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I.

Am liebsten spränge ich gleich mit beiden Füßen in mein Kinderland hinein, aber das geht nicht an. Vorher heißt es den Krebsgang zum Ursprungsrevier machen, dem streng ummauerten, darin die Stammbäume der ältesten und alten bremischen Geschlechter seit Jahrhunderten ihre Aeste breiten, neue Triebe ansetzen, gedeihen, abwelken und verdorren. Zwischen den frischgrünenden wurzelte sich, gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts, unter den kriegerischen Nachwirren der Reformation, des Brabanter Kaufmanns Berend Smidt's junges Bäumchen an. Er war aus Brabant über Paderborn nach Bremen geflüchtet, wo der abtrünnige Augustinermönch Heinrich von Zütphen dem evangelischen Bekenntnisse schon den Sieg gewonnen hatte. Der Brabanter Smidt betrieb in Bremen seine Handlung gedeihlich weiter, heiratete Wunneda Schulte, die Tochter eines ansehnlichen Hauses, und brachte in der neuen Heimat seinen Namen zu Ehren.

Sein Urenkel Henricus und dessen Sohn Didericus fügten den Ehren die Würden hinzu. Sie saßen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert als Bürgermeister in »des hohen Rates Wittheit«. Des Henricus Enkel war unser Urgroßvater »Johannis Smith«, wie er damals geschrieben ward, 1712 geboren, als der jüngste von neun Geschwistern und der einzige, der den Geschlechtsnamen fortpflanzte.

Nur seine Jugend gehörte der Geburtsstadt. Zwanzigjährig zog es ihn in die Stammesheimat Holland zurück, und wenn er auch zwischendurch im bremischen »Gymnasium illustre« den Grund zu seinen theologischen Studien legte, so setzte er diese doch auf holländischen Hochschulen, Groningen und Utrecht, fort. Sein Kandidatenexamen bestand er gut, auf seine »tapfere und gelahrte Disputatio über das Mysterium der Beschneidung Christi« hin; aber erst an der Schwelle der Dreißiger ward er an's Pfarramt zu Putten als »herformed«, d. h. strenggläubiger »Domine« berufen. Putten war und ist heute noch ein »aardig dorpje« in der hohen Geest des Gelderlandes: der »Veluwe«. – Dort hielt er im Januar 1742 seine Antrittspredigt.

Zu diesem Anlasse schrieb ihm seine fromme und kernige Mutter, »Margrete Smiths« aus Bremen: »Ich habe aus Eurem Briefe von dem 6. Februar gesehen, daß Ihr Eure Intrittspredigt gethan habt. GOtt sey Dank auch vor diese Gnade, daß Er Euch hat beygestanden; Ihr sehet nun von hinten, warumb Ihr solange habet halten müssen. Nun seyd Ihr den Leviten gleich, die im 30 Jahr wurden angenommen in den heiligen Dienst.«

*

Achtzehn Jahre ist »Domine Smiths« in seiner Dorfstille geblieben, und hat sein ernstes Amt pflichttreu und streng verwaltet. Trotzdem: wo etwa besonders fromm gerichtete Seelen seiner Gemeinde unter sich im häuslichen Kreise Andachtsübungen ohne ihren verordneten Seelsorger hielten, beförderte er diese »laienmäßige Dienerschaft Christi«, und ließ sie zu, ungeachtet seiner stirnrunzelnden Kirchenbehörde.

Er war ein starker, gesunder Mann, ein Kinderfreund in Liebe, derbem Humor und Uebung der Zuchtgewalt mit fühlbaren Schlägen, dazu voll Freude an der Natur. Er besuchte die Familien oft und bebaute eifrig sein viereckiges Gartenreich. Als pfeifenliebender Junggeselle pflanzte er auf sein Gemüsestück Taback und trocknete ihn in seiner Scheune; sein Blumengarten leuchtete, und der Blütenduft mischte sich mit dem herben Geruch der Heilkräuter: Melisse und Minze; die bittre Raute und der zierliche Lavendel. Denn von Arzt und Apotheker hielt er nicht viel, sondern bedokterte sich selbst nebst den Gemeindekranken und wußte Salbentiegel und Destillierkolben trefflich zu regieren. Nebenbei verstand er sich meisterhaft aufs Rechnen und Haushalten mit seiner geringen Habe, tat unter der Hand wohl und mischte sich niemals in politische Händel, obgleich dieselben ihm, von Kriegszeit und Feldpredigerdienst her, weder fremd noch belanglos erschienen. An Sonn- und Festtagen jedoch war er »gäntzlich GOttes«.

