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Siebtes Kapitel

Wie dem Herrn Stadtrat heute besonders der Engel mit der Wage in die Augen fällt, und von der »Blauen Grotte«. – »Addio, addio!« – Warum Putzi der Schwester ein Stück Schokolade gibt und Mutter sagt: »Eine halbe Stunde, die du versäumst, bringst du den ganzen Tag nicht mehr herein!« – Von Schlittenfahren, Anstandslehre, und wie Rico und Miezi Tarantella tanzen. – Verspätet und keine Konzertkarten; und warum Fräulein Hermann keinen Geburtstagsgruß bekommt. – Wie Vater im Ostwind warten muß und Schnupfen bekommt. – Warum Hans sagt: »Inge soll gehen statt Miezi!« und Rico zugibt, daß mit Mammina leichter zu leben ist als mit den Eltern Neumeyer.

 

Die Reisebegleitung für Miezi war nicht so leicht zu finden, und jetzt, gegen den Winter hin, reisten mehr Leute nach dem Süden, als daß sie von dort zurückkehrten. Aber schließlich war's wieder der liebe, alte Professor, der sich damals schon mit Fahrkartenehmen und Aufsuchen der jungen Dame geplagt hatte. Er hatte im Laufe der letzten Monate die kleine Tedesca kennen gelernt und erklärte sich wieder gerne bereit, sie in seine Obhut auf der Reise zu nehmen, nur müsse sie ihm diesmal vorher in die Hand versprechen, daß sie nicht kurz zuvor noch eine Bergbesteigung, etwa eine Exkursion auf den Vesuv, machen wolle, und das versprach Miezi etwas beschämt, und sie hielt ihr Versprechen.

Weder auf den Vesuv noch auf einen anderen Berg zu gehen, hatte sie in den letzten Tagen vor der Abreise Lust. Im Gegenteil. Sie geizte mit jeder Stunde, die sie noch in dem ihr jetzt so lieb gewordenen Neapel und in Onkels Hause zubringen durfte. Aber etwas, das mußte und das wollte sie doch noch sehen, ehe sie Neapel verließ, das war die Blaue Grotte, von der Rico stets mit einer solchen Begeisterung sprach, daß sie ihm da nicht unter die Augen hätte kommen können, wäre sie nicht dort gewesen. Immer aber hatte es sich nicht schicken wollen, aber nun mußte es sich gerade so begeben, daß just wieder einen Tag vor der Abreise sich einige Bekannte zusammenfanden, die den Ausflug machen wollten. Diesmal wollte Miezi fest bleiben, sie hatte ja auch noch gar mancherlei zu besorgen, wollte für alle die Lieben daheim Mitbringe einkaufen, und auch ein Kleidchen als Abschiedsgeschenk für ihr Engele fertig nähen. Und überhaupt noch den letzten Tag ausnützen, den sie da war. Onkel Enrico, dem der Abschied von seinem »Miezerl« auch sehr schwer fiel, bedauerte gleichfalls, daß der Besuch der Blauen Grotte seiner Nichte nicht mehr vergönnt sein sollte. Sein Sohn hatte recht, in Neapel gewesen sein, und die Grotte nicht gesehen zu haben, war fast undenkbar. Da kam der Onkel an einem dieser Tage etwas früher als sonst aus dem Büro zurück, und schon ein lautes, freudiges Hallo verkündete Miezi und der Tante, die beisammen waren, daß irgend etwas Besonderes geschehen sein müsse, und so war's.

»Na Miezi, du hast Glück!« rief er in seiner lebhaften Weise, warf die Mütze auf den Tisch und zog sich einen Stuhl herbei.

»Du hast Glück, denn denk dir, mit der Blauen Grotte wird es jetzt doch noch etwas. Ich bin dem Professor begegnet, bin ein Stück weit mit ihm gegangen und habe ihm zufällig von der Sache erzählt. ›Ja, da schieben wir die Abreise ganz einfach um ein paar Tage hinaus,‹ sagte da der gute, alte Herr sofort. ›Ich habe nicht zu eilen, da mich niemand erwartet und ich gerade so gut ein paar Tage später in mein Sanatorium in Wiesbaden gehen kann. Wir reisen statt am siebten – sagen wir – am zehnten, was mir gänzlich gleichgültig ist, dem lieben Mädel aber zu der Erfüllung ihres Wunsches verhilft,‹ So ganz behaglich ist mir diese Änderung ja nicht, denn beim Hinausschieben einer Sache wissen wir, wie's geschehen kann. Und unser guter, aber manchmal unbequemer Hauswahlspruch an der Apotheke fällt mir ein: ›Heut – Beste Zeit!‹ Man weiß ja nie, ob einem nicht doch etwas dazwischen kommt, aber in diesem Falle dachte ich, könnten wir den Vorschlag wirklich annehmen, und ich denke, auch deine Eltern werden nichts dagegen haben, wenn sie's erfahren.« Miezi war einen Augenblick lang selig, besonders darüber, daß der Onkel selber nichts gegen die Änderung des Planes hatte. Aber dann wurde ihr Gesicht ernst. Hatte sie sich denn nicht ganz fest vorgenommen, ihres Hauses Wahlspruch auch zu dem ihrigen zu machen? Fast wollte sie dies sagen, doch Tante Gigina veranlaßte sofort eine kleine Einladung auf den Abend für die Teilnehmer dieser Partie, bei der Miezis Bleiben aufs lebhafteste begrüßt wurde.

