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Tübingen

Es gibt eine Reihe häufig unscheinbarer Städte in Deutschland, an welche sich die Erinnerungen, der Dank, die Liebe vieler Tausende knüpft und deren Bild, auch wenn Natur und Menschenkunst ihm keinen äußern Schmuck verliehen hätte, doch von Unzähligen mit mehr Interesse betrachtet wird als das reizendste Gebirgs- und Stromtal oder als eine kuppelreiche, mit stolzen Türmen fernhin prangende Residenz. Diese Städte sind die kleinern deutschen Universitäten, die Asyle des vom Lebensmarkte noch nicht umtosten Jugendgeistes, die stillen Pflanzschulen der Begeisterung für Wissenschaft, Kunst und Poesie, die trauten Zeugen der ersten Freundschaft und Liebe und manches Seelenbundes für die Ewigkeit.

Darum durften in einer Bildergalerie der interessantesten Gegenden Schwabens und der Pfalz die hohen Schulen dieser Länder nicht fehlen, und glücklicherweise gehören alle drei, vermöge ihrer Lage und Umgebung, zu den allerschönsten Punkten dieser Sektion. Auch auf dem Bilde Tübingens wird manches Greisen- und Mannesauge mit Rührung verweilen und mit dem Schreiber dieser Zeilen in die Empfindung einstimmen, die ihn aus der geliebten Bildungsstätte seiner Jugend in die Fremde begleitet hat: Diese und die folgenden Strophen aus der Romanze »Die Tübinger Schloßlinde« Schwabs »Ged.«, I, 264ff.

Und wie sollt' ich dein vergessen,
      Du getreue Musenstadt,
Die mein ganzes Herz besessen
      Und mich wohl gepfleget hat!

Von dir singen, von dir sagen
      Könnt' ich gar viel Leid und Freud;
Nur ist's nicht aus fernen Tagen,
      Ach, mir ist's, als wär's erst heut! –

Tübingen hat zwar keine großartige Lage, wie seine Schwestern Freiburg und Heidelberg, wohl aber eine höchst liebliche und zum ruhigen Verweilen einladende. Seine Vorderseite, die südliche, ist längs dem Ufer des hier noch jugendlich bescheidenen Neckarflusses auf die Terrassen eines Hügels malerisch, Gasse hinter Gasse, gebaut und kehrt die schönste Seite seines Schlosses, die Hauptgebäude seiner Schule sowie seine gotische Kirche dem Flusse zu, der durch ein grünes, mit uralten Lindenalleen besetztes Wörth, unter Steg und Brücke, noch ziemlich rasch dahineilt und jenseits dessen an der Heerstraße eine schlanke Pappelreihe, die indessen der Tod des Naturnachlasses bedroht, mit der Stadt parallel hinläuft. Ihre Kehrseite verliert sich in das wiesenreiche und einfachere Ammertal, während die Südseite gerade vor sich das waldige Steinlachtal hat, mit der Aussicht auf die Schweizerstraße und einem überaus reizenden Durchblick auf die Kette der Schwäbischen Alb. So liegt Tübingen gar wohnlich inmitten zweier Berge, die das Ammer- und Neckartal voneinander scheiden, am Trivium drei wechselvoller Täler, an jene schirmenden Hügel so zuversichtlich angeschmiegt, daß das altertümliche Schloß den Vorhügel des »Spitzberges« besetzt hält, der östliche Teil der Stadt die Anhöhe hinanklimmt, die eine schmale Bergschlucht vom »Österberge« trennt, auf diesem letztern selbst endlich das schöne Gebäude der neuen Anatomie, von vielen Gärten und Gartenhäusern umgeben, Platz genommen hat.

Unser Stahlstich zeigt diese Südseite, oberhalb des Schlosses aufgenommen, im Profile, und der Künstler hat der alten, von innen nichts weniger als anmutigen Stadt eine Physiognomie abzusehen gewußt, welche auch von ihr selbst ein freundliches und in der Wahrheit begründetes Bild liefert.