Verbauern in der Heidestille mochte und konnte er nicht als gediegener Gelehrter. Außer seinem Patronatsherren, dem Baron van Bentinck und dessen Sippe pflegte er Verkehr mit benachbarten Amtsbrüdern und den Professoren der nahen Hochschule zu Harderwijk, fuhr auch jedes Jahr zur Provinzialsynode, und suchte seine älteren Brüder im Haag und in Amsterdam heim.

Aus Amsterdam kam ihm auch sein erstes Eheglück: Sechsundvierzigjährig heiratete er Anna de L'Hommel, die sehr fromme Tochter frommer Eltern, und zwei Jahre später, 1760, wurde er nach Bremen gewählt, als dritter Prediger an St. Stephani Kirche, –

*

– und hier, am Wendepunkte seines Lebens, lasse ich die nüchterne Chronik auf ein kurzes Weilchen im Stich und erzähle, wie ich vor fünfzehn Jahren zu Wintersanfang, von Leiden aus, meinen Urgroßvater-Domine in seiner Gelderländschen Heimat gesucht und gefunden habe, so daß ich ihn mir seitdem leibhaftig vorstellen kann; denn ein einwandsfrei beglaubigtes Bildnis von ihm besitzen wir nicht.

*

Von Leiden gings in tropfender Nebelfrühe des Dezembertages mit dem Schneckenzuge über Utrecht – Amersfoort nach Putten. Während im Abteil noch die brennende Lampe schaukelte und meine Reisegefährtin den unterbrochenen Morgenschlaf nachholte, las ich in meines seligen Vaters gemütlichem Familienbüchelchen: der »Idylle« Großvater Smidts beredten Brief an seine Mutter. 1811 hatte er ihn geschrieben, als er die Heimreise von seiner Deputiertenmission bei Napoleon I. zu Paris, durch Holland machte und der Mutter lebendig und ausführlich seinen Besuch in Putten schilderte, – und jetzt, fast neunzig Jahre später, ging ich in den Spuren des Vorvaters, voll Neugier auf das, was ich finden würde. Ob eine gestorbene, alte Zeit, oder die banale neue? – Ob das trauliche Heidedorf, oder die Kleinstadt voller Krimskrams aus zweiter und dritter Hand?

Hinter Amersfoort brach die Sonne sich endlich mit ein paar breiten Strahlen Bahn durchs Nebelgewölk, und es gab jene wundersam helle und doch schwermütige Beleuchtung, die den holländischen Landschaften eigentümlich ist. Die Bahnkurve hebt sich; der Horizont wird hügelig: Wir sind in der Veluwe, der »fahlen Aue« wie der Holländer seine hohe Geest gegen die See hin nennt.

Putten! – wir wandern zwischen zwei graden Zeilen goldbrauner Eichenbüsche auf die Turmspitze über kahlem Gewipfel zu. Goldbraunes Eichengehölz auf Bodenwellen säumt auch den Horizont der smaragdgrünen Wiesen und falben Heidestrecken. Das welke Eichenlaub des vergangenen Sommers haftet noch an den Zweigen, bis die drängenden Frühlingstriebe es abstoßen werden.

Nun ziehen wir wirklich in Urgroßvaters Dorf ein: steht die Zeit still? Weitläufig reihen sich die alten roten Häuschen unter moosigen Dächern; kleine blanke Fenster, schlafende Gärten. Alles im Sonntagsfrieden; die Nachzügler des Frühgottesdienstes pilgern an uns vorbei, kranzbärtige Männer und alte Weibchen mit kleinen frommen Gesichtern. Eine steht still, schüttelt den Kopf zu meiner unverständlichen Frage und schenkt mir ihren drolligen Gesangbuchstrauß: weiße Immortellen und Petersiliengrün. – –

Ja, so muß es schon in Urgroßvaters Tagen hier gewesen sein. Ueber der Tür des Kramladens der buntbemalte Mohrenkopf: der »Gaper«, das uralte holländische Gewerbzeichen. Auch die Kirche roter Backstein, umdrängt von ebensolchen Häuserchen, wie die Glucke von ihren Küchlein. Mächtige Baumkronen mit starken Aesten darüber her. Der Nordwest saust und braust darin, und doch regen die Wipfel sich kaum, so stolz sind sie.