Daheim in L. war helles Freuen auf Miezis Kommen. Merkwürdig aber war, daß, noch ehe der Brief von Neapel nach L. gelangte, der die Änderung des Reiseplanes mitteilte, dem Herrn Stadtrat auf dem Heimweg von einer Ratssitzung heute in ganz besonderer Weise der Engel mit der Wage in die Augen fiel. Die goldenen Buchstaben glitzerten so hell in der Wintersonne, und wieder einmal ward ihm wohl ums Herz über diesen herrlichen Wahlspruch seiner Familie, durch dessen Befolgen so lange Jahre hindurch es Halt und Ordnung in den Familien gab. Am selben Tag aber noch kam Onkel Enricos Brief mit der Beilage von Miezi und der Mitteilung der Reiseverschiebung. Er, der Bruder ändere auch nicht gerne, aber es sei ja keine wesentliche Sache und doch von großem Wert für Miezi, wenn ihr Kommen für einige Tage verschoben werde.

Frau Maria stand in der Küche und wellte mit Rike die Lebkuchen aus, während Minele oben Miezis Zimmer in Ordnung brachte und die Buben geheimnisvoll in ihrer Stube hantierten, nicht für Weihnachten, damit waren sie bereits fertig, denn es war ganz nahe, aber an einem transparenten Willkommen für Miezi.

»Sie wird sich freuen, so was mag sie,« sagte Rico, und er dachte dabei: »etwas Heimweh nach meiner sonnigen Heimat wird sie ja wohl bekommen, und es ist gut, wenn wir ihr auch hier etwas Licht und Wärme entgegenstrahlen lassen.« Aber wie von neuem entsetzt und auch recht besorgt waren die Neumeyerischen, als ein paar Tage später ein Telegramm vom Onkel kam, das lautete:

»Der Professor an schwerer Ischias erkrankt, beiderseitige Abreise leider hinausgeschoben.«

»Nun hat man wieder dieselbe Geschichte wie damals, und wer weiß, wann man endlich einmal das Kind wieder bekommen kann,« sagte die Mutter wirklich ärgerlich und etwas bitter zugleich. Der Vater aber räsonierte rückhaltlos und sagte: »Mit diesem ewigen Ändern und Nicht-Zeit-Einhalten. Was die Miezel nicht vorher schon darin geleistet hat, das lernt sie jetzt noch vollends bei diesem langausgedehnten Aufenthalt dort unten, bei diesen zeitlosen Leuten.« Aber er gedachte dabei mehr noch grollend seines Bruders, der wenigstens hätte doch fest hinstehen sollen.

Professor Battianis Schmerzen waren nicht so gleich wieder vorüber, wie man hoffte, und dann trieb's den guten, alten Herrn auch gewaltig herum, daß nun er die Schuld tragen mußte, daß das junge Mädchen nicht reisen konnte. Und sein Arzt und seine Haushälterin hatten keinen leichten Stand mit ihm. Zum Glück hatte er Miezi zu der Zeit ihres Aufenthaltes lieb gewonnen, aber ganz in der Stille nahm er sich doch vor, künftighin lieber allein zu reisen und frei zu sein, als sich ein, wenn auch noch so nettes, liebes Menschenkind aufhalsen zu lassen. Wäre er am bestimmten Tag gereist, so wäre er noch gerade an dem Ort, wo er Linderung seines Leidens suchte, angekommen und könnte jetzt schon seine Kur begonnen haben. Der jetzige Aufschub entleidete Miezi die ganze Blaue-Grotte-Geschichte. Aber noch unangenehmer war's für Onkel Heinrich, der in seiner Gutmütigkeit eigentlich direkt schuld war, er wußte ja auch noch genau aus der eigenen Jugendzeit, was in Deutschland Weihnachten bedeutete, und daß da, wenn irgend möglich, ein Kind ins Elternhaus gehöre.

