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XI.

Allein nach der ersten, herrlichen Morgenröte sanken die Wolken abermals gegen den Horizont hinab, und nur langsam kämpfte sich die Sonne der Befreiung hindurch, um zum Zenith des Ruhmes und Glückes zu steigen am Himmel der Weltgeschichte. Napoleons 29stes Bulletin, das allbekannte, berüchtigte, bestätigte, unumwunden trotz etlicher Floskeln, die Vernichtung der ungeheuren Armee. Die Todesstunde des napoleonischen Kaisertums schien bevorzustehen. Aber ein solcher Riesenleib wehrt sich, unter Zucken und Winden, lange gegen das Sterben.

Die schaurige Beresinakunde brachte zu Neujahr 1812 vorerst auch in das entlegene Bremen einen Freudentaumel. Anfang März bezogen, auf höheren Befehl, zwei Kompagnien der Bremer Bürgergarde ihre alten Wachen, und die Präfekturgarde lief davon. Allmählich brannte auch den verhaßten Douaniers, den Receveurs und Greffiers der Boden unter den Sohlen; sie fingen an ihre Familien und ihre beste Habe in die Heimat zurückzuschicken, abends vor Dunkelwerden und Torschluß. Das Volk aus den Gängen und Gäßchen der Alt- und Neustadt fuhr drohend auf sie ein, wo sie sich nur blicken ließen und vergriff sich tätlich an den Zollquälern und Steuerbedrückern. Dem Präfektursekretär, der seines Herrn Kostbarkeiten in Sicherheit bringen sollte, ging es nicht besser; die Brinkumer Ortssassen fielen seine Kutsche an, und gegen den Präfekten selbst schüttelten sich die Fäuste. Der übergährige Haß sprengte den Zapfen und schoß zischend durchs Spundloch hervor. –

Die letzten Fieberbewegungen vor der endlichen Genesung vom welschen Pestübel waren noch schwer und kritisch. Neben der großen Volkserhebung, die sich von Ostpreußen aus durch alle deutschen Lande verbreitete, tobten die Tumulte und Kämpfe an der Wesermündung auf bremischem und oldenburgischem Boden: die Bauernaufstände im Lande Wursten und zu Blexen mit ihrem jammervollen Ende: Volkskraft und -zorn nutzlos verpufft wie elende Feuerwerksraketen. Dann erschien der Rächer solcher Unbotmäßigkeit, der furchtbare Vandamme, von dem »Freimund Reimars« Zeitlied sprach:

»General Vandamme,
Welchen Gott verdamme!« – – – –

– er, der sich selbst also schilderte:

»Brav und redlich von Charakter, gerecht aus Gewohnheit, werde ich schrecklich durch meine Pflicht. Ganz Soldat und den Forderungen dieses Standes ergeben, kenne ich keine Schonung, wenn der Befehl meines Kaisers, das Beste meines Vaterlandes und unser Waffenruhm solches verlangen,« – und Bonaparte sagte von ihm: »zwei Vandammes möchte ich nicht haben; jedenfalls müßte ich einen der beiden erschießen lassen.«

Auf dem Waller blachen Felde bei Bremen ließ er am 5ten April die letzten vier der Blexener Aufrührer durch Pulver und Blei richten; am l0ten ebenso die Oldenburger Kriegskommissairs von Finckh und von Berger, des Hochverrats schuldig befunden. Am 13ten und 18ten weitere Erschießungen, und am 21sten ward auf seinen Befehl das schuldlose Dorf Lilienthal in der anmutigen Wummeniederung schonungslos in Asche gelegt. Am 22sten lieferten die russischen Streiftruppen, zusammen mit einer Kompagnie Hamburger und Lübecker Hanseaten, den Feinden bei'm Flecken Rothenburg ein erfolgreiches Gefecht. Erfolgreich für den noch verzagten Geist unserer Soldaten, trotzdem die Franzosen viel Munition verknallten; im Sturm die Wälle der kleinen, offnen Befestigungsanlage außerhalb des Fleckens berannten und diesen selbst, vor der Flucht, weidlich ausraubten.

Am Tage darnach nahm der zurückgekehrte Davoust die Zügel des militärischen Regiments bei uns nochmals in gestrenge Hände, aber es ging gelassener her, als unter Vandammes Schreckensherrschaft. Vandamme warf sich auf Hamburg und die Elbinseln. – Dumpfe Ruhe lag über Bremen. Der freie Verkehr aus und ein zu den Toren war durch die Späher und Revolutionsriecher sehr erschwert worden; wo drei oder vier auf der Straße beisammenstanden, jagte die französische Polizei sie auseinander und verhaftete rechts und links, bei'm geringsten Löcken wider den Stachel. Die bleiche Furcht kroch wieder in die Häuser und warnte vor lauten Worten und aufgeregten Mienen. Im Mai kamen Kriegsgefangene und Verwundete aus den Elbinselkämpfen in ganzen Transporten und erregten Angst und Mitleid mit der unglücklichen, bezwungenen Schwesterstadt immer von neuem. Handel und Wandel lagen im Argen, und keiner wurde mißtrauischer beobachtet als Smidt in seiner Notariatsstube und auf seinen Gängen durch die Stadt. Am liebsten hätte Davoust ihm vor seinem friedlichen Familienhause einen Spürhund an die Kette gelegt.