Im Wirtshause gibts Kakao zu fetten Spiegeleiern und Roastbeef; die Wirte sind ausgeflogen, und eine stille »Miintje« bedient uns. Sie ist schwarz gekleidet, streng und altmodisch; ihre spiegelnden Scheitel rahmt die anmutige Geldersche Haube ein: breite Mulltollen um's Gesicht; im Nacken die weitabstehende, fein gefältete Manschette. Sie wirkt wie ein Bild in meiner Gottfriedschen Chronika aus dem siebzehnten Jahrhundert. – Gleich nach Tisch ruft uns volles, tieftöniges Läuten in die Kirche zum Hauptgottesdienst. –

*

Wo bin ich? – In einem thronenden Kirchenstuhle sitze ich. Grünverschossene Seidengardinen umgrenzen ihn halb; die Kanzel habe ich vor mir, und mir ganz nahe sind zwei andere abgeschlossene Stühle. Im ersten eine Matrone und drei schöne, stattliche Töchter; im zweiten eine zarte Frau, ein lila Seidentuch um die spinnwebfeine Geldersche Haube gebunden; ein weißblonder Backfisch neben ihr, dem die gesunde Lebenslust aus den Augen lacht. –

Ich falte die Hände um mein geliehenes »psalmbookje«, stemme die Sohlen auf die warme Feuerkieke zu meinen Füßen und lasse die Augen im Halbtraum schweifen. Ist die Frau mit dem lila Knüpftüchelchen nicht die fromme Antje de L'Hommel? – Meine Gedanken sind in einen sonderbaren Bann geschlagen, immer fester, je mehr sich diese Kirche, aufgetaucht aus Rungholt oder Vineta, mit Betern füllt.

Urgroßvaters Kirche ist räumig, keine Dorfkirche, wie daheim bei uns im Bremischen. Räumig und sehr malerisch mit der dämmerigen Apsis und Kapelle, dunkel von altem Mahagoniholz. So sind auch Kanzel und Gestühl, alles blankgebohnt, daß sich der Kerzenschein vom riesigen weißgoldnen Lichterreifen unter der Wölbung überall spiegeln kann, und der Tag schaut bleich durch die alten, bleigefaßten Rauten des weit und hoch geschwungenen Bogenfensters. – – und nun belebt sich dieser schöne Raum allmählich mit altertümlichen Trachten. Die Kapelle nur mit kohlschwarzen Männern; kein weißer Faden sichtbar. Hölzerne, ehrbare Gesichter unter schwarzen Schirmkappen und hohen Hutröhren: Revolutionszeit – Empire – Biedermeier –; welches? – Das Schiff gehört den Frauen und Mädchen. Sie bringen ihre heißen »stoofjes«, die Feuerkieken, mit und setzen sich mit ruhiger Sammlung. Steht nicht Rembrandt dort hinterm Pfeiler und mischt sich seine Farben auf der Palette für die entzückende Tönung der Schnebbenleibchen, Brusttücher und Seidenschürzen? Ingwerbraun, indigoblau, flaschengrün und weinrot. Hier ein kanariengelbes Tuch und da ein blumiges auf malvenlila Grund; hier die Goldkettchen um einen weißen Mädchenhals; daneben das schwarze Sammetband, breit und fest um die welke Altmutterkehle gelegt, – und über all den reinen und sanften Farben die Hauben, jede nach ihrer Trägerin Landesbrauch und Eigenart: Muslin und Batist, Tüll und kostbare Spitzen; schlicht, Rüschen, Tollen, fallende Falbeln; ohne Zierat oder von Goldspiralen zurückgehalten; von goldnen Buckeln an runde Wangen oder eingesunkene Schläfen gepreßt. Die Mädchengesichter, die dunklen und blonden Haare, sind zwiefach lieblich in dieser Umrahmung; die Züge der Greisinnen treten edler aus ihr hervor. – Seit Jahrhunderten die gleiche Tracht, und schöner als alles, was ich im fernen Süden und Osten gesehen habe.

– – Da hebt das Orgelspiel an, und einmütig klingen die vielen Stimmen zusammen: alte Kirchenlieder, deren keines ich kenne. Endlich! »Domine« tritt an den Altartisch unter der Kanzel, betet, und steigt empor, bewaffnet mit der vollen Wasserflasche nebst Stülpglas. Beides stellt er, zu fleißigem Gebrauch, neben sich auf den Kanzelrand, und wirft sich alsbald mit dröhnendem Pathos auf seine Predigt des ersten Adventssonntages.