Aber nun hatte es doch noch gereicht, daß Miezi gerade am Heiligen Abend ankommen konnte. Der Arzt hatte dem Professor das Reisen erlaubt, und es war Miezi eine Genugtuung, daß sie dem lieben, alten Herrn unterwegs manche Handreichung tun konnte. Sie machte sich nützlich beim Zurechtschieben seiner Decke, beim Umsteigen, beim Darreichen seiner Medizin und Vorlesen der unterwegs gekauften Zeitungen, da ihm im schüttelnden Wagen die Augen weh taten, so daß es in Stuttgart, wo sich die Reisegefährten trennen mußten, einen ordentlich zärtlichen Abschied gab. Und nun noch ein paar Stationen weiter, und dann fuhr Miezi wieder im wohlbekannten Bahnhofe ein, wo gleich wie damals, als die italienischen Verwandten kamen, die ganze Familie versammelt war. Miezis Gedanken waren auf der langen Fahrt noch recht viel in Neapels Schönheiten versunken und weilten bei den dortigen liebenswürdigen Menschen. Besonders aber tat ihr das Herz weh, wenn sie an ihr herziges, geliebtes Engele dachte, das beim Abschied gar nicht wußte, was denn los sei, als Miezi die Tränen herunterliefen. »Nicht so, das mag ich nicht!« sagte sie ängstlich. »Du solltst nicht weinen, denn ich war ja lieb, und wenn du male – Wehweh – hast, so gebe ich dir ein Stück Schokolade, da!« Und sie eilte an ihr Tischchen, auf dem in kleinen Geschirren immer etliche Bonbons bereit lagen. Dann aber nahm sie ihre Teresa, die auf dem Boden lag, und legte sie Miezi in den Arm: »Da, sie darf auch nicht weinen, Mammina sagt, die Farbe gehe ab.« Als aber Miezi beim Losreißen nur noch ärger schluchzte, da bekam die Kleine einen ordentlichen Zornesausbruch, denn sie merkte, daß es an ein Scheiden ging, und erst als die Mammina und die Peppina herbeieilten und sie zu zerstreuen suchten durch allerlei Versprechungen, hörte sie auf zu toben, aber noch lang – noch auf dem Flur, noch vor dem Hause hörte Miezi ein ganz jämmerliches:

» Addio, addio, Miezi mia!« Und erst recht bei der Peppina merkte Angela, deren Weinen stets in ein Schreien überging, daß es etwas Ernstes sei und ließ sich kaum halten, der Scheidenden nachzuspringen. Dieses eigentlich ungezogene, aber doch so liebe Jammern klang Miezi immer wieder in den Ohren. Aber jetzt sah sie hier all die Lieben wieder beisammen, die sie im Triumph nach Hause führten. Unten aus der Apotheke kamen die Herren heraus, und oben aus der Küche Minele und Rike, die sagte: »Na, kommst du endlich!« Aber dabei strahlte sie mit dem ganzen Gesicht, und als der Weihnachtsbraten so herrlich duftete, und kurz darauf alle so glücklich unter dem Weihnachtsbaum standen, da wallte Miezis Herz über, und sie fiel der Mutter um den Hals:

»Bin so froh, so froh, daß es noch gereicht hat!« Vater aber sagte, als Große und Kleine schon das traute, liebe Weihnachtslied gesungen hatten: »Stille Nacht, heilige Nacht!« und jedes dann an seinem Gabentisch stand und daraus die Liebe der andern erblickte: »Gelt Miezel, das ist doch etwas anderes als ein Feuerwerk da unten und ein theatralisches Spiel in der Kirche?«

Ja, das war freilich etwas anderes. Und die Weihnachtstage, wo Miezi erzählte und ein jedes ihr erzählte, was es in der Trennungszeit alles erlebt, und dann das Wiedersehen mit den Freundinnen und Bekannten, das war wunderschön! Wie nun aber Neujahr kam, wie die letzten Lichter am Baum verglommen und die letzten Weihnachtslieder verklungen waren, und als nun der nüchterne Alltag wieder begann, da war es Miezi oft nicht so feierlich mehr zumute. Hier harrten ihrer Pflichten, zu deren Erfüllung jetzt eine prompte Zeiteinteilung gemacht wurde, und darnach mußte gelebt werden. Arbeits- und Musikstunden, Überwachen von Inges Aufgaben, und vor allem Helfen im Haushalt, das stand jetzt auf der Tagesordnung, und Mutter hielt strengstens darauf, daß diese Ordnung eingehalten wurde.