Smidt fühlte, daß der Befehlshaber ihm nicht wohl wollte, allein er ließ sichs nicht anfechten. Er hatte den Prophetenblick und sah das nahe Ende der Fremdherrschaft voraus. Von Tag zu Tag harrte er sicherer auf die Siegesnachrichten aus Sachsen, wo sich der Kriegsschauplatz festgelegt hatte. Die Schlacht von Bautzen; der Rückzug der Verbündeten, der unheimliche Waffenstillstand zu Poischwitz, von Anfang Juni bis August, machten ihn nicht irre in seiner Ueberzeugung, daß die Siegeswende nahe sei. – Er erschaute, wie schon oft, die fernen Ziele klar im Zukunftslicht, und, rückschließend, bahnte sich sein Geist die Pfade dorthin, wo ihm das alte Friedensglück im neuen Kleide winkte. Oefter und öfter schob er in freien Minuten und Stunden seine Notariatsakten beiseite; grübelte, plante und schrieb nieder, in Andeutungen und einzelnen, schöngefaßten Gedankenspänen. Ueberlegte schon jetzt die Neubesetzung wichtiger Posten durch Heimatsgetreue an Stelle der deutschen Franzosenfreunde. Bekehrten solche sich nicht von Grund auf: an ihm sollte es nicht mangeln, daß sie mit der Wurzel ausgemerzt, oder für die Politik und das öffentliche Wirken unschädlich gemacht wurden, Gott geb' es bald!

Seine Regierungskunst, die drei Jahrelang hatte verstauben müssen, auferstand in der kleinen Amtsstube des Notariats, frischte die Farben der verblaßten Bildgestalten auf, und vergoldete mit feinem Pinsel die Lettern der uralten, redenden Rathaustüre:

»Erhalte Eintracht unter den Bürgern,
»Habe das allgemeine Beste vor Augen,
»Sorge für die Einkünfte der Stadt, damit sie desto mehr aufblühe,
»Halte fest auf die Grundgesetze. – – –«

– Ja, so sollte es wieder werden; frischen Mutes hoffte er's; Mut war vonnöten und die rechte Willenskraft. Denn die gewohnheitsmäßige Auflehnung gegen das allzuschwere Knechtsjoch konnte man nicht Willenskraft nennen; noch den Taumel plötzlicher Erlösungsgewißheit Mut. – Gott helfe ihm, daß er ein Beispiel zu geben vermöchte. – Er glaubte an sich, und das war sein Glück im Unglück.

*

Ende August nahm Davousts Mißtrauen gegen Smidt feste Gestalt an. Ein namenloser Angeber hatte in einer solchen Weise über ihn nach Hamburg berichtet (wo Davoust damals weilte), daß des finsteren Gestrengen rotbraunes Gesicht vor Wut fahl wurde. Er schrieb selbst den sofortigen Verhaftungsbefehl für Smidt nieder und beauftragte seinen Polizeichef d'Aubignose, den Landesverräter unverzüglich nach Wesel abführen zu lassen. –

Diese geschichtliche Tatsache ergänzt eine Familienlegende sogar dahin, daß Davoust Standrecht: – Erschießen verfügt habe. Ich möchte mich nicht für die Wahrheit solcher Verfügung verbürgen. Jedenfalls aber eilte Smidts jüngerer Freund Dr. Fritz Heineken umgehend von Bremen nach Hamburg und ließ sich bei d'Aubignose in seines Freundes Angelegenheit melden. D'Aubignose empfing ihn liebenswürdig und erklärte unverhohlen, daß er an eine persönliche Schuld des Sieur Smidt nicht glaube; wohl aber daran, daß man den einflußreichsten Beamten Bremens als eine Art Geißel festzusetzen wünsche, um so die Bürger der bonne ville de Brême in gegenwärtigen kritischen Zeiten zu Ruhe und Botmäßigkeit zu zwingen. Fritz Heineken ging von d'Aubignose stracks zu Davoust, erzwang seine Vorlassung und ruhte nicht, bis er einen Aufschub des Haftbefehls erreicht hatte. Jedoch sollte Smidt, zu mündlicher Rechtfertigung bei Davoust, selbst in Hamburg erscheinen. Als er dem Befehle nachkam, fand er das Quartier leer. Der Grimmige hatte zurück in's Feld gemußt. Nach der Poischwitzer Waffenruhe war der Krieg auf's neue ausgebrochen.

Anklage und Strafe blieben in der Luft hängen. Die Schlachten von Ende August bis Anfang Oktober brachten für die Verbündeten Sieg über Sieg; all die kleinen, glücklichen Zwischengefechte ungerechnet. Große Tage: der 26ste August an der Katzbach, der 30ste bei Nollendorf; der 6te September bei Dennewitz – der 4te Oktober bei Wartenburg, General Yorks Ehrentag. – Und dann, am 18ten Oktober, strömte das edelste, deutsche Blut in der Leipziger Völkerschlacht fürs Vaterland dahin. Das deutsche Banner war ein redendes geworden, gleich den uralten Türen der Wittheitsstube im Bremer Rathause: »Durch schwarze Nacht und blutigen Tod zur goldnen Freiheit.« – Schwarz, rot, golden: durch die grauen Pulverschwaden stieg endlich die Sonne des neuen Tages groß und klar über den Schlachtfeldern empor.

*

Von den drei Befreiungstagen in Bremen, dem 13ten, 14ten und 15ten Oktober 1813, soll mein lieber Vater berichten; so wie er es uns Kindern einst erzählt und später in einem Vortrag zur Fünfzigjahrfeier der Befreiung niedergelegt hat. Aus einer frischeren und lautreren Quelle könnte ich nicht schöpfen.