Fast drei Stunden predigt er und wahrlich, nicht fischblütig! – Er überschreit sich, er paukt donnernd auf die Kanzelbrüstung, und dann blicken die Männer reuig auf ihre schwarzen Wollhandschuhe und die Frauen in ihren Schoß. Seufzen geht durch die Reihen. –

*

Die Wasserflasche ist leergetrunken; draußen funkeln die winterlichen Sterne durchs kahle Geäst, als Domine uns schließlich hinwegsegnet.

*

Ein rüstiger Alter, der meinem verstorbenen Vater aufs Haar gleicht, mit der rotblonden Bartfraise ums kluge, frische Gesicht, steht breitspurig neben der Kanzel und späht uns zwei Fremden entgegen. Nun tritt er uns in den Weg, stellt sich als den »Onderwijzer« vor, das Haupt der Schule, und fragt, ob er uns dienen könne? Meine Mission fällt mir urplötzlich wieder ein; ich stammele mein erbärmliches Holländisch, und bringe glücklich heraus, daß der längst heimgegangene Domine zu Putten, Johannis Smiths, mein »Overgroetvader« gewesen sei und ich eigens hierhergereist in der Hoffnung, noch etwas über ihn zu erfahren.

Da wird der alte Lehrer sehr warm und eifrig und drückt und schüttelt mir die Hände: ohne Widerrede folge ich ihm in sein rotes Häuschen, – eines der Küchlein, das sich an die Mutter Kirche schmiegt. Meine Gefährtin will noch ins Wirtshaus, und an der Stallhalterei, beim bestellten Wagen zur Bahnhofsfahrt, treffen wir uns später.

Mevrouw empfängt Mijnheer und mich ungebetenen Gast; und seht: es ist meine »Antje de L'Hommel mit dem lila Knüpftüchelchen um die feine Haube, aus der Kirche. – Der weißblonde Backfisch, die Tochter, knixt und huscht zu einer nachbarlichen Gespielin davon. »Mutter schenkt den Tee immer selbst«, sagt sie, und nascht einen Kandisbrocken aus der Dose, ehe sie hinausspringt.

Wir drei Alten bleiben allein in der Sonntagabendstille, und trinken starken Tee aus den Delfter henkellosen »Kopjes«, die man in die Untertasse umstülpt, wenn man endgültig genug hat. Das Wasser auf dem Kohlenkomfoor brodelt, und der kleinen Lampe Licht hellt die ingwerfarbenen Vorhänge der Bücherregale auf und spielt mit den Beschlägen der gebauchten Mahagonikommode. Mijnheer zieht sich den Knasterpott heran, stopft und pafft die liebbekannte – (liebbekannt von Großvaters Schreibtisch und Gartengängen her) – Goudasche Tonpfeife: schneeweiß, langgestielt und kleinköpfig, und dann legt er die schweinsledernen Kirchenbücher vor mich hin, Domine Smiths Register, Chronik und Predigtniederschriften: feingeprenteltes Holländisch. Langsam blättert Mijnheer um und erzählt.

Weiter spinnt sich der Traum; die ferne Ueberlieferung gewinnt Körper und Farbe. Gegenüber an der Wand hängt das Oelbild eines steifen Jünglings mit Jabot, Zopf und Barett: Mijnheers Großvater und Domine Smiths Amtsnachfolger. Der hat noch viel von Domine Smiths zu vermelden gewußt aus Knabentagen, und von seinem Sohne, Mijnheers Vater, hat dieser es überkommen.

»Sein Ruf bei uns zu Putten ist gut lange warm geblieben, ja wel, Dame! So rechtlich wie er hat es vor ihm und nach ihm keiner mit Gottes Dienst gemeint, ja wel, Dame! Vier Stunden mochte er zum mindesten predigen; an den hohen Festen auch fünf, mit Freuden, und wenn er auf der Kanzel stand, ging kein Tropfen in seinen Mund ein zur Labung ... Nur nach dem zweiten Teil hat er sich gern ein fünf oder zehn Minuutjes gesetzt und die Augen zugetan und gewinkt, daß seine andächtigen Hörer sich gleichermaßen verschnaufen dürften, und die fromme Lehre fein bedenken zu besserer Nachfolge.