An dem Namen Tübingen zerarbeitet sich der Scharfsinn der Gelehrten und leitet ihn nicht sehr glücklich bald von den Tubanten, die doch nach Tacitus in der Gegend von Bonn zu suchen sind, bald von einer fingierten römischen Steinschrift, bald von dem Worte Twinge oder Zwinge ab, was ein Kastell, vielleicht ein römisches, bedeuten könnte; während doch die Endung -ingen dem Orte mit so vielen andern gemein ist und nicht wohl zum Stamme gezogen werden kann. In den ältesten Urkunden heißt die Stadt bald Tvvingen, bald Tiwingen, bald Toingen, was allerdings der letzten Meinung einigen Halt geben könnte. Die Geschichte des Orts beginnt erst mit seinen Pfalzgrafen, die, mutmaßlich aus Oberrätien hierher gekommen, S. unsere Beschreibung von Haigerloch. ihre Burg oder Pfalz, ungewiß wann, vielleicht auf römischer Unterlage hier gründeten und unterhalb des Schloßberges ihre Sassen sich ansiedeln ließen. Die ersten, welche die Geschichte als Grafen von Tübingen, um 1100, nennt, sind die Brüder Heinrich und Hugo; der erste Pfalzgraf von Tübingen, ebenfalls Hugo, kommt erst im J. 1149 vor; er besaß die Pfalzgrafschaft als ein Lehen des Herzogs Weif von Bayern, geriet aber mit diesem in Streit, und Weif kam, seine Pfalz Tübingen zu belagern, aber der Pfalzgraf, auf dessen Seite Friedrich, der Sohn des Königs Konrad des Hohenstaufen, die Herren von Zollern und viele andere waren, schlug in einem glücklichen Ausfalle das große Heer des Herzogs gänzlich. Der Weif selbst entkam mit Mühe auf die Burg Achalm. S. ebendaselbst. Im J. 1166 rächte sich dieser durch einen neuen Einfall in das Gebiet des Pfalzgrafen, der sich endlich vor dem Kaiser und vielen Fürsten zu Ulm seinem Lehnsherrn auf Gnade und Ungnade ergeben und sein früheres Glück mit dreijährigem Kerker in Rätien büßen mußte. Der Name der Pfalzgrafen hört mit dem J. 1342 auf, wo Gottfried II. und Wilhelm die Stadt an Württemberg verkauften; nun hießen sie nur noch Grafen und eine Seitenlinie Herren von Tübingen; der letzte dieses Namens, Hans Jerg von Tübingen, starb als württembergischer Schloßhauptmann von Hohentübingen im Jahre 1667.

Das Schloß Tübingen in seiner jetzigen ansehnlichen Gestalt rührt aus dem 16ten Jahrhunderte von Herzog Ulrich von Württemberg her. Den dicken, gegen die Stadt gekehrten Turm, auf welchem sich jetzt ein Observatorium befindet, baute er im J. 1507; ein anderer ward 1515 begonnen; diesen sprengten im J. 1647 die Franzosen in die Luft, und an seine Stelle ist der eckige Turm getreten, in welchem jetzt die Kriminalgefängnisse eingerichtet sind. Ein dritter Turm findet sich westlich, rechts vom Ausgange aus dem Schlosse; in seinem untersten Stocke war das fürchterliche, fensterlose »Haspelgefängnis«, in welches die Gefangenen durch dasselbe Loch hinuntergelassen wurden, das ihnen spärlich Luft und Tagesschimmer gewährte. Außerdem umgeben das Schloß mehrere Gräben und feste Bollwerke, die noch aus jener Zeit abstammen. Inzwischen wurde der hölzerne Teil des Schlosses, nachdem dasselbe mit dem jungen Prinzen Christoph im J. 1519 nach kurzer Gegenwehr von 64 Edeln dem Schwäbischen Bunde abgeliefert worden und lange in österreichischen Händen geblieben war, nach Ulrichs Rückkehr in sein Land (1535), abgebrochen, neu von Stein ausgeführt und mit schöngeschmückten Toren und Eingängen versehen, auch von den Nachfolgern würdig ausgebaut und eingerichtet:

Ja, er hat es neu erbauet,
      Stark und fürstlich es erhöht;
Blickt, ihr Enkel, auf und schauet,
      Wie es noch so stattlich steht.

Stolz auf seinem schlanken Renner
      Ritt der Herzog mitten ein,
Hoher Rat der weisen Männer
      Zog gemächlich hinterdrein.

Aus den Zellen, aus den Schenken,
      Dicht in Mantel und in Bart,
Sah man Hut und Degen schwenken
      Den Studenten alter Art.

