, bis sie dieselbe vollkommen inne hatte.

Beim Anfang des Unterrichtes war Halbert ihr Mitschüler gewesen. Allein seine Raschheit und Ungeduld vertrug sich bald nicht mehr mit einer Beschäftigung, in welcher ohne anhaltenden Fleiß und Aufmerksamkeit keine Fortschritte zu machen waren. Des Subpriors Besuche waren unregelmäßig, oft lagen Wochen dazwischen, und in solchen Fällen versäumte Halbert nicht nur, seine gegenwärtigen Aufgaben zu lernen, sondern er vergaß auch einen großen Theil der früheren. Wenn er dann nicht bestand, so that ihm das wehe, aber Besserung erfolgte darum nicht. Eine Zeitlang suchte er, wie es träge junge Leute zu machen pflegen, die Aufmerksamkeit seines Bruders und Mariens von ihren Arbeiten abzulenken, anstatt die seinige zu machen, und es entspannen sich Gespräche wie folgendes:

»Nimm deine Mütze, Edward, geschwind! – Der Herr von Colmslie ist oben in der Schlucht mit seinen Hunden.«

»Was liegt mir daran, Halbert? Zwei Paar Hunde können ein Reh umbringen, ohne daß ich dabei bin und zusehe! Ich muß Marien bei ihrer Aufgabe helfen.«

»Du wirst so lange an den Aufgaben des Mönchs lernen, bis du selbst ein Mönch wirst. – Marie, wollt Ihr mit mir geh'n? ich will Euch das Ringeltaubennest zeigen, von dem ich Euch gesagt habe.«

»Ich kann nicht mit Euch gehen, Halbert; ich muß diese Lection lernen; sie wird mich lange Zeit kosten. Gott! ich bin so dumm. Könnte ich so geschwind lernen wie Edward, dann ging' ich gern mit Euch.«

»Wirklich?« sprach Halbert. »Nun so will ich auf Euch warten, und noch mehr, ich will selber suchen meine Aufgabe in den Kopf zu bringen.«

Mit einem Lächeln und einem Seufzer nahm er das Lesebuch in die Hand und begann, schwerfällig seine Aufgabe zu überlesen. Als wäre er aus der Gesellschaft der beiden Anderen verbannt, saß er traurig und einsam in einer der großen Fenstervertiefungen. Nach einem vergeblichen Kampf mit den Schwierigkeiten seiner Aufgabe und seiner Unlust zu lernen, fing er unwillkührlich an, das Treiben seiner beiden Mitschüler zu beobachten, anstatt selbst weiter zu lernen.

Der Anblick, welcher sich Halberts Augen darbot, war an sich allerliebst, allein aus einem oder dem andern Grunde war er ihm nicht angenehm. Das schöne Mädchen, mit kindlichem Eifer im Blick, saß über seiner Arbeit, beschäftigt, die Schwierigkeiten zu beseitigen, welche ihre Fortschritte hemmten, dann und wann zu Edward um Beistand aufsehend, welcher, dicht bei ihr sitzend und besorgt, jedes Hinderniß aus ihrem Wege zu räumen, stolz zu sein schien sowohl auf die Fortschritte seiner Schülerin, als auf den Beistand, den er ihr zu leisten vermochte. Ein festes und angenehmes Band verknüpfte Beide: Lernbegierde und das Gefühl der Befriedigung und Ueberwindung von Schwierigkeiten.

Lebhaft erregt und doch unklar über das Wesen und die Quelle seiner Empfindungen, konnte Halbert den Anblick dieser stillen Scene nicht länger ertragen. Er sprang auf, schleuderte sein Buch weg und rief: »Zum Teufel mit allen Büchern und mit den Träumern, die sie machen! Ich wollte, eine Schaar Südländer käme die Schlucht herauf, da wollten wir sehen, wie wenig all dieß Murmeln und Kritzeln werth ist.«