Aber, Dame: gewöhnliche Menschheit hat ander Bedürfen, vernehmlich die Frauen. Diese haben dann heimlich ihre Henkelpottjes aus dem Tuch gebunden, das Essen darin auf ihren Kohlenstoofjes ein wenig gewärmt und sich in Gottes Namen daran gestärkt für den dritten Teil und den vierten. Will die Dame sich hier die Predigt ansehen? Das ist die längste von allen: die vom Ostertag 1753. –«

– ich schlage die vielen, winzig und doch klar beschriebenen Blätter um, vom Eingangsgebet bis zum Amen: ein ganzer Romanband! Mijnheer schmunzelt listig, und Mevrouw hinterm Teekemfoor lächelt sanft, schenkt frisch ein und bietet die Dose voll leckerer Moppen zum drittenmal an. – – –

Eine halbe Stunde später trägt uns die bestellte Glaskutsche von der Stallhalterei zur kleinen Bahnstation zurück. Die Kutsche ist groß und pomphaft; ihr helles Laternenlicht wandert rechts und links über das goldbraune Eichenlaub, das unsren einsamen Weg einrahmt; sie federt wuchtig, als führe sie im Trauergeleit eines Würdenträgers von Putten hinweg, und die zwei feisten Rappen setzen hochtrabend Huf vor Huf. – –

Die ferne Familienvergangenheit ist der Würdenträger, und ihr Treugedenken soll hier bewahrt bleiben. – Mir war's, als verstände ich sie noch einmal so gut nach meinem Eintagsausfluge von Leiden ins Geldersche Abseits. –

Nun hieß »Domine Smiths« »Pastor Smidt« an Sankt Stephani. Allein der rechte, städtische Prediger ward er nicht. Die Lebensgewohnheiten, Neigungen und Ansichten der holländischen Heimat in dörflicher Beschaulichkeit waren ihm nicht mehr auszutreiben. Mit großer Treue hielt er am Briefverkehr mit seiner eigenen und seiner ersten Frau holländischer Sippschaft fest, auch nach dem Tode der stillen Amsterdamerin, 1762. Zwei ihrer kleinen Kinder waren ihr vorangegangen, das jüngste Söhnchen Arnold überlebte sie nur zwei Jahre, und nach zwei ferneren schritt der vereinsamte Mann abermals zur Ehe mit Henriette von Rheden, die er Ende 1769 gleichfalls verlieren mußte. Dunkle Zeiten selbst für solch einen lebensstarken und gottgläubigen Mann, dem es jedoch nicht gegeben war, sich persönlichen Empfindungen, schwach werdend, in die Arme zu werfen, oder ihnen Worte und Klagen zu leihen. –

In seinem Amtskalender, zwischen den Sonntagstexten, stehen nur drei kurze Vermerke. – Zum 6. Oktober 1762: »Obiit uxor mea dilecta«; zum 3.November 1764: »Starb mein einzig lieber Sohn, Morgens 5 Uhr«, und endlich, um 1770, gleich nach dem Tode Henriettens, das persönlich geschriebene, genaue Verzeichnis der eingeschlossenen Kleider und des Linnens der »seligen ersten und zweiten Liebsten«.

Ein durchweg Konservativer; Vertreter des strengreformierten Lehrbegriffs der holländischen Kirche; so schildern ihn die Ueberlieferungen damaliger Amtsbrüder. Anfänglich hat er noch holländisch gepredigt, und die »feinen Pietisten« seines kleinen Hörerkreises schätzten ihn als einen, der gläubigen Christen einen methodischen Heilsweg zeigte und stetige Seelenarbeit auferlegte zur Erlangung der Wiedergeburt in Christo Jesu. Als er, in den ersten Zeiten seiner bremischen Amtsübung, öfters vom »Seligmacher« predigte und ihn auf holländisch »Zaligmaker« nannte, mißverstand ihn die Gemeinde, deren meiste Glieder nach gutem alten Brauche plattdeutsch sprachen. Einer davon, im übrigen befriedigt von der Kanzelrede, äußerte heimkehrend: »ick mag Pastohr woll lien, wenn'k man blot wuß', wat de Mann jummer mit denn Sadelmoaker to doon harr!«