Vater erzählte:

»– weder unsre Dränger noch wir Bedrängten dachten an eine solche Ueberraschung, wie die vom 13ten Oktober, früh am Morgen. Da sprengten die ersten Kosacken heran, und gleich bei'm Ostertor warf sich ihre Vorhut auf die französische Wache. Der Alarm blies schrill durch die Stadt, und im Nu kamen die Voltigeurs wie geflogen zur Verteidigung. – Noch mehr Kosacken – immer mehr! Den Voltigeurs fielen sie keck in den Rücken und nahmen den ganzen Trupp gefangen, als er vor dem plötzlichen Kartätschenhagel der hanseatischen Batterie, unweit Hastedt, zurückprallte.«

»Unser Gartenhaus, Kinder, dasselbe in dem Großvater und Tante Mine jetzt leben, war damals kleiner und einfacher; wir wohnten immer nur von Ostern bis Freimarkt d'rin, und es lag ganz im Grünen, als das einzige auf der Strecke zwischen Ostertor und Kohlhökerstraße. Die hatte auch nur erst ein paar Häuser, ländlich und bäuerlich unter Strohdach. Wir kleinen Bengels, Bruder Hermann und ich, neun- und siebenjährig, waren grade auf dem Schulwege und wunderten uns ein bischen über die vielen verworrenen Laute und das Flintenknallen; da nahm uns irgend ein Begegnender am Zipfel und schickte uns wieder nach Hause: »Jung's – vandage hefft ji keen School; de Kesacks, de sünd all binnen achtern Oosterdoore, un de Franschen, de neit ut!«

»Wir zwei stürzen zu Mutter in die Blumenstube mit der Nachricht. Mutter zittert vor Schreck, weil Vater schon fortgegangen ist, aber sie sagt ganz ruhig: »dann müssen wir flüchten; geh und ruf Schomberg, Heinrich.« Schomberg – (das war Vaters Bedienter) kommt herein und erzählt, was er eben draußen gehört hat: daß die Lützower Schützen schon nach Bremen unterwegens sein sollen und die Reicheschen Jäger auch. »Wir wollen aber doch zu Pastors nach Remberti flüchten,« meint Mutter; »Er bleibt hier, Schomberg, und giebt Herrn Senator Bescheid.« – »Erst will ich Frau Senatern weghelfen; denn komm' ich foorts wieder nach hier,« sagt Schomberg, und jetzt rüstet alles zur Flucht wie im hitzigen Fieber. Wir und die Dienstboten, bis auf den Gärtner nebenan im Stallhaus. Mutter packt ihm seine Küche mit Eßwaren und Braunbier voll, wenn etwa Krieger hereinfallen sollten mit Hunger und Durst. Wir Jungens streiten uns in all dem Wirrwarr noch auf Tod und Leben, ob die Franzosen von unsern Gravensteiner Aepfeln haben dürfen, oder bloß Pfundbirnen ... »Stried't jo nich, Jung's! allonks marsch!« ruft Schomberg und treibt uns hinter Mutter und Hanne her: Mutter trägt den Allerjüngsten, Johann, und der kleine Gustav trippelt an Schwester Hannens Hand, so eilig wie er nur kann. Die Dienstboten haben sich mit Packen und Körben beladen, und Schomberg hat zwei wichtige Blechkasten und eine große Dokumentenmappe von Vater an sich genommen. – –«

»So gehts los. Querfeldein durch die großen Kohlgärten, über die Wisch; an zwei – drei Häuschen vorüber – die Granatschüsse knattern immer näher, und Mutter dankt Gott, als wir endlich bei Onkel Fritz und Tante Metta Bekenn im Pastorenhause von Sct. Remberti anlangen und Schomberg zurückrennen kann, damit Vater nicht in Angst um uns ist.«

»Aber nun sind wir doch wirklich vom Regen in die Traufe geraten; denn das Granatfeuer knattert immer heftiger und immer näher, und wir sitzen und hocken verstummt und verstört mitten im Hausflur um's Talglicht, weil alle Läden fest vor den Fenstern sind und die Haustür verrammelt. Auf dem Estrich steht der Waschtrog voll Wasser zum Löschen, wenn die Granaten einschlagen. »Die Franzosen bombardieren jawol grade unsre Rembertikirche«, sagt Tante Metta, und Onkel Fritz liest uns einen Psalm von der Hilfe vor, und dann kommt, Gottlob, Vater und beruhigt uns: es ist nur ein Irrtum gewesen, daß auf Remberti geschossen wird; wir sind ganz sicher hier draußen. – Jetzt finden wir Kinder die Flucht und das Versteck haarsträubend schön und lassen es uns wohl sein. Weil aber Vater befürchtet, daß die Feinde in der Nacht stürmen werden, schleichen wir abends geduckt hinter den Erwachsenen her, zum nahen Pröven, wo lauter nette alte Damen zusammen wohnen, holen uns Bretter und Leitern vom Hof weg, und verschanzen unser Pastorenhaus tüchtig damit. – Vater geht ab und zu; er hat den ganzen Tag und bis in die sinkende Nacht hinein auf dem Rathause zu tun. Wir Kinder haben längst geträumt, als er endlich ausruhen konnte, und da durfte er auch nur Hasenschlaf halten. –«