Sein Bruder und Maria fuhren auf und blickten ihn betroffen an, während er in großer Aufregung mit verstörten Gesichtszügen und Thränen in den Augen auf- und niederging. »Ja Marie« – fing er wieder an – »ich wünschte, ein zwanzig Südländer kämen jetzt die Schlucht herauf, und Ihr solltet sehen, daß eine gute Hand und ein gutes Schwert mehr thut zu Eurem Schutz, als alle Bücher, die je aufgeschlagen worden, und als alle Federn, die je an Gansflügeln gewachsen sind.«

Maria schaute etwas verdutzt und halb erschrocken über seine Heftigkeit darein. Doch alsbald entgegnete sie in freundlichem Ton: »Ihr seid ärgerlich, Halbert, weil Ihr Eure Aufgabe nicht so schnell weghabt, wie Edward; so geht mir's auch, denn ich bin eben so dumm wie Ihr. Aber kommt, Edward soll zwischen uns sitzen und uns lehren.«

»Mich soll er nicht lehren,« rief Halbert in derselben zornigen Stimmung. »Ihn kann ich nie lehren irgend Etwas zu thun, das ehrenhaft und männlich ist, und mich soll er seine Mönchspfiffe nicht lehren. Ich hasse die Mönche mit ihrem Genäsel, daß man meint, es wären Frösche, und mit ihren langen schwarzen Weiberröcken, und ihren Ehrwürden und Gnaden und ihren schläfrigen Dienstleuten, die nichts thun, als mit Pflug und Egge im Koth herumgraben von Weihnachten bis Michaelis. Ich will Niemanden Gnädiger Herr nennen, der nicht ein Schwert trägt, seinen Titel geltend zu machen, und ich will Niemanden Mann nennen, der sich nicht mannhaft zu benehmen weiß.«

»Um's Himmels willen, Bruder, schweige still!« fiel Edward ein. »Wenn solche Worte bemerkt und weiter getragen würden, müßten sie unsere Mutter in's Verderben stürzen.«

»Trag' du sie selber weiter, und sie werden dein Glück machen und Niemandes Verderben als das meine. Sage, daß Halbert Glendinning nimmer der Unterthan eines alten Mannes mit einer Kapuze und geschornen Glatze sein will, so lange noch zwanzig Freiherren da sind, mit Helm und Busch, welche kühne Gesellen brauchen können. Laß dir von ihnen diese elenden Aecker verleihen und mögen sie dir viel Mehl tragen, deinen Haferkuchen zu backen!« Er verließ hastig das Zimmer, kehrte aber augenblicklich wieder zurück und fuhr in demselben gereizten Tone fort: »Ihr braucht Euch nicht so viel einzubilden, Keins von Euch, und du, Edward, insbesondere, Ihr braucht Euch nicht so viel auf Euer Pergamentbuch und auf Eure Fertigkeit im Lesen desselben einzubilden. Meiner Treu'! ich will bald so gut lesen lernen wie ihr; ich weiß einen besseren Lehrer als Euren alten sauertöpfischen Mönch, und ein besseres Buch als sein Brevier; und wenn Ihr, Marie Avenel, Schulkenntnisse so sehr liebt, so sollt Ihr bald sehen, ob ich oder Edward mehr davon hat.« Damit verließ er das Zimmer und kam nicht wieder.

»Was ist's nur mit ihm?« sprach Maria, indem sie ihm vom Fenster aus mit den Augen folgte, während er mit hastigen und ungleichen Schritten die wilde Schlucht hinauflief. »Wo mag Euer Bruder wohl hingehen, Edward? von welchem Lehrer, von welchem Buch spricht er?«

»Was braucht man sich darüber den Kopf zu zerbrechen?« versetzte Edward. »Halbert ist zornig und weiß nicht warum, und schwatzt, und weiß nicht was er schwatzt. Kommt, laßt uns wieder an unsere Arbeit gehen. Er wird schon wieder heim kommen, wenn er müde ist, auf den Felsen herumzuklettern.«

Allein Mariens Besorgniß um Halbert war damit nicht beschwichtigt. Sie weigerte sich, in der Arbeit fortzufahren, mit welcher sie so angenehm beschäftigt gewesen waren, indem sie sich mit Kopfweh entschuldigte, und Edward konnte sie diesen Morgen nicht mehr dazu bringen, sie wieder anzufangen.