*

Da ereignete sichs unvermutet, daß dem rüstigen Sechziger auch seine zweite Eheeinsamkeit unerträglich wurde. Der ernstverschlossene Mann hatte in aller Stille geworben und verlobte sich mit der einunddreißigjährigen Johanna Holler, unsrer nachmaligen Urgroßmutter. Wann und wo diese Liebe gekeimt und gewachsen und im Verspruch zur Blüte gekommen ist, davon gibts keine Ueberlieferung für uns. Urgroßmutters Sache war das Schreiben nicht, und von Urgroßvater findet sich nur das Konzept der Verlobungsanzeige an die fernen Verwandten und Freunde, datiert vom 15./19. Mai 1772. Also vier Tage hat er auf dem Texte gebrütet! Hier ist er:

»Da es dem höchstfreien und gütigen Allregierer nach seiner gnädigen und weisen Vorsehung über uns gefallen hat, unsre Herzen dahin zu lenken, daß wir entschlossen sind, in Erwartung seiner göttlichen Segnungen, mit allgemeiner Zustimmung allerseits Angehöriger, uns zu einer christlichen Eheverbindung zu vereinigen (wovon die Proclamation d. 24. dieses Monates geschehen wird), so haben wir es unsere Pflicht geachtet, Ew. Ehren davon Nachricht zu ertheilen.«

*

Wie er selbst war Johanna Holler das Kind eines altbremischen Geschlechts; eine herzenswarme, mütterliche Natur; ein wenig schwerblütig und leicht kränkelnd, trotzdem wie geschaffen zur hingebenden und vertrauenden Pastorenfrau. Mit ihrer Liebe zugleich brachte sie dem Gatten ein zweites, kostbares Geschenk in die Ehe: sein Sommerglück für den Lebensabend und für die Kinder, die Gott ihm und ihr noch bescheren möchte. Dies Sommerglück war ihr Erbgut: das Vorwerk »die kleine Dunge«. Es lag als grüner Busch inmitten blumiger Marschwiesen; ein seliges Inselchen, der verschanzten »Burg« und dem reizenden Lesumflusse nahe, da wo dessen Hügelsäume sich abflachen, weil der Weserstrom schon seine Arme ausbreitet, um das lebhafte Tochterflüßchen zu umfangen. – – –

Am 26. Mai 1772 ward das ungleiche Paar zu St. Ansgarii getraut, und am 5. November 1773 wurde ihnen der einzige Sohn, Johann, geboren – unser Großvater. Im Mai 1775 sein einziges Schwesterchen, Katharine: der Mutter liebes, kleines Trinchen. Auf gut holländisch heißen die zwei Kinder bei'm alten Vater: Jan und Trientje.

*

Lebensfrische und glückliche Geschwister waren sie, trotz strenger Zucht. Johann ein waches, rühriges Kerlchen, voll Freude am Lernen und Pläneschmieden; früh schon hatte er allerhand große Rosinen im Sack, wie »Tant« Geschkathrine und Ilsabeta Hollers sagten, der Mutter unverheiratete Schwestern und ständige Sommergäste zur Dungen, samt dem Pflegekinde: der verwaisten Nichte Geschmagrete de Hase. Klein Trinchen gab sich anschmiegend und mädchenhaft und griff überall zierlich mit an unter Mutters Aufsicht. – Die Dunge war so ganz der Kinder Wunschland, daß sie schon tief im Winter davon sprachen und träumten, wenn ihr Kirchendach gegenüber unter dem weißen Flauschlaken steckte und die hungrigen Spatzen zirpend auf Pastors schlafenden Tulpen- und Krokusbeeten im Hausgarten hin und her hüpften. Dann sehnten sich die Kinder und hauchten gegen die Scheiben, ob sich der Frühling noch nicht sehen ließe.

Im städtischen Pfarrhause mußte Stille sein. Der alte Vater tiftelte und feilte an all seinen Predigten und Reden erkleckliche Zeit, und schnitt sie von der Puttenschen Vierstundenlänge auf die einstündige zurück, nach dem Belieben des bremischen Kirchenrates. Das nahm den lieben, langen Tag hin. – Mutter seufzte verstohlen über Johann, den jungen Rebellen, wider die Kleiderpeinlichkeit und die Händewaschgesetze; das strammgewickelte Zöpfchen und das stundenlange Sitzen bei Tisch, bis die Alten gemachsam abgespeist hatten. Jungens haben doch besseres zu tun!