»Das kann ich doch unmöglich alles erfüllen,« seufzte Miezi in der ersten Zeit, und sie gedachte mit Sehnsucht der herrlichen Freiheit, die sie bei den Verwandten gehabt hatte. Schon das Frühaufstehen zur bestimmten Stunde fiel ihr recht schwer. Wie köstlich war's doch gewesen, nach Herzenslust ausschlafen zu dürfen, und Mutter hatte an manchen Tagen rechte Mühe, sie aus den Federn zu bringen.

»Die halbe Stunde, die du da versäumst, bringst du den ganzen Tag nicht mehr herein, Miezel!« Und sie machte allerdings gar bald die Erfahrung, daß dem so war. Nirgends wollte es reichen, oder irgend etwas mußte ausfallen oder oberflächlich getan werden. Auch dies hatte sie sich ein wenig in dem so großzügigen Haushalt bei Onkels angewöhnt, und mit Mißbehagen entdeckte die Mutter beim Durchsehen von Miezis Wäsche, daß da ein Riß nicht zugestopft, dort ein Knopf nicht angenäht war. Solch kleine und doch wichtige Dinge wurden dort nicht gewichtig genommen, und seufzend nahm Miezi diese »kleinen Arbeiten« vor, die zu übersehen, nach Mutters Ansicht einfach unpünktlich war.

Auf die Brüder – Rico war natürlich auch damit gemeint – hatte sich Miezi am meisten gefreut, aber es war ein Jammer, wie wenig Zeit sie für die Schwester hatten. Ja, in den Festtagen, da war's einfach köstlich gewesen! Wieviel wollte Rico wissen, mit welchem Interesse hörte er zu, er, der so genau alles wußte von »da drunten«, wie im Hause allgemein von Neapel gesagt wurde, und alle Bauten dort kannte. Die beiden sprachen zu Hansens Ärger auch öfters Italienisch miteinander, wobei sich Vater über Miezis doch ziemlich rasch erworbene Kenntnisse freute.

»Das ist gescheit, Mädel, das wird dir noch einmal nützlich sein! Und wenn du jetzt dann noch dein Französisch und Englisch auch so gründlich treibst, so kann man dich einmal brauchen im Leben.« Aber gerade das Studium dieser Sprachen mochte Miezi gar nicht, obgleich die Mutter für sie ein Kränzchen vorbereitet hatte, wo nicht deutsch, sondern in diesen Sprachen geplaudert werden sollte, und das war ja immerhin nett gedacht. Die letzte Klasse der Töchterschule hätte Miezi gerne noch durchgemacht, das Lernen war ihr ja stets wichtig, aber durch ihr langes Fortsein war sie doch sozusagen ausgetreten. Doch gelang es den Bitten der Eltern, daß Miezi immerhin an einigen Stunden noch teilnehmen durfte. Das tat sie schon gerne um der Brüder willen, denn in den letzten Jahren hatte sie immer ihren Stolz darein gesetzt, nicht zu weit hinter deren Kenntnissen zurückzubleiben.

Wenn Miezi mit Begeisterung von all dem Schönen, das sie bei den Verwandten erlebt, erzählte, so interessierten sich die Buben und auch die Kleinen fast am meisten für die Barkenfahrten und das Schwimmen im Meer. Ja, das war einfach wunderbar gewesen! Die Freundinnen aber beneideten sie besonders um die herrlichen Spazierfahrten, die sie mit der Tante machen durfte. Aber jetzt, im Januar, wo es kalt wurde und Schnee fiel und man Schlittschuhfahren und Rodeln konnte, das war nun fast noch schöner als das, was die dort taten.

Inge, die nun recht selbständig geworden war, nahm täglich ihren Schlitten mit in die Schule, die an einem Berg lag, von dem aus sie dann mit großer Geschicklichkeit beinahe bis vor ihr Haus herab heimfahren konnte. Putzi, der stramme, nun auch schon recht herausgewachsene Bub sagte: »Das kann ich doch auch!« aber es war doch noch besser, wenn er von Minele in seinem großen Kinderschlitten gefahren wurde, was ihm aber seit einiger Zeit wenig behagte. Doch durfte er vor dem Hause an einem Brunnen schleifen und mit ein paar Nachbarskindern spielen.