Denn seit dem 3ten Juli 1477 besaß Tübingen eine Hochschule, von dem edeln Freunde seines Volkes und Beförderer der geistigen Bildung seines Landes, dem nachmaligen Herzog Eberhard im Bart, gestiftet.

»So haben wir« – sagt die Stiftungsurkunde des Gründers – »in der guten Meinung, helfen zu graben den Brunnen des Lebens, daraus von allen Enden der Welt unersichtlich geschöpft mag werden, tröstliche und heilsame Weisheit zur Erlöschung des verderblichen Feuers menschlicher Unvernunft und Blindheit, uns auserwählt und fürgenommen, eine hohe gemeine Schul und Universität in unsrer Stadt Tübingen zu stiften und aufzurichten, die denn von dem Heiligen Stuhl zu Rom mit päpstlicher und vollkommlicher Fürsehung begabt und dazu mit gnug notdürftigen, gebührlichen und ehrbaren Statuten angesehen ist.«

Die Universität war ein Werk, auf welches Eberhard stolz war, und Tübingen seitdem sein Lieblingsaufenthalt, öfters, wenn er dort war, schickte er sein Komitat aufs Schloß, er selbst aber kehrte in der kleinen Behausung seines alten Erziehers, des gelehrten Nauclerus, der seinen Gedanken ins Leben gerufen hatte, im Kanzlerhause unweit der Kirche, ein. Da erhub er sich morgens vor Tage, verrichtete sein Gebet, deliberierte drei Stunden und ließ seine gegenwärtigen Schreiber Befehle ausfertigen, dann ging er zur Kirche. Hierauf wurde in Nauclers Hause Mittag gehalten, mit zwei oder drei Gästen vom Adel und Gelehrtenstande. Die Mittagsmahle aber waren nicht kostbarer als anderer gemeinen Bürger, desto würdiger die Gespräche von Kirche, göttlicher Lehre, öffentlichem Regiment und gegenwärtigen Gefahren des Vaterlandes. Nach dem Mittagessen war öffentliche Audienz, und der Herr antwortete den ärmsten Untertanen freundlich. Dann ruhte er ein wenig, las die Vesper und setzte sich wieder mit seinem gelehrten Freunde ans Abendessen, wo er die Regierungssorgen unter fröhlichen Diskursen vergaß. »Dies war«, sagt ein Zeitgenosse, »der Fürstenhof in der Hütte des greisen Doktors.«

Tübingen hatte von Anfang an stattliche und angesehene Lehrer in jeder Fakultät; den ersten Grund legten Gabriel Biel, Johannes Reuchlin, und besonders die beiden Vergenhanse (Naucleri). Noch zeigt man das Haus, wo Melanchthon wohnte, der sechs Jahre seiner Jugend in Tübingen zugebracht hat. Herzog Ulrich liebte das abtrünnige Tübingen nicht sehr, doch reformierte er, wovon sofort gesprochen werden soll, die Universität wie das ganze Land eifrig und beschloß sein Leben auf Hohentübingen. Noch rauscht vor dem Schloßtor im Sommerwind eine Linde, die der Mund der Sage aus einem Reis erblühen läßt, das der festlich Einziehende vom Barette warf.

Die Hochschule selbst hatte kaum vierundzwanzig Jahre geblüht, als sie ihrer zu Wittenberg errichteten Schwesteranstalt schon berühmte Lehrer zuschicken konnte. Bei diesem freundschaftlichen Verkehr beider Universitäten teilte sich die Religionsbewegung Wittenbergs den Tübingern bald mit. Aber Ulrich war vertrieben, und Österreich, das im Besitze des Württemberger Landes war, leistete, von den alten, unbiegsamen, katholischen Theologen Tübingens unterstützt, hartnäckigen Widerstand. Hören wir ein angebliches Bauerngespräch aus jener Zeit (um 1523):

»Fritz: Lieber Kunz, wo bist du so lange gewesen, daß ich dich nicht gesehen hab'?

Kunz: Zu Tübingen, unter den Studenten.

Fritz: Was sagt man Gutes zu Tübingen, wie hält sich die Hoheschul gegen den Luther?

Kunz: Es ist gleich wie anderswo; wer viele Pfründen hat, der ist dem Luther feind, und diese schelten ihn als einen Ketzer; aber die arme Rotte hat ihn lieb.