»In der Nacht passierte nichts, aber am nächsten Tage, gegen Mittagszeit, pochte es an unsre verrammelte Tür wie mit Stahl und Eisen, stark und anhaltend, und Mutter nahm uns Kinder alle fest in den Arm, als Onkel Fritz endlich aufschloß und den Riegelbolzen zurückschob. Da rief es draußen auf deutsch: »Gut Freund!« und herein schoben sich fünf Lützow'sche Soldaten, in schwarzen Litewken und die Gesichter auch schwarz vom Pulverdampf. Die Augen sahen klein und müde daraus hervor, und sie waren matt vor Hunger und Durst und sehr traurig, weil der eine im Kampf seinen besten Freund verloren hatte.«

»Tante Metta und Mutter trugen ihnen auf, was nur irgend zu entbehren war, und Onkel Fritz stellte eine Flasche Wein dazu und setzte sich mit ihnen an den Tisch. Nach und nach ermunterten sie sich und fingen zu erzählen an, und wir Jungens klebten ihnen an den Litewken und feuchten Mänteln und hörten mit beiden Ohren zu. Von den Straßenkämpfen in der Altstadt und Neustadt erzählten sie; daß alle Menschheit in der Faulenstraße und Langenstraße und in der Diepenau und am Brill wie Gefangene in ihren Häusern gesteckt hätten auf Befehl vom Oberst Thuillier, und daß jedem, der auf der Straße gesehen würde, der Tod angedroht worden sei. Daran kehrten sich aber nur die feigen Wichte, und die andren wehrten sich mit Staaken und Mistforken und was sie sonst zur Hand hatten, gegen die vermaledeiten Franzosenhunde. Einer von denen wollte John Meyeriks von der Brautstraße grade an's Brückentor spießen; da hatte ein braver Lützower seinen Flamberg geschwungen und den Feind niedergemacht, und John Meyeriks schenkte ihm gleich seinen Tabacksbeutel, aus der Hosentasche heraus, dafür. – Sie sagten uns auch, daß ein deutscher Kamerad den bösen Oberst Thuillier erschossen habe, draußen bei'm Ostertor, da, wo grade unser Gartenhaus nach der Beschreibung stehen mußte.«

*

»Am 15ten Oktober, morgens gegen zehn Uhr, nahmen die Reicheschen Jäger das Ostertor in Besitz, und dann verbreitete sich auch schon die Freudenkunde, daß die Franzosen sich ergeben hätten und abzögen. Jubelnd kehrten wir in unser Gartenhaus zurück und fanden es sehr zerschossen wieder, und Rasen und Beete, Mutters Dahlien und Vaters Nelken zertreten und verwüstet. Drinnen jedoch alles unversehrt. Von unserm Balkon herab hatten die Lützowschen geschossen, und wieder stritten wir Gebrüder uns bis aufs Blut, ob, oder ob nicht, die Todeskugel den Oberst Thuillier von uns aus getroffen habe. – – Als es dann Abend wurde, wanderten wir alle in Sonntagskleidern durch die offnen Tore, ohne Wachen und »Qui-vive«-Geschnarr, mit dem wogenden Menschenstrome nach dem Stephanitorswall zu Tante Trinchen Castendyk. O, wie das fremd und herrlich war! Keine Sperre; kein grüner Douanier, der uns auf französisch anschnauzte und sowohl Mutters Strickbeutel als auch Hannens Nähkörbchen visitieren wollte, grade wie den Bauernweibern ihre Kartoffelsäcke, mit langen, spitzen Stöcken. Die ganze, große Familie versammelte sich nach und nach bei Tante Trinchen, und wir Kinder durften aufbleiben und verwendt' Brot mitschmausen. Die Frauen frohlockten und bauten Luftschlösser aber die Männer dämpften das Frohlocken ein wenig, weil sie noch genug Sorgen und Aengste verschweigen mußten, Vater sprach lange allein, und hob und senkte seine Stimme, wie wenn er auf der Kanzel stände. Die Andern alle hörten andächtig zu; nickten und drückten einander die Hände. Mutter und Tante Trinchen hatten die Augen voll Tränen und rückten Vater nahe. Uns Knaben allen klopfte Vater freundlich die Köpfe und ermahnte uns, daß wir diesen herrlichen Tag nie vergessen dürften.«

*

»Unterdeß war unser Befreier wirklich eingezogen: der russische General Tettenborn und sein Kosakenheer hinter ihm drein. Unsere Bremer kamen gänzlich aus dem Häuschen, das kann ich euch sagen, Kinder: »Die Kosaken und nochmal die Kosaken!« – Ein Jauchzen und Lachen und Weinen gab es, und Umarmen und Beschenken – nicht zu beschreiben! Alles nahmen sie an und dankten vergnüglich grinsend, und küßten rechts und links von ihren hohen Sätteln herunter, die bärtigen Steppenkrieger, und ihre feurigen, kleinen Klepper entzückten Hermann und mich über alle Maßen. Natürlich hatten wir auch Einquartierung von Pferd und Mann im Stallgebäude bei uns, und die Schultage ärgerten uns als nutzlose Quälerei, solange unsre neuen Freunde selbsechs auf der Stalltürschwelle saßen, rauchten, schwatzten und sangen und uns mit Augenzwinkern zu sich herlockten.«