Ein Vergnügen anderer Art aber hatte sich die Mutter für Miezis Rückkehr aufbewahrt, das war, sie und die Brüder sollten Tanzstunde zusammen bekommen, und zwar in allernächster Zeit. Gleichaltrige Jungens und Mädchen, Kinder von befreundeten Familien hatten sich nach Auswahl der Eltern zusammengetan und sollten nun bei einem bekannten Tanzlehrer zuerst Anstandslehre bekommen, daß sie sich nicht mehr gar so eckig und ungeschickt benahmen. Vor allem aber, daß sie auch nette Verbeugungen machen lernten, den älteren Menschen gegenüber. Später sollten sie dann auch einige Tänze lernen. Man hatte damit gewartet, bis Miezi zurückkam, und gleich in den ersten Tagen wurde sie mit dieser Nachricht überrascht. Die Eltern und aber auch die Brüder waren enttäuscht, als Miezi wenig Interesse dafür zeigte und nachher zu Rico sagte:

»Ich habe bei euch unten ja schon ein paarmal richtig getanzt, kann es ja auch schon ganz gut. Es waren ja dort schon ganz fertige, erwachsene Herren, die mich aufforderten, und da habe ich doch nicht mehr nötig, mit euch Buben herumzuhüpfen.« Da kam sie aber bei Hans schön an:

»Was sagst du, wir wären Buben? wo wir uns doch schon aufs Abiturium vorbereiten? Deine ›Herren‹ da unten haben dich Grasaffen doch nur aufgefordert um des Onkels willen. Sag, Schwarzer – Hans nannte den Freund gerne so – sag, Schwarzer, ob dem nicht so ist? Und wenn das dumme Mädle sich einbildet, deshalb schon ein Fräulein zu sein, so war's allein wegen ihrer modischen Fahnen, die sie dort angehabt hat.«

»Hans ich bitt' mir aus, daß du nicht in diesem Ton mit mir sprichst!« erwiderte Miezi darauf tief gekränkt, und Rico vermittelte in seiner lieben, ruhigen Art sofort zwischen den Geschwistern:

»Hans weiß eben nicht, daß in Italien schon ganz junge Mädchen tanzen. Die lernen's schon als Kinder untereinander. Aber Miezerl freut sich deshalb doch auch wie wir, und es wird lustig sein, wenn sie uns dann einige Tänze, die wir dort haben, vortanzen wird. Nicht wahr? Hast du auch Tarantella gelernt?« Und als Miezi darauf begeistert antwortete: »Ja, ein wenig, und es ist auch so schön, wie die Burschen singen!« da sing Rico an zu pfeifen und sich zu drehen, und Miezi, begeistert, sang dazu eine wunderhübsche Weise, und sie drehte und wiegte sich, und alle im Hause kamen dazu und freuten sich und lachten und bewunderten, und auch Hans vergaß den Streit von vorhin und sagte: »Ich will's auch lernen.« Was die Kleider anbetraf, die Miezi mitgebracht, so wurden sie sehr bewundert in L., aber für Mutters Geschmack waren sie zu modern und auch in den Farben zu auffallend. Auch hatte Miezi ganz den Maßstab verloren von Werktags-, Sonntags-, Haus- und Ausgehkleidern. Als sie an einem der ersten Morgen in einem schönen, hellblauseidenen Kleid in die Küche trat, um, nicht ohne Stolz, sich dort zu zeigen, da schlug Rike die Hände über dem Kopf zusammen, und sagte:

»Wirst doch nicht in einem solchen Pfauenrock am hellen Werktag herumlaufen!« Mutter sagte dasselbe, wenn auch mit anderen Worten. Aber sehr ungern, bitter ungern – denn jetzt mußte man ja wieder Mutter folgen – wechselte sie das Kleid mit einem einfacheren, das Tante Gigina dort als »unmöglich« verworfen hatte, und zu ihrem großen Schmerze und Leidwesen mußte sie zusehen, wie die Mutter gerade die paar allerschönsten Kostüme, die die Tante ihr geschenkt, einfach beiseite hängte und sagte: »Werd' noch ein klein bißchen älter, dann holen wir sie wieder heraus. Der dortige Geschmack ist eben ein anderer als bei uns, und ich möchte nicht, daß du in diesen bunten Farben und diesem fremden Schnitt auffällst.« Das wäre ja auch der Fall gewesen, Miezi mußte es selber einsehen. Und erst recht, als die Tanzstunde begann, und die meisten Mädchen in einfachen hellen Sommerkleidern erschienen, da mußte Miezi sich selber sagen: »Mutter hat recht, ich wäre ja unter den andern wie ein Paradiesvogel.« Aber schön war's halt gewesen, und die Tante so bequem und so zustimmend in allem. Und was die strenge Zeiteinteilung anbelangte, in der sie jetzt wieder leben mußte, so war es Miezi wie einem Vogel im Käfig zumute. Warum aber auch war das hier so? wiederholte sie oft Tante Giginas Frage, und das alte »Fräulein Nur-noch« guckte dahinter trotz aller redlichen Vorsätze manchmal wieder hervor. Und daß diese, einst manches störende, kleine Person, die jahrelang verschwunden schien, hie und da wieder auftauchte, das empfanden nach und nach alle im Hause und auch andere. – Vorerst aber, noch unbewußt, litt Miezi selber am meisten unter ihrem Fehler. Neulich war ein Konzert gewesen, auf das Miezi sich ganz furchtbar gefreut hatte. Eine große Künstlerin sang gerade die Lieder, an denen sie sich selber schon probierte. Vater wollte seinen Kindern eine große Freude machen und beauftragte Miezi, für sich und die zwei Buben Eintrittskarten zu nehmen. Miezis Weg in die Nähschule ging an dem Laden vorbei, wo man sie haben konnte.