Fritz: Lieber, ich hab' gehört, wie ein Doktor da sei, der heiße Doktor Fetz, der wolle den Paulum nicht lesen lassen, nur darum, daß ihn der Luther so oft herfürzieht.

Kunz: Ei, er heißt nicht Fetz, er heißt Lemp.

Fritz: Fetz und Lemp (Lumpen) ist nicht sehr ungleich; er heiße halt der Hader!«

Und nun folgt ein Strom von Schimpfwörtern gegen Jakob Lemp von Marbach, einen alten Theologen Tübingens, der schon 1494 Rektor der Universität gewesen war und seinen Lehrlingen die Transsubstantiation – mit der Feder hinzuzeichnen verstand. Das Gespräch schließt mit der Hoffnung, die Zeit sei gekommen, daß die rechte Wahrheit an das Licht komme und die Finsternis, darin die alten grauen Esel gelegen sind, verschwinden werde, et caetera.

Die Umbildung der Universität kam auch wirklich unter dem seinem Lande zurückgegebenen Herzog Ulrich durch Simon Grynäus von Basel und den bekannten Reformator Ambrosius Blaurer oder Blarer von Konstanz, nach mancherlei Kämpfen und Verlegenheiten, im J. 1535 glücklich zustande. Aus eigener, freier Neigung kam im Herbst 1536 der große Melanchthon, der Gegenden, Städte, Menschen, die ihm schätzbar waren, besuchen wollte, nach dem Schauplatze seiner Jugend, auf die erneuerte Universität, half dem akademischen Rate an seinem Reformationsgeschäft und freute sich der »schola reflorescens«. Der Herzog Ulrich hoffte ihn jedoch vergebens zu halten, und Melanchthon verließ Tübingen schon am 15. Okt. wieder.

In demselben Jahre wurde die erste Ordnung für Errichtung des theologischen Stifts zu Tübingen, der noch auf den heutigen Tag blühenden Bildungsanstalt evangelischer Geistlichen, entworfen. Die etwas spätem Statuten waren ungemein streng in Beziehung auf die Hausordnung, unerlaubtes Ausgehen, Tanz usw. Nur gegen das deutsche Laster der Trunkenheit mußte ein Auge zugedrückt werden, und nach Gutdünken der Lehrer wurde erst der mit Karzerstrafe belegt, »der sich über beide Ohren vollgesoffen«. Im J. 1541 waren die Stipendiaten in der sogenannten Bursa (zuerst der alten, dann der neuen) untergebracht. Die Anstalt verkümmerte aber hier und war nach zehnjähriger Dauer dem Untergange nahe, als endlich, gerade zur bedenklichsten Zeit, im J. 1546 den Zöglingen das aufgehobene und seit lange leer gestandene Augustinerkloster eingeräumt wurde, was auch der ungestörte Sitz des im gemeinen Leben noch auf den heutigen Tag so genannten »Klosters«, d. h. des theologischen Seminars, geblieben ist.

Im Hofe dieses Klosters soll aus grauer Mönchszeit ein Gemälde zu sehen gewesen sein, in welchem die Mönche selbst sich zum Hohn die Greuel ihres Standes dargestellt. Das abenteuerliche Bild stellte einen mit der Kutte bekleideten Mönch dar, der mit einem Wanderstab in der Rechten die Treppe hinabstürzt. Sein linker Fuß war ein Hirschfuß, sein rechter eine umgekehrte Leuchte; seine Hände hatten Krallen; in dem übergehängten Zwerchsack war das gestohlene Vermögen der Witwen und Waisen angedeutet, sein Paternoster bestand aus Würfeln und Rechenpfennigen, sein Busen war voll Kartenblätter, in seiner Kapuze ein Kegelspiel, sein Hals war ein Eselshals, sein langer Bart hatte die Gestalt eines Bechers, seine Nase war ein Hundsschwanz, und mit dem Munde schien er zu bellen. Aus seinem Rückgrat wuchs ein krummes Horn hervor, dem unter höllischem Dampf ein zweiter Mönch entstieg, der mit der linken Krallenhand den Ablaß verteilte, mit der rechten die Monstranz emporhob.