»Begeistert kauerten wir zwischen ihnen und belagerten den kleinen Dolmetsch solange, bis er uns ›ja‹ und ›nein‹ auf russisch gelehrt hatte, nebst dobre, wodki und pascholl: ›schön‹ und ›Schnaps‹ und ›mach fort!‹ Damit prahlten wir vor den Vettern, und dann spielten wir ›verkleiden‹; ließen uns in die Kosakenhosen stecken, vielfaltig mit Lederaufputz und roten Streifen, stiegen in die hohen Stiefel mit unsern Kinderbeinen und zogen uns die hohen Pelzmützen bis über die Ohren. Da drinnen wars meist unangenehm lebendig, aber solche Gäste ließen sich rascher vertreiben, als unsre Seligkeit. Wir halfen auch die Pferdchen satteln und sangen dazu Tiedges: »Schöne Minka, ich muß scheiden,« das eigens für eine russische Volksmelodie gedichtet war. Der Dolmetsch mußte auch unsre Kosaken fragen, ob etwa einer von ihnen »Olis« hieße, weil es im Liede von der schönen Minka weiter geht: »Du, mein Olis, mich verlassen,« – Allein alle sechs sagten: »njet!« Sie kannten den Namen nicht. – Wir aber freuten uns schon auf Freimarkt; denn da würden ja alle Drehorgeln die schwermütige Russenweise spielen, und keine mehr das abscheuliche: »allons enfants de la patri-ie! le jour de gloire est arrivé –!«

*

»Wir hatten uns zu früh gefreut; denn denkt euch, Kinder, grade zu Freimarktsanfang war der Franzosenschrecken wieder da, wenn auch ohne die ›gloire‹, im Gegenteil, mächtig abgerissen. Wir durften vorläufig nicht aus dem Garten heraus, bis sich alles geklärt hätte, sagte Vater, und stellte sich garnicht besorgt; ich glaube, daß er's auch garnicht war, obwohl unser Bremen recht schutzlos dalag, seit Tettenborn schon am 18ten Oktober sein Hauptquartier nach Verden verschoben hatte. Er konnte nicht entfernt daran denken, Bremen zu behaupten mit seiner Handvoll Kosaken.«

»Mit einemmale also ließ sich hinter Arsten ein französisches Streifcorps sehen, und dann marschierten 1500 Mann reguläre Infanterie unter General Lauberdière von Osnabrück heran. Unsre Kosakenpulks ihnen entgegen; aber sie waren wirklich nur eine halbe Handvoll gegen die Anderthalbtausend: nichts blieb ihnen übrig als sich plänkelnd auf Bremen zurückzuziehen und dann gleich weiter, zur Stadt hinaus, die Straße nach Verden genommen. Um dieselbe Zeit rückten die ersten bremischen Freiwilligen aus; frische Jugend, noch klein an Zahl. Ihrer viele waren noch in der Stadt geblieben, und bestürmten gleich am 21ten Oktober den Platzkommandanten, daß sie doch treu vereint Bremen halten wollten; die Brücken vor Ankunft des Feindes zerstören; den Weserdeich an drei Stellen durchstechen und das Weserwasser hereinlassen. Aber wie sollte das wohl so flink gemacht werden und woher wollten sie die nötigen Waffen holen? Siebenundvierzig Jagd- und Soldatenflinten und zweiundfünfzig Säbel: mehr brachten sie nicht zusammen. Was nützte das Händeringen und Fußstampfen! – – Lauberdière bestellte sich eine Schar von höheren Beamten vor's Buntentor, aber die wenigsten dienerten und katzbuckelten, und mundfaul waren sie alle zusammen. Abends mußten sie auf Befehl die Stadt erleuchten; – kläglich genug fiel die Illumination aus. Die meisten Leute stellten bloß Lichtstumpfen vor die Fenster, und draußen in der Vorstadt blieb alles dunkel hinter den Bäumen.«

»Indessen so dumpf und trübe die nächsten Tage auch für uns hinkrochen; der General Lauberdière, samt seinen Truppen, fühlte sich auch nicht wohler in seiner Haut. Die Leute waren fast alle Schweizer und gingen barfuß und zerlumpt. Die 1000 Paar Schuhe und 500 Hemden, die schleunigst herbeigeschafft werden sollten, wurden nicht mehr fertig; denn am 25sten Oktober erschien das Flugblatt mit der Meldung von der siegreichen Leipziger Schlacht am 18ten. –«

»Am 26sten, nachmittags, war kein Franzose mehr in Bremen, und der 18te Oktober wurde von nun an zum Tage des deutschen Sieges- und Dankfestes geweiht.«

*

»Bis in den November hinein gab es heiße Arbeit für alle Rüstigen unter unsern Bürgern und Handwerkern und den Bauern und Schiffern, die etwa noch brotlos waren von der schlimmen Drangsalszeit her. In einmütigen Schaaren halfen sie die französischen Verschanzungen abtragen, und Hermann und ich steckten jede Freistunde mit dazwischen auf der Strecke vom Ostertor bis zum Herdentor. Wie wichtig haben wir da unsere kleinen Gartenspaten in Sand und Erde gestoßen und mit der Paddschüppe drauflosgehackt, daß der Kies stob und der Schweiß tropfte; wir wollten natürlich auch mit »befreien«, als Vaters Söhne! – Trotzdem widerbellten wir tüchtig, als, in der ersten Novemberwoche, unser altes Herdentor abgebrochen ward, und der Steinritter, den wir »General Wrangel« nannten, aufgeladen und fortgeschafft nebst dem Spruche, der zu seinen Füßen eingehauen stand:

»Bremen, wes gedechtig;
Lat nich mer in, du syest örer mechtig!«

»– und dann jammerten wir um die prächtigen Buchen und Ulmen, die ohne Erbarmen abgehauen und zerstückelt wurden. – Der alte Müller, Magister der Mathematik und Naturkunde, war so entrüstet über den Naturfrevel, daß er deswegen, mit einem wohlgesetzten Schreiben, bei General Tettenborn vorstellig wurde; – was meint ihr wohl, Kinder, das er dafür zum Dank bekam? – In Nacht und Nebel holte ihn ein Kosackenpikett aus dem warmen Bette und brachte ihn, unter Bedeckung, ohne Gnade nach Verden. Da hat ihn denn der erzürnte Tettenborn hart abgekanzelt: er solle seinen Fürwitz von dem ablassen, was nicht seines Amtes sei. –«

So pflegte mein Vater seine Geschichte für uns Kinder zu beenden; höchstens, daß er, nach einer kleinen Pause, uns noch von Heinrich Böse sprach, dem braven Bürger, der all sein sauer erworbenes Geld daran wandte, um 75 Jäger – eine Kompagnie – auszurüsten und in den Krieg zu schicken. Er selbst als Hauptmann voran. »Hauptmann Böse!« wie sehr bewunderten wir ihn! Der Sage nach hatte er als einfacher »Hinnerk Böse« mit Zucker gehandelt, ehe er Hauptmann wurde. »Krämer Fuchs in der Bischofsnadel würde das nie tun, Papa,« sagten wir; »der giebt uns nie was zu, wenn wir ihn fragen, wieviel die Uhr ist!« – und unser Vater machte sein feines Klugheitsgesicht: »wißt ihr: jetzt sind andre Zeiten, Kinder.« – Dabei beruhigten wir uns, aber die »andren Zeiten« gingen mir doch sehr in meinem neun- oder zehnjährigen Grübelkopfe herum, und ich weiß noch ganz gut, daß ich mir Großvater mehrmals auf Hauptmann Böse und die andren Zeiten ansah, wenn er im grauen Hausrock zwischen seinen Söhnen am Rostrosenbusch im Garten stand und plattdeutsch mit ihnen sprach, die weiße Tonpfeife in der Hand.

*

Aber wir blieben nicht Kinder. Wir wuchsen heran und traten aus der trauten Enge in die fremde Weite, lernten Welt und Leben kennen und Wert und Unwert unterscheiden. Allein, daß mir jetzt erst, meinen Siebzigen nahe, unseres Großvaters voller Wert, sein Verschmolzensein mit Bremens Wohlfahrt – so hell aufgeht, wie eine wehmütig-schöne Herbstsonne, – wahrlich, das kann ich mir kaum vergeben; denn Ehrfurcht aus Ueberlieferung ist noch längst nicht Verständnis.

*

Hier neben mir liegt ein vergilbtes Hauptblatt der Weserzeitung vom 6ten November 1873, damals, als tags zuvor Großvaters hundertster Geburtstag im Künstlerverein feierlich begangen wurde. Otto Gildemeister, Großvaters geliebter, junger Freund aus seinen letzten Lebensjahren, hielt die Erinnerungsrede, aus dem edelsten Geiste und tiefsten Herzen quellend. Ich mag mir's nicht versagen, den Teil dieser herrlichen Rede hier niederzuschreiben, der den Smidt jener kritischen Auferstehungsperiode unsres bremischen Innen- und Außenlebens tausendmal besser und treuer darstellt, als meine stammelnden Worte es jemals vermöchten; denn Otto Gildemeister hat noch miterlebt, gesehen und gehört, was ich aus Schriften und Büchern erst neubeseelen muß.

... »Smidt war ein moderner Mensch durch und durch. Nicht allein in seinen Anschauungen und Sympathien, sondern auch in seinem Wesen, in Form, Sprache und Haltung. Völlig frei von altfränkischer Steifheit und Schnörkelei; republikanisch bis in die Fingerspitzen, kühl und kritisch gegen Traditionen und Autoritäten, mit dem höchsten Interesse seines Geistes hingegeben an die Gegenwart und ihre mächtigen Fortschritte und Probleme. Diesem seinem modernen Interesse gereichte es zu besonderer Würze und Schärfung, daß er ja das, dem Untergange verfallene Alte selbst noch mit Augen gesehen, seine stockige Atmosphäre gerochen, seine beengenden Formen empfunden hatte. –«

»Aber merkwürdig! Aus diesem scharfen, lebendigen Gefühle eines unermeßlichen Kontrastes zog er nicht die Konsequenz revolutionären Hasses, radikalen Hochmuts gegenüber dem Alten, sondern ihm entsprang auf dem Boden jener Gegensätze grade umgekehrt der Quell einer patriotischen Liebe, welche sein Lebenlang all sein Streben und Wirken beseelt, ja, man kann sagen, es erzeugt und geboren hat. Und diese seine patriotische Liebe wirft rückwärts ein verklärendes Licht in die Vergangenheit, welche uns so engbrüstig und welk erscheint.«

»In der steifen, zopfigen Reichsstadt müssen, trotz Zopf und Perücke, doch im stillen Kräfte und Tugenden gewaltet haben, die imstande waren, das Herz des vorurteilsfreien, aufstrebenden, geistvollen Jünglings mit leisem Zauber zu umspinnen und ihm jene unwandelbare Liebe zur engen Heimat einzuflößen, die man oft genug rätselhaft gefunden hat.«