»Tu's aber bald, denn der Andrang wird ein großer sein!« mahnte der Vater. Im Hinweg reichte es Miezi nicht, weil sie wieder einmal zu spät aufgestanden war, und im Rückweg nicht, weil nach Schluß der Schule die Mädchen eine Besprechung untereinander hatten über ein Geschenk, das sie der sehr beliebten Lehrerin zu ihrem fünfzigsten Geburtstag machen wollten. – Miezi hatte in Italien etwas ganz Besonderes gesehen, was all den Mädels sofort einleuchtete. Es war eine Teeserviette, außen herum mit Hohlsaum, und innen hatten kreuz und quer die Schenkenden ihre Namen mit Bleistift hineinzuschreiben, dann nachher in allen möglichen Farben bunt einzusticken.

»… Das ist köstlich, Miezel! … Miezel, das ist einfach ein ganz entzückender Gedanke!« riefen die Mädchen durcheinander, und Miezi war gleichfalls so begeistert von der Sache, daß sie einfach einmal wieder die Zeit vergaß, und mit ihr die Konzertkarten.

»Die kann man auch heute Abend an der Kasse noch haben,« versicherte eine Freundin, die denselben Weg mit ihr hatte. »Du kommst halt eine Viertelstunde früher, meine Mutter hat's schon manchmal so gemacht, auch werden sogar gewöhnlich an der Kasse noch die besten Plätze zurückbehalten.«

Die Buben waren erstaunt, wie prompt Miezi an diesem Abend sich richtete, sie selber waren immer schnell bereit, denn sie hatten nur die Mützen aufzusetzen. Aber wie sie sich der Konzerthalle näherten, da wurde es Miezi schwül zumute, denn jetzt schon, eine Viertelstunde vor der Zeit, standen viele Leute da.

»Gut, daß du die Karten hast!« sagte Hans, was Miezi einen Stich ins Herz gab, denn gleich darauf, als sie zum Erstaunen der Brüder vorausrannte und atemlos an der Kasse Karten forderte, hieß es kurz: »Ausverkauft! Heute Mittag haben wir die letzten hergegeben.« Daß sich da Hansens ganzer Groll gegen die Schwester wendete, kann man sich denken, und auch Rico konnte sich nicht enthalten, traurig zu sagen: »Du hattest doch den Auftrag übernommen, wäre ich doch selber gegangen. Schade um das, was wir nun nicht hören, denn so eine Größe kommt nicht leicht wieder in unsere Stadt.« Miezi weinte und versicherte, sie könne gewiß nichts dafür, aber schuld war sie eben doch an diesem Geschehnis, und drei enttäuschte Menschenkinder gingen einem verstimmten Abend entgegen.

Kurze Zeit darauf hatte Miezi wieder die Folgen ihrer unpünktlichen Zeiteinteilung zu tragen. Sie hatte in ihrem warmen Eifer sich angeboten, den Hohlsaum um die Serviette zu machen, darin hatte sie eine besondere Fertigkeit, und wenn sie etwas freute, so arbeitete sie auch sehr rasch. Nun eilte aber die Sache. Die Serviette wanderte schnell bei allen Beteiligten herum, und jede stickte ihren Namen hinein. Zuletzt kam sie zu Miezi. Es war aber noch genügend Zeit vorhanden, und so etwas machte sich ja auch schnell. Gerade in diesen Tagen aber sollte in der Tanzstunde, wo bisher nur Anstandsregeln und Komplimente gelehrt wurden, der erste Tanzabend stattfinden, und zwar hatte Mutter dazu den schönen Festsaal im Goldenen Engel angeboten. Das war nun wirklich eine große Sache, und, ob Buben oder Herren, daran dachte Miezi jetzt nicht mehr, es kamen ja auch etliche von den Mädels aus der Nähstunde, und da mußte doch alles hübsch, wenn auch nicht luxuriös hergerichtet sein. Das wollte Mutter auch, und im stillen war sie mit den Kindern immer ein wenig stolz auf diesen feinen Familienraum, der in dieser Art in keinem anderen Hause zu finden war. Die betreffenden jungen Herren kamen des öfteren zu wichtigen Besprechungen zu den Brüdern, und ebenso die Mädels zu Miezi, der die Sache nun doch auch wichtig und momentan zu einer Hauptsache geworden war.