Sei dem, wie ihm wolle, diese Stätte wurde jetzt einem der wohltätigsten und berühmtesten Institute geweiht, aus welchem seit dreihundert Jahren viel fromme und gelehrte Männer und einige große Geister, unsterbliche Zierden des Staats, der Kirche und der Schule, hervorgegangen sind. Ulrichs Werk vollendete Herzog Christoph durch Erweiterung und Dotierung der Anstalt in den Jahren 1557 und 1559, und die Stiftung blühte mit der Universität aufs herrlichste auf, so daß schon der Dichter Frischlin in seiner poetischen Schilderung des Stifts (1569) rühmen konnte, daß aus ihm, dem Trojanischen Pferde, so viele gelehrte und berühmte Männer hervorgegangen. Am letzten Tage des scheidenden 16ten Jahrhunderts taten dem Hause fünf junge Fürsten die Ehre an, in seinem Speisesaal mit stattlichem Gefolge, zur Seite der speisenden Stipendiaten, ein öffentliches Mahl einzunehmen.

Der Dreißigjährige Krieg führte auch diese Anstalt an den Rand des Untergangs. Man ließ die Stipendiaten laufen, die Klostereinkünfte wurden, als Kirchengüter, von den triumphierenden Katholiken zurückgehalten; der Sieg der Schweden, der bessere Tage versprach, war von kurzer Dauer, und nach der Schlacht von Nördlingen fiel das Land dem Feind anheim; das Stuttgarter Konsistorium bildeten jetzt zwei Jesuiten; die Landesklöster wurden wieder von Ordenspersonen eingenommen. Dennoch hörte das evangelische Stift nicht ganz auf. Pfarrer flüchteten sich in dasselbe, aus ihm selbst aber gingen – da Mangel und Seuchen in wenig Monaten über 300 Kirchendiener hingerissen hatten – Jünglinge, die noch halbe Knaben waren, auf die Kanzeln über. Seit 1639 fristete der neue Stuttgarter Hofprediger Joh. Valentin Andreä der Anstalt das Leben im wörtlichen Sinne. Den Zöglingen wurde jetzt wieder Fleisch gereicht, aber im J. 1642 wollte der Wein nicht zureichen, und man verfiel auf den Gedanken, die Alumnen könnten nicht Wasser, nur – Bier trinken. Das mißrieten aber die weinländisch gesinnten Visitationsräte; sie mußten von dem Fürsten zurechtgewiesen werden, »daß viele gelehrte Leute in Niedersachsen und andern septentrionalischen Landen mit Bier auferzogen werden, deren Magen und ingenio unbeschadet«. Auch sei ein »gerechtes Bier« besser als saurer Wein.

Nach dem westfälischen Friedensschlusse lebte das theologische Stipendium bald wieder auf. Doch – der Raum und die Bestimmung dieser Blätter erlauben uns nicht, die weitern Geschicke dieser jetzt dem Geiste der Zeit angepaßten Anstalt, um welche das Ausland Württemberg mit Recht beneidet, weiter zu verfolgen, und wir bemerken nur, daß von ihren jetzigen beiden Gebäuden, die dem Neckar und einer köstlichen Aussicht zugekehrt sind, der obere Bau, von der Stadt durch einen breiten Graben abgeschnitten, das alte Augustinerkloster ist, wie es 1560 erweitert worden. Seine Kirche ist längst in die reichhaltige Klosterbibliothek umgeschaffen, welche besonders aus der Stiftung eines edlen Freundes der Wissenschaften, eines Freiherrn von Palm, erhalten und in dem Fache der Philologie vervollständigt wird. Der untere, dicht am Neckar stehende Bau ist über dem ehemaligen Refektorium des Klosters und den Mönchszellen im J. 1792 neu aufgeführt worden. –