... »Mit hellem Auge, mit klarem Bewußtsein, mit warmer Sympathie Zeuge des Um- und Aufschwungs ringsumher, die befruchtende Kraft der Stürme erkennend, aber auch ihre niederreißende Heftigkeit ermessend, fand er die ihm zukommende, besondere Arbeit am sausenden Webstuhle der Zeit.«

»Daß von diesem Umschwünge die liebe, alte Vaterstadt nicht niedergeworfen werden, daß sie vom Aufschwunge ihren vollen Anteil erlangen, daß sie, im Sturme verjüngt, in der jungen Zeit die alten Keime zu neuer Blüte und Frucht entfalten möge, darin erkannte er, von Anfang an, die Aufgabe seines Lebens, und für diese Aufgabe hat er gelebt mit unwandelbarer Treue, mit nie ermattendem Eifer, mit dem vollen Einsatz seiner Kräfte bis zur letzten Stunde.«

... »Gewiß ist es echt deutsch zu nennen, dieses Zusammengehen weltüberschauender Geisteshöhe und gemütvoller Versenkung in heimatliche Interessen; aber vielleicht nie berührte sich, wie in ihm, mit solcher Leidenschaftlichkeit und Ausdauer, mit so gleich, ja, eins gewordener Innigkeit diese Doppelnatur des deutschen Genius; der Gedanke, welcher weit hinaus, und der, welcher in's enge blickt; der weltgeschichtliche Trieb und die liebevolle Arbeit am bescheidenen Herde, der Sinn für das Universelle, und der für die vaterstädtische Eigenart, für die bremische Familie.«

»Schien es, als sei nur diese ihm fest an's Herz gewachsen, so war es eben nur Schein; wie er nie an das Allgemeine dachte, ohne zugleich Bremens Platz im Allgemeinen sofort vor Augen zu haben ...«

*

Dieser feste Zusammenschluß seines Wesens- und Charaktergefüges hatte sich schon damals, in Bremens Befreiungszeit, 1813, vollzogen. Es war, als ob der kaum Vierzigjährige bereits ein ganzes, volles Leben überschaue. – Jetzt, Ausgang Oktober 1813, nun der letzte Franzose glücklich aus den Toren getrieben war, beharrte er, treuer denn zuvor, bei seinem Glauben, daß Bonapartes Schicksalsuhr schon zum ersten Schlage seiner letzten Machtstunde aushob. War die dunkle Stunde verronnen, so würde es an's Aufteilen und Neugestalten der europäischen Ländermassen gehen; und die Hansestädte samt ihren Gebieten? – die drei linsengroßen Pünktchen auf der Landkarte? – Smidt fürchtete nichts so sehr, als daß die drei kleinen Stadtstaaten bei der Teilung ohne Federlesen von einem der Großen oder Größeren verschlungen werden möchten. Deswegen beschloß er, den Mächten mit einer fertigen Verfassungs-Erneuerung unter die Augen zu treten, auf die Gefahr hin, ein Autokrat gescholten zu werden. Da ihm aber, wie schon früher gesagt, das Selbstherrschertum im Blute lag, focht ihn jene Gefahr wenig an.

Vor allen Dingen durfte Bremen keinerlei Zweifel an seiner alten Lebenskraft zeigen; im Gegenteil sollte es eine erhöhte beweisen, durch kühnes Vorgehen seiner Vordermänner. Es sollte sich ganz selbstverständlich, ohne Hinz und Kunz zu fragen, der Fürstengruppe wieder angliedern mit den Schwesterstädten; ihren Krieg und Frieden, Auslandspolitik und wirtschaftliche Interessen gleichberechtigt teilen.

»Hinz und Kunz« waren aber nicht ohne weiteres aus dem Wege zu stoßen. Hinz-Davoust lauerte noch mit einer Armee im Rücken unserer schutzlosen Stadt, und wer wußte denn, welch' neue Einfälle, im Doppelsinn, er plante? Kunz-Tettenborn, unser Schützer und Befreier durfte bei entscheidenden Schritten nicht übergangen werden. – Ungut gestimmt war er, am Abende des 4ten November, von Verden aus in Bremen eingetroffen, und früh am Morgen des 5ten suchten Smidt und Gondela ihn zu entscheidender Verhandlung auf. Das geschah grade an Smidts vierzigstem Geburtstage. Beide Herren redeten sehr vorsichtig, und nach und nach verließ die üble Laune den Gebietenden. Er ließ sich Bremens Verfassung und Notlage knapp und klar auseinandersetzen, stützte den Arm auf und legte das Gesicht in die Hand. Mit verdeckten Augen überdachte er das Gesprochene eine Weile, hob dann rasch den Kopf und reichte beiden Herren die Rechte. Gondela kannte er schon; Smidt sah er zum erstenmale und stimmte seinen Vorschlägen ohne ferneren Rückhalt zu. Die französische Municipalität ward in corpore ihrer Aemter enthoben, und die einstige Wittheit, in Form einer Regierungskommission gleichzeitig wieder eingesetzt. Acht »patriotische, der guten Sache anhängige Männer«, die ihm empfohlen waren als solche, bestimmte Tettenborn: die sieben Senatoren: Nonnen, Smidt, Horn, Duntze, Gondela, Vollmers und Lameyer, und den Syndikus Heinrich Gröning, der 1811, mit Smidt gleichzeitig, als Abgeordneter in Paris gewesen war. Zu Ausschußgliedern der Bürgerschaft wurden sechsundzwanzig »verläßliche Leute« bestimmt, und Smidt unternahm es mit Feuereifer, diese großen Entschlüsse umgehend zur Tat zu machen.