Aber wenn dann endlich der Sommer auf das goldene Ferienglück in den Hundstagen lachte, und wenn der geliebte grüne Busch von der holperigen Fahrstraße aus in Sicht kam, das selige Inselchen: – ja, dann!

Der vierundzwanzigjährige Johann soll es uns selbst in der anmutigen Idylle erzählen, die er der Schwester als Geburtstagsmorgengabe brachte. Schöner als er kann uns niemand berichten, wie es zur Dungen war, damals im Sommer 1782, als sie neun und sieben Jahre zählten, er und sein Trinchen.

Ehe ich den jugendlichen Dichter der Idylle selbst reden lasse, will ich, zum besseren Verständnis ihres intimen und behaglichen Reizes, ein erläuterndes Wort über ihren Schauplatz vorausschicken: die »kleine Dunge«.

Um 1782 zerfiel sie noch in zwei getrennte Vorwerke, in die größere Smidt'sche Dunge und die angrenzende Tissot'sche, allwo die alte Mamsell Stine Tissots friednachbarlich hauste. Nach ihrem Tode ward ihr Gewese durch Kauf dem Smid'schen einverleibt. Jahrzehnte später übertrug unser Großvater es seinem jüngsten Sohne Wilhelm, und dessen dritter Sohn besitzt es heute. Das neue Haus steht auf der alten Stelle, aber, infolge des verheerenden Brandes zur weihnachtlichen Zeit 1885, in veränderter Gestalt.

Es lebt längst keiner mehr, der sich des ursprünglichen Dungener Landhauses und seiner rührenden Einfachheit im Schutz hochstrebender Bäume erinnern könnte; nur die Idylle und Briefschilderung zeichnen uns ein deutlich umrissenes und kräftig schattiertes Bild davon. Ohne Abkleidung ging die Viehdiele mit Kuh und Kalb und Hühnergackern in die sommerliche Halle über; frei loderte das gastliche Feuer auf offener Herdstelle. Bei Familientagen und andren Festen umzog sie ein mehrteiliger Klappschirm und gestaltete sie so zur Küche um, darin die Bratuhr arbeitete und der mächtige Kalbsbraten sich in der Glut am Spieß drehte. An die Halle schloß sich der Querbau des Herrschaftshauses. Dessen Wohnräume mündeten in sie ein, und von ihr aus drehte sich auch die knarrende Wendeltreppe zum Oberstock und dann bis zum Giebel hinauf in's kleine Labyrinth der Schlafräume. Die waren zu jener Zeit nur durch kahle Bretterwände voneinander getrennt; zu unserer gab's schon Anstrich und bescheidene Tapeten. Wie sich dort die Stuben und Kammern »Huks« und »Kabuffs« aneinanderreihten und ineinander schachtelten, zur Wonne von vier Generationen, – davon habt ihr keinen Begriff mehr, ihr modernen Landgutbewohner des ersten Standes.

Unten im Erdgeschoß gab es Sommerstube und Winterstube, und gegen Westen, nach dem grünen Garten und den Hügelchen von Lesum und St. Magnus hinaus, den heiligen Raum: »die alte Stube«.

Wir Enkel haben sie noch gekannt und geliebt in ihrer schwer-gediegenen Vornehmheit. Bis auf diesen Tag steht sie mir als unvergleichlich vor Augen, mit Balkendecke und Paneel; darüber, eng nebeneinander die ernsten, schwarzgerahmten Familienbilder, groß und lebendig. Ich sehe die ungeheuerlichen Möbel: die Riesenstühle, buntgepolstert auf dicken gewundenen Beinen, den unverrückbaren Mitteltisch unter der Ampel, und darauf zwei kostbare Erbstücke: Ahne Schwelings Gebetbuch: Arndts »Paradiesgärtlein aller christlichen Tugenden« von 1638, dessen verschabten Sammetdeckel einst funkelnde Rubinen zierten, und dann das große Brettspiel mit bedeutsamen Schachfiguren und schalkhaften Inschriften. Auf der reichgeschnitzten Anricht blauweißes Delfftgeschirr, Alt-Japan und prächtige Kelchgläser. Hohe Delfftvasen auch zwischen den Fenstern, Jasmin, Pflox und Schilf in dicken Büschen darin zur Sommerszeit; die Fenster kleinscheibig, oben Glasmalerei: Ratsherrenwappen von Anno 1748.