Tübingens Hochschule stand im vorigen Jahrhundert in ihrer vollsten Blüte; sie hat auch im gegenwärtigen manche Stürme ausgehalten und überdauert und zählt eine große Anzahl berühmter Lehrer in allen Fächern. Seit 1817 ist eine katholisch-theologische Fakultät mit ihr vereinigt, und das Wilhelmsstift, ein Seminarium katholischer Theologen, hat seinen Sitz in dem ehrwürdigen »Collegio Illustri« erhalten, welches mit dem Jahre 1589 als eine Fürsten- und Adelsschule »aus der Asche des Franziskanerklosters, ein schöner Phönix, hervorgestiegen kam« und durch den Herzog Ludwig mit großen Kosten gebaut worden war. Auch diese Fürstenschule suchte ihresgleichen in allen deutschen Landen. Vom Jahre 1594 bis zum Jahre 1729 studierten hier nicht weniger als 37 deutsche Fürsten, deren Reigen Herzog Johann Friedrich von Württemberg, als Erbprinz, führt, ein so gelehriger Zögling, daß er Kameraden, die ihn gegen seinen jungen Hofmeister aufwiegeln wollten, entgegnete: »Das sei ferne, daß ich also tun wollte! Wenn mein gütigster Herr Vater auch einen bloßen Stab mit der Gewalt eines Hofmeisters mir vorsetzen wollte, so würde ich seinen Befehl nicht kraftlos sein lassen.« Wirklich war die Zucht in diesem Collegium musterhaft und scheint nicht durch Zwangsmittel, sondern durch Kräftigung des Willens gewirkt zu haben. Als eben in jener ersten Zeit einige Edelleute vom Stuttgarter Hof, welche auf dem Schlosse wohnten, nach der Jagd das Collegium Illustre als Mittagsgäste besuchten, griff einer diese studierende Gesellschaft über Tische mit Scherzreden an und nannte sie höhnischerweise Fuchsschwänzer und Dintenschlucker. Der Hofmeister des Erbprinzen, Abraham de Bellin, hatte dem gegenübersitzenden Spötter lange zugehört und die Tischkumpane unter sich streiten lassen. Auf einmal befahl er Stillschweigen und richtete seine Rede mit sehr lauter Stimme an jenen Hofkavalier: »Heus tu«, sprach er, »worauf gründet sich denn euer, der Höflinge, Lob? Vielleicht besteht's im H..., im närrischen Geschwätz, im Courtesieren? Wir könnten auch h..., läppische Reden führen, courtesieren; aber wir wollen nicht. Besteht euer Ruhm im Saufen und Schwelgen? Wir können auch fressen und prassen; aber wir haben kein Belieben daran. Oder rühmt ihr euch des Spielens? Wir können auch dieses tun; aber wir haben keine Zeit dazu. Oder ist das Reiten euer Vorzug? Nun, hat nicht erst heute einer von uns Fuchsschwänzern den Gewinn im Ringelrennen vor euch davongetragen? Oder suchet ihr den Ruhm im Zanken und Balgen? Wohl, so können auch wir fechten. Juckt einem der Buckel, so fordere er uns heraus, wann und wie er will, wir werden ihm mannlich erscheinen. Wenn das eure Künste und Wissenschaften sind, auf die ihr pochet, so wißt, daß andere diese keines Hellers wert achten! Dagegen schicke man uns allesamt im Namen unsers Herrn zu einem König oder Fürsten! Wir werden freimütig selbst vor Ihrer Kaiserlichen Majestät reden können, wo ihr kein Maul aufzutun euch erkühnen würdet; Königreiche wollen wir mit Hülfe unserer Beredsamkeit und Klugheit regieren helfen! Nun wisset ihr, mit welchem Ruhm ihr uns Fuchsschwänzer scheltet, zu eures eigenen Standes Schmach, ihr, die ihr sprechet, als wäret ihr aus dem weitläufigen Geschlechte der Brutorum und wüßtet, als Esel, gar nichts!«

Dieses Collegium Illustre liegt in einem finstern Teile der innern Stadt; eine freundlichere Straße bilden die Universitätsgebäude nebst einigen Professorenhäusern und einer Freiwohnung für Studenten in der Nähe der Stadtkirche. An die Stelle des alten Sapienzhauses, das kurz vor der Universitätsreformation mitsamt der Bibliothek im Jahre 1534 in Rauch aufgegangen war, trat die Aula nova, die 1547 vollendet wurde und im vorigen Jahrhunderte ganz neu aufgebaut worden ist.

Tübingens jetzige geräumige Stadtkirche, dem heiligen Georg geweiht, übrigens nicht mehr im reinen altdeutschen Stil aufgeführt, scheint an die Stelle einer älteren, baufälligen getreten zu sein und wurde ums Jahr 1470 zu bauen angefangen; ihr Bau war bei Gründung der Universität noch nicht vollendet. Ihre große, wohltönende Glocke war schon im J. 1411 gegossen und somit Bewohnerin eines älteren Kirchenbaues. Eberhard im Bart erhob sie zu einer Kollegiat- oder Stiftskirche und versah sie mit einem Probst und tauglichen Canonicis. Die schöne Orgel, im J. 1732 erneuert und nachteilig aufgestellt, ist erst im J. 1836 an ihren alten und zweckmäßigeren Platz zurückversetzt worden.