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Sie waren alle tiefbewegt und erschüttert, sie, die sich am nämlichen Abende in der teuren alten Wittheitsstube zusammenfanden, von Smidts Wagemut angesteckt. Um den Tisch standen die festgefügten, hochlehnigen Stühle; die Kerzen brannten in den Tüllen der blanken Leuchter; – Papiere und Gänsekiele lagen neben den Tintenfässern bereit, und der Streusand war rein in den Schalen. Die Herrendiener warteten ihres Amtes, Scharlachflecke im ehrwürdigen Halbdunkel. Es war eine große Stunde, von Eintracht und Weihe erfüllt, und zur nämlichen Stunde wurden auch in der altgewohnten Weise die Mitglieder »Einer Ehrliebenden Bürgerschaft« auf den folgenden 6ten November, vormittags um zehn Uhr, zu gemeinsamer Beratung in die Rathaushalle entboten.

Als, zum Zweck dieser Einladung, der Silberdiener Knust im vollen Ornat, mit Scharlachrock und -mantel angetan, in das wiedereröffnete Klublokal »zur Erholung« bei Sct. Ansgari-Kirchhof kam und seinen üblichen Spruch aufgesagt hatte, hoben ihn die Versammelten mitten auf den Tisch und hielten so recht ihre Augenweide an den auferstandenen Formen und Farben der alten Bremer Herrendienerschaft. – Und daß es abermals ein erschütternder und feierlicher Augenblick war, als am nächsten Morgen die Senatoren aus der Wittheitsstube in die prächtige Halle hinaus zur versammelten Bürgerschaft traten, als sie ihre angestammten Sitze wieder einnahmen – ihr alle, die ihr dies les't, werdet es euch vorstellen können. – –

So rasch wie möglich nach dieser ersten Sitzung, ward Bremens Neugeburt, seine Selbständigkeit und unzerreißbare Vereinigung mit dem deutschen Vaterlande öffentlich kundgemacht.

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Mit jenen Tagen wiedergewonnener Freiheit begann eine Zeit für die bremische Gesellschaft und auch für Bürger und Volk, von der sich mit Goethe sagen läßt:

»Tages Arbeit, abends Gäste;
Saure Wochen, frohe Feste!«

Die Illumination am 6ten November leuchtete als Glückssymbol der vieltausend erlösten Herzen; Maire und Municipalrat hatten von Senatswegen ihren Dank empfangen, und die meisten schieden aufatmend von ihren welschen Aemtern. Alt und jung freute sich auf Weihnachten. Die Franzosengefahr hatte den Weserwinkel endgültig verlassen.

Für Smidt jedoch sollte es kein Weihnachtsfest im schönen Familienkreise geben. Schon am 3. Dezember 1813 mußte er die Vaterstadt abermals verlassen, um sich, als Gesandter, mit seinem Sekretär Dr. Friedrich Gildemeister 1816 in den Senat gewählt; Vater von Otto Gildemeister (s. den Artikel zu Joh. Smidts Hundertjahrfeier)., ins Hauptquartier der verbündeten Mächte zu begeben.

Von dieser Reise soll er selbst uns zum zweitenmale durch seine Briefe an Frau Mine berichten.

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Seiner Heimat und ihren ausziehenden Kriegern hinterließ Smidt ein Freiheitslied, das ich auch dem vorerwähnten, vergilbten, kleinen Buche handschriftlich verdanke. Es ist vom 3ten November 1813, und lautet so:

Kriegslied der Bremischen Hanseaten.

Wir wollen nicht Franzosen seyn,
Die ganze Welt soll's hören!
Hinweg mit allem Heuchelschein,
Es ist die Furcht nicht werth der Pein,
Sie soll uns nicht bethören.

Nur edler, deutscher Männer Rath
Soll unsre Freyheit schirmen;
Gerüstet steht der Hanseat,
Ersteh vom Tode, Bremens Staat,
Trotz des Tyrannen Stürmen.

Den Silberschlüssel Die freye Hansestadt Bremen führet in ihrem Wappen einen silbernen Schlüssel, den Napoleon in einen eisernen umänderte. wandelt' er –
(Ein Gott hat's ihn geheißen) –
In Eisen uns –: drum fort zum Heer,
Mit Klugheit und mit tapfrer Wehr
Die Riegel zu zerreißen.

Die, an der Elb' und Trave Strand,
Wo Hamburgs edle Bürger
Und Lübecks Tapfre, Hand in Hand,
Der Frühling schon gerüstet fand,
Aufs Neue schlug der Würger.

Für Freyheit gilts und Vaterland,
Drum auf, zum heil'gen Kriege!
Die Lanze vor, das Schwert zur Hand!
Und Kraft und Muth zum Unterpfand:
Die Deutsche Freyheit siege!

Fort! fort! die Brüder zu befrey'n;
Ruft's aus in tausend Chören.
Es leb' der Hansische Verein!
Wir wollen nicht Franzosen seyn!
Die ganze Welt soll's hören!

Johann Smidt.

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