Schönes »Einst«! Das teure Alte vergangen, bis auf den geretteten Teil der Familienbilder, die mit der Smidts-Dunge leben und sterben müssen, nach Ohm Pundsacks Worten in der Idylle. – In Asche zerfallen die Riesenmöbel der heiligen alten Stube; die hohen Gardinenbetten und die steifen, rotbezogenen Stühle der »besten Fremdenkammer«, darin ich in der Hundstagsglut 1846 das Licht der Welt erblickt habe, beschirmt vom stolzen Eichengeäst.

Solange ich denken kann, waren Viehdiele und Halle schon durch die Glastür getrennt, deren laufendes Gewicht weinerlich kreischte; die Mittagsschüsseln erschienen zauberhaft durch ein Spiegelscheibchen in der Küchenwand, und vorn in der Halle über Rohrbänken prangten Onkel Wilhelms ausgestopfte Jagdtiere hinter Glas: der Yprump und der Rohrdommel, – verschollene Vögel und viel anderes. In den Oberstock aber führte noch die alte, knarrende Wendeltreppe, und das ganze heißgeliebte Haus durchzog ein seltsamer Geruch: ein bißchen dumpf, ein bißchen feucht-modrig; Blumendüfte aus dem Garten dreingemischt. Am stärksten lastete der Geruch in der alten Stube. Er gehörte uns dazu; ohne ihn wäre es nicht halb so feierlich und ehrfurchtgebietend zwischen den lebensgroßen Ahnenbildern gewesen.

Als ich jung war, duftete der Dungener Garten honigsüß im Sonnenschein und nach dem Gewitterregen. Nirgends wuchsen und blühten so vollkommene Monatsrosen und Reseden, Verbena und Heliotrop, wie vor der Dungener Südveranda. Der Garten war großzügig und malerisch angelegt; die Grafft begrenzte ihn, schlang einen Bogen um den verwilderten Wiedbusch, und hinter ihr, dem Wasserlaufe folgend, zog sich der verschwiegene Blumendeich vor den endlosen Marschwiesen hin. Die alten Eichen und Eschen standen zum Teil in schwarzgrünen Efeumänteln, und überall lockten die Vögel. Im Geäst rucksten die Wildtauben, und im Garten flötete der gelbe Pirol; von fernher neckte der Kuckuck, und das Sängerchen pfiff im Schilf. Die girrenden Hoftauben kamen mit weichem Flügelschlage und reihten sich eng auf dem Dachfirst der Veranda; über ihnen klapperten Storch und Störchin und atzten ihre zischelnden Jungen im Nest, – und wie es gackerte und krähte, kollerte und schnatterte im Geflügelrevier! Manchmal zog hoch droben im Himmelblau der räuberische Habicht seine Kreise und schrie gell herab; dann verstummte aller Vogellaut urplötzlich in Furcht, und die Hunde blafften; das Brüllen der weidenden Kühe kam sanft herüber, zum schwingenden Ton ihrer Algäuer Halsglocken, kunstvoll abgestimmt. – – – –

Damals, als Johann und Trinchen Smidt kleine Kinder waren, wuchsen Baum und Busch viel dichter. Runde Lindenkronen unterbrachen die zackigen der Eichen und Eschen; am Vorderhause dunkelte der alte Hollunder, und die Blumenpracht trat zurück vor gepflegtem Obst und Gemüse, nach des Vaters holländischer Liebhaberei. Peinlich beschnittene Hecken teilten die Stücke ab, und die Sonnenuhr mahnte zur pünktlichen Arbeit.

Die Gäste des »Familientags« bestanden 1782 nur aus der Mutter Geschwistern und Verschwägerten: Hollersche Sippe. Da kam ihr frohsinniger Bruder, der Onkel Holler, und die jugendliche Frau mit den drei Kinderchen, das älteste, Elise, erst fünfjährig. Da kam Tante de Hase, die verwitwete, deren kleine Töchter, Henriette und Marie, der Smidtschen Kinder liebste Gespielinnen und nahe Altersgenossinnen waren, – und schließlich Mutters Respektsschwager Bürgermeister Pundsack, klug, lebhaft und standesbewußt, mit der feinen, zweiten Frau. –

Welche Ehren ihnen angetan, wieviel kulinarische Vorbereitungen für die fünf Erwachsenen und fünf Kinder gemacht wurden, um sie zu feiern und zu sättigen: das sollen euch die Ausschnitte aus Johann Smidts Idylle erzählen und zugleich das anmutigste Zeitbild geben.

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