In der Gruft der Kirche finden sich die Begräbnisse und im Chor die inschriftreichen Grabsteine Eberhards im Bart, Ulrichs, der jugendlichen Christina und ihres Bruders Herzogs Christoph, des Heiligen seines Landes, von dem sein Epitaph ohne Schmeichelei sagt: »dignus qui imperio fuisset orbis.«

In derselben Kirche ruhen alte berühmte Lehrer der Hochschule, darunter der fleißige Annalist Martin Crusius, dem auch diese Blätter manche merkwürdige Notiz, manche lebendige Sage aus Schwaben verdanken.

Noch darf ein unscheinbares Bauernhaus nicht vergessen werden, das, auf einem nördlichen Hügel vor der Stadt gelegen, den stolzen Namen Osiandreum führt. Die mündliche Sage erzählt, daß der Professor humaniorum Joh. Oslander, einer der seltensten Männer seines Vaterlandes, später württembergischer Prälat und Oberkonsistorialdirektor, der – mit französischer Sprache und Sitte seit einem Jugendaufenthalt in Paris bekannt – zur Zeit des Franzoseneinfalls unter Peysonnel im J. 1688 eine Art von Kommando über die Stadt bekleidete, hier sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Seine Unterhandlungen retteten die Stadt vor der Plünderung und die Stadtmauern vor der Zerstörung. Weil aber der französische General beschworen hatte, sie niederzureißen, so wurde in Gegenwart Osianders an vier Stellen eine Bresche in die Mauer gesprengt, und der Gallier sagte höhnend: »Sehet da die Macht eurer Wissenschaft auf der Erden liegen!« Ein Denkstein in der hergestellten Stadtmauer bezeichnet dieses Ereignis.

Die Umgegend Tübingens ist äußerst anmutig, voll der mannichfaltigsten Spaziergänge und Aussichtspunkte, unter welchen sich gegen Süden im Steinlachtale der St. Blasienberg, gegen Westen die von vier Dichtern L. Uhland, G. Schwab, Nie. Lenau, Alb. Knapp. besungene Wurmlinger Kapelle, gegen Norden das alte Kloster Babenhausen, tief im Walde gelegen, mit einer herrlichen altdeutschen Kirche und einem höchst kunstvollen Refektorium, auszeichnen. Zu entfernteren Ausflügen ladet die einst vorderösterreichische Stadt Rotenburg, sehr schön am Neckar liegend, das kleine, angenehme Bad Niedernau mit seinen Tannenwäldern und in verschiedenen Richtungen die Städte Hechingen, Reutlingen und Herrenberg ein. Köstliche Aussichten auf die Alb gewähren die Berge, die Tübingen umlagern; einen Überblick auch schon das Schloß, das jetzt die wissenschaftlichen Sammlungen der Hochschule beherbergt.

Zu Tübingen vom Schlosse
      Sieht man ein weites Land,
Zu Wagen, Fuß und Rosse
      Bewohner mancherhand,
Und Burgen und Kapellen
      Auf fernen Bergen stehn,
Und untenhin die Wellen
      Des stillen Flusses gehn. »Christophsromanzen«, 8.

Die alten, ehrwürdigen Tore der Stadt, deren eines, von Eberhard im Bart gebaut, sein Symbol und seinen Wahlspruch trug, sind jetzt alle abgebrochen, und nach mehrern Seiten hin vergrößert sich die Jahrhunderte lang innerhalb ihres Zwingers gebliebene Stadt. An dem Ufer des Neckars wohnen hier zwei große deutsche Dichter. Das freundliche Haus, das (auf unserm Bilde nicht sichtbar), an den Österberg angelehnt, gegen die Neckarbrücke herabschaut, ist Ludwig Uhlands Haus; weiter unten, in einem von den Wellen bespülten Turme, träumt seit 33 Jahren Friedrich Hölderlin und brütet über seinem verstummten Saitenspiel.


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