Ganz kurz vor Beginn dieses wichtigen Abends kam Lilly Huß, die Miezis Freundin all die Jahre her geblieben war, zu ihr gelaufen. Atemlos hastete sie heraus: »Will nur noch rasch die Serviette holen, denn sie muß jetzt gleich noch eingepackt werden, weil Fräulein Hermann sich rasch entschlossen hat, ihren Geburtstag daheim bei den Ihrigen in München zu feiern. Ein paar Mädels warten unten schon mit einer Schachtel und bringen unsere Gabe dann gleich auf die Post. Schade, daß wir's nicht selber übergeben können, aber es ist nun einmal so.«

Ganz entsetzt schaute Miezi die Freundin an. Den Namen hatte sie ja wohl angefangen zu sticken, und heute Nacht nach der Tanzerei hatte sie die feste Absicht, ihn fertig zu machen, oder noch morgen früh, wenn sie ein wenig früher aufstand, das wäre alles ganz gut gegangen, wie sie sich einredete. Aber nun nützte alles nichts, die Mädels unten drängten, einige der übereifrigen jungen Gäste kamen schon die Treppe herauf, und so mußte eben die unvollendete Arbeit abgeschickt werden. Das war für Miezi ein großer Schmerz und sehr beschämend. Nun fehlte gerade ihr Name, wo sie doch die Lehrerin so liebte. Was würde auch Mutter darüber sagen, wenn sie es erfuhr …

In der nächsten Zeit aber häuften sich derartige Vorkommnisse. Und die Folgen ihrer Unpünktlichkeit waren Miezi diesmal wirklich schrecklich. Der Vater, der tagsüber sonst eigentlich selten seine Apotheke verließ, hatte schon längere Zeit den Entschluß gefaßt, seiner Tochter neben den anderen Stunden, die sie noch hatte, eine Privatstunde mit Hans geben zu lassen, um die beiden, die nun doch einmal Kinder der Engelapotheke waren, in die Anfänge der Chemie ein wenig einzuführen. Er hatte sich mit dem betreffenden Lehrer darüber besprochen, und dieser hatte ihn aufgefordert, an einem seiner wenigen freien Nachmittage mit den zweien zu ihm zu kommen, um sich das Laboratorium anzusehen. Miezi hatte sich darauf gefreut, denn so etwas liebte sie. Um drei Uhr war die dazu bestimmte Stunde, und Vater wollte vorher noch einen Ausgang damit verbinden. Da er sein Miezikind kannte, bestellte er sie an eine bestimmte Ecke, und Hans, der vorher eine Stunde hatte, sollte von einer andern Seite her dazu kommen.

»Gelt du bist pünktlich, Miezi. Es ist heute bei dem abscheulichen Schneewind keine Freude, zu warten.« Hans war zur ausgemachten Zeit da. Der Vater kam gleich darauf, aber wer nicht kam, war Miezi. Dreiviertel war längst vorüber, es schlug drei Uhr, und erst fünf Minuten nachher lief, was es laufen konnte, ein Etwas die Straße herauf, und ganz atemlos kam sie bei den beiden an.

»Natürlich wieder zu spät! Ist's denn aber auch möglich, daß du diese Abmachung wieder vergessen hast und deinen Vater bei solchem Wetter stundenlang hinstellst? Es muß ein Wunder geschehen, wenn ich mir nicht die Grippe geholt habe, die gegenwärtig doch so herumgeht.« Das war Miezi entsetzlich, und noch entsetzlicher, daß der sonst immer so grundgütige Vater diesmal kein Wort mehr für sie hatte, auch keine Entschuldigung von ihr verlangte, und das war wirklich gut, denn wie hätte sie ihm sagen können, daß es wiederum eine Geschichte war, über der sie sich vergessen, in die sie sich so vertieft hatte, daß die treue, alte Uhr einfach einmal wieder umsonst gelockt und gedroht hatte. Da nützte kein noch so schnelles Eilen und Rasen, sie hatte eben wieder nicht auf die richtige Zeit geachtet. Daß Hans beim Nachhausekommen mit seinen kräftigsten Farben die Sache ausmalte und ebenso mit den kräftigsten Ausdrücken, die ihm in besonderer Weise zu Gebote standen, schilderte, das machte die Sache nicht anders, sondern brachte nur auch die Mutter in Aufregung, weil Vater einmal über das andere niesen mußte und sichtlich sehr verstimmt war. Die Grippe bekam er nicht, aber einen sehr heftigen Schnupfen, was den pflichttreuen, tätigen Mann gerade genug belästigte und ihn von seiner Arbeit abhielt.