Mittlerweile rannte Halbert entblößten Hauptes, das Gesicht von eifersüchtigem Zorn entstellt und Thränen in den Augen, mit der Schnelligkeit eines Rehes die Schlucht hinauf, gleichsam in verzweifeltem Trotz gegen die Schwierigkeiten des Weges die wildesten und gefährlichsten Pfade wählend und sich freiwillig hundert Mal Gefahren aussetzend, welche er durch eine kleine Abweichung von denselben hätte vermeiden können. Es schien, als wollte er, sein Weg sollte so gerade sein, wie der des Pfeiles zum Ziel.

Endlich langte er in einer abgelegenen Klemme oder einem schmalen Seitenthälchen der Schlucht an, aus welchem ein kleines Gewässer in den Bach von Glendearg hervorströmte. Längs diesem Gewässer rannte er hinauf, ohne sich umzusehen, und machte nicht eher Halt, als bis er die Quelle erreichte.

Hier stille stehend, warf er einen finstern, verstörten Blick ringsumher. Vor ihm erhob sich ein mächtiger Fels, aus dessen Spalte eine Steineiche gewachsen war, deren grüne Zweige über der unten entspringenden Quelle rauschten. Die Berge zu beiden Seiten waren so hoch und traten so nahe zusammen, daß nur, wenn die Sonne im Mittagspunkt stand und nur im hohen Sommer, ihre Strahlen den Boden der Kluft erreichten, auf welchem er stand. Jetzt war es Sommer und Mittag, und das ungewohnte Sonnenlicht spielte im klaren Quell.

»Es ist die Zeit und die Stunde,« sprach Halbert, »und jetzt – jetzt könnte ich bald weiser werden, als Edward mit all seiner Mühe. Maria sollte sehen, ob er allein verdient, befragt zu werden, und bei ihr zu sitzen und sich über sie zu beugen, während sie liest und jedes Wort und jeden Buchstaben anzudeuten. Und sie hat mich lieber als ihn – das weiß ich – denn sie ist von edlem Blut und verachtet Ofenhockerei und Feigheit. – Und steh' ich nicht selber hier, wie ein Ofenhocker und so feig wie ein Pfaff? Warum sollt' ich mich fürchten, diese Gestalt – diesen Schemen zu rufen? – Schon ein Mal hab' ich die Erscheinung ertragen, warum nicht noch ein Mal? Was kann sie mir thun? Bin ich nicht ein Mann mit Mark und Knochen, und hab' ich nicht meines Vaters Schwert an der Seite? Klopft mein Herz, sträubt sich mein Haar empor bei dem Gedanken, einen bunten Schatten aufzurufen – wie kann ich dann wagen, einer Schaar Südländer die Stirn zu bieten? Bei der Seele des ersten Glendinning, ich will den Zauber versuchen!«

Er schleuderte den Halbstiefel von seinem rechten Fuß, nahm eine feste Stellung an, zog das Schwert und blickte rings umher, seine ganze Entschlossenheit zusammennehmend. Dann verbeugte er sich drei Mal langsam gegen die Steineiche, drei Mal gegen die Quelle und sprach dabei mit fester Stimme folgende Reime:

Drei Mal zur Eiche,
Drei Mal zum Wasserquell.
Nieder dich neige
Jungfrau von Avenel!

Mittagsstrahl glänzt im Teich,
Glüht in dem Sturzbach hell.
Niedersteig, niedersteig,
Jungfrau von Avenel!«

Kaum waren diese Worte gesprochen, so stand eine weibliche Gestalt in weißem Gewand drei Schritt von Halbert Glendinning.

Wer konnte ohne Grauen seh'n
Ein solches Fräulein vor sich steh'n,
Reich geschmückt und wunderschön? Christabella von Coleridge.



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