Das waren kurz nacheinander leider recht peinliche Begebenheiten, die Miezi, die doch im Grunde ein gutes Herz hatte, immer wieder zu dem festen Vorsatz veranlaßten, diesen Fehler der Zeitlosigkeit zu bekämpfen. Zu ihrer großen Beschämung schenkte ihr der Vater zu Ostern auch noch eine Uhr mit großem Ziffernblatt auf ihren Schreibtisch, – eine Armbanduhr, die sie aber sehr oft anzuziehen vergaß, hatte sie schon zur Einsegnung erhalten. Das bedrückte Miezi, denn sie liebte den Vater doch so sehr, und noch peinlicher war für sie, wenn Mutter irgend einen Auftrag gleich zwei oder dreimal eindringlichst wiederholte, als wäre sie ein kleines Kind. Und wenn Hans, oder neuerdings selbst Rike, sehr oft sagen konnte: »Minele soll lieber gehn,« oder: »Inge besorgt das sicherer, – auf die Miezi kann man sich ja doch nicht verlassen,« so traf sie das wie Pfeile ins tiefste Herz. Immer konnte man doch auch nicht mit der Uhr in der Hand herumlaufen, manchmal ging sie auch etwas falsch, und in vielen Fällen war es doch auch nicht so furchtbar wichtig, wenn man die Zeit nicht auf ein Viertelstündchen einhielt. Und von neuem regte sich's oft wieder in Miezis Herzen: »Um wieviel bequemer ist darin doch Tante Giginas Art, und Onkel Heinrich machte auch gar nicht so viel Wesens daraus, wenn nicht alles auf die Minute geschah!« Wie sehr aber der von ihr sehr geliebte Onkel innerlich doch unter der sorglosen Art seiner Frau litt, das hatte Miezi damals, als sie in Angst um den Vater wegen der etwaigen Grippe zu Rico gelaufen war, erfahren. Sie hatte ihm, der als einziger nicht stets etwas an ihr auszusetzen hatte und sie anders haben wollte, als sie nun einmal war, ihr Unbehagen geklagt und dabei gesagt, wie kleinlich man doch hier sei gegen da »drunten«, und wie viel bequemer es sei, mit Tante Gigina zu leben, als mit den Eltern. Rico saß an seinem Pult und hatte eine schwierige lateinische Aufgabe vor sich, aber geduldig ließ er sich unterbrechen. Und dann, sein Löschblatt über das Geschriebene legend, hielt er inne, sah die Pflegeschwester prüfend an, und dann sagte er in seinem, noch immer etwas mangelhaften Deutsch:

»Das kann ich nicht behaupten, daß mit meiner Mammina es leichter zu leben ist als mit deinen Eltern. Weißt du, Miezi, du hast nur im Vergnügen da unten gelebt, aber, wenn man lebt für sein Arbeit, und nach sein Pflicht, so ist es serr schwer, uhrlos zu sein. Und ich habe serr oft gesehen, daß Vater darunter gelitten hat. Es fehlt das gute, feste Halt. Und deshalb, so heiß ich liebe mein Heimatland, und so serr ich mich sehne nach dort, so bin ich doch froh, hier bleiben und lernen zu dürfen nach einem Stundenplan und bei deine Mutter, die einem hilft, fest zu wissen, was man tun soll.« Der Bub mit seinen ernsten, dunklen Augen schrieb wieder weiter, Miezi aber vergaß diese Stunde nicht, und Ricos einfache Sätze gaben ihr mehr zu denken als die so wohlgemeinten Ratschläge der Eltern, die sie leider eben gar oft wieder vergaß.

Der Winter verging, und das Frühjahr kam in gewohnter Weise. Die Jugend tanzte und spielte, trieb Sport, und daneben wurde auch fleißig gelernt im alten Hause auf dem Marktplatz. Pflichttreu zu sein, lag ja schon im Blute der Neumeyerischen von Generationen her. Der Garten blühte wie alle Jahre im herrlichsten Blumenflor, die Kirschen und die Beeren reiften und wurden eingeheimst, und für Mutter und Rike war wieder die Einmachzeit gekommen, wobei Miezi jetzt, soweit die Stunden es ihr zuließen, fleißig mithalf, und auch Inge tat schon, was sie konnte. Sie war Rikes besonderer Liebling.

»Sie hat Schaffhände und greift an,« sagte sie. »Was sie macht, hat eine Art,« in welchem Lobe aber immer ein ganz kleiner Tadel für Miezi verborgen war, die eben, nach Rikes maßgebender Ansicht, lange nicht so willfährig und tüchtig im Haushalt war, als es sein sollte.


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