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Zehntes Kapitel

Früher als sonst klingelte Dorival am anderen Morgen seinem Diener. Er hatte schlecht geschlafen.

Als Galdino das Frühstück gebracht hatte, schickte er ihn gleich fort, eine Morgenzeitung zu holen. Diesmal brachte das Blatt fast eine ganze Spalte über »Das Attentat auf den Bankier Labwein«.

Mit gespanntem Interesse las er den Bericht der Zeitung:

»Das Attentat auf den Bankier Labwein hat seine Aufklärung gefunden. Der Bankier Erich Labwein betreibt im dritten Stock eines Hauses in der Jägerstraße ein kleines Bank- und Kommissionsgeschäft. Vor einigen Tagen meldete sich bei ihm ein gutgekleideter Herr, der angab, in Elberfeld eine Knopffabrik zu besitzen. Dieser Mann wollte mit Labwein in geschäftliche Verbindung treten. Da er ein sicheres Auftreten hatte und über gute Empfehlungen verfügte, so trug Labwein, der als ein sonst sehr vorsichtiger Mann geschildert wird, keine Bedenken, dem Fremden einige Besprechungen zu gewähren. Gestern morgen, gegen 11 Uhr, erschien der angebliche Knopffabrikant wieder bei Labwein. Er wurde in das Privatzimmer des Bankiers geführt und hier gelang es ihm, dem arglosen Labwein einen bösen Streich zu spielen. Der Bankier nahm eine ihm von dem Fremden angebotene Zigarette an, deren Tabak mit einem stark wirkenden Betäubungsmittel durchsetzt war. Der Bankier fiel in vollkommene Bewußtlosigkeit. Er ist aus dieser erst gestern abend, gegen 9 Uhr, in der Klinik des Professors Nothnagel erwacht. Dem ihn vernehmenden Kriminalkommissar gab er an, daß ihm von dem Unbekannten über 12 000 Mark in bar und eine Reihe von Wertpapieren entwendet worden seien. Labwein hatte das Geld und die Wertpapiere bei sich in der inneren Tasche seiner Weste getragen. Zum Glück konnte der Bankier eine genaue Beschreibung des Spitzbuben geben, und als ihm das Verbrecheralbum vorgelegt wurde, erkannte er sofort den Dieb heraus. Dieser ist ein alter Bekannter der Polizei. Er heißt Emil Schnepfe, bedient sich aber bei der Ausführung seiner Hochstapeleien meistens der Vertrauen erweckenden Namen alter Adelsgeschlechter. Bemerkenswert ist die Kaltblütigkeit, mit der sich Schnepfe der sofortigen Verfolgung entzog. Als er nämlich das Geschäftslokal Labweins verließ, schloß er vom Korridor aus die einzige Tür ab, die von dort in das Büro führt. So machte er es dem Gutsbesitzer Dackelmann und der Bürovorsteherin Niese, die als erste den betäubten Labwein auffanden, unmöglich, die Verhaftung des Verbrechers sofort zu veranlassen. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß es den Bemühungen der Polizei bald gelingen wird, den gefährlichen Menschen hinter Schloß und Riegel zu bringen. Das Befinden Labweins ist an und für sich zufriedenstellend, doch zeigt er sich wegen des großen Verlustes, der ihn betroffen hat, sehr niedergeschlagen.

Das Signalement des Emil Schnepfe ist sofort telegraphisch verbreitet worden.«

Dreimal las Herr von Armbrüster die Notiz.

Dann stöhnte er.

Emil Schnepfe!

Hinter Emil Schnepfe waren sie her!

Dorival bedauerte seinen Mangel an Gesetzeskenntnis; er hätte gern gleich das Schlimmste gewußt: Wieviel Jahre Zuchthaus dieser unglückselige Schnepfe dereinst ihm, dem Freiherrn von Armbrüster zu verdanken haben würde!

»Fabelhaft!« stöhnte er vor sich hin.

Es war ihm überhaupt wüst zumute. Die Beschreibung da in der Zeitung klang so scheußlich verbrecherisch. Na – wenigstens hatte die Opiumzigarette weiter keinen Schaden angerichtet: das war die Hauptsache. Daß über den Verlust von Geld und Wechseln – hm, von dem Brief sagte der Zeitungsbericht nichts! – tiefe Trauer in die Seele des Herrn Labwein eingezogen war, na, darüber regte er sich nicht im geringsten auf. Es freute ihn sogar, daß er dem Spitzbuben das Geld noch nicht zurückgeschickt hatte: mochte er ruhig noch zappeln. Aber – aber dieser Emil Schnepfe! Es war doch ein unerträgliches Gefühl, den armen Teufel so fürchterlich hereingelegt zu haben; sich selbst aber so sicher zu wissen, so gewiß zu sein, daß keine Verkettung von Umständen den eigenen Sprung ins Verbrechertum zur Entdeckung bringen konnte. Denn vor einem Erkanntwerden dem Aussehen nach schützte ihn ja die polizeiliche Legitimation. Alle übrigen Spuren hatte er verwischt. Aber –

Jawohl! diesem Emil Schnepfe ging es an den Kragen!

Gräßlich – gräßlich ...

Zum Donnerwetter, die Sache ging einem an die Nerven!

»Kannst du augenblicklich diesem Emil Schnepfe helfen?« fragte sich Dorival endlich.

»Nein, offenbar nicht.«

»Kannst du die Sachlage ändern?«

»Unmöglich!«

»Schön, mein Junge! Dann zerbrich dir auch gefälligst den Kopf nicht über Dinge, die nun einmal sind, wie sie sind. Fertig! Schluß!«

Es war aber nicht fertig. Ein neuer Gedanke plagte ihn: Wenn nun dieser Emil Schnepfe wirklich gefaßt wurde?

Wenn man ihn verurteilte?

Dann – dann hatte ein anständiger Mensch die Pflicht – pfui Deibel ...!

Aber einen Emil Schnepfe fängt man nicht so leicht. Der saß jetzt womöglich in aller Gemütlichkeit in einem Luxushotel in, na, in Singapur oder Kapstadt oder sonstwo, und rupfte unschuldige Hennen vom Schlage der Frau von Maarkatz. – Selbstverständlich!

Natürlich war Schnepfe schon längst ins Ausland geflohen, sonst hätte ihn die Polizei in dieser langen Zeit doch sicher schon erwischt.

Daran hatte Dorival noch gar nicht gedacht.

Und er pfiff sich eins.

Er wurde sogar sehr vergnügt.

*

Eine Stunde später war Dorival auf dem Weg zu dem Café in der Kurfürstenstraße. Am Großen Stern bot ihm ein Blumenmädchen Veilchen an. Er kaufte ein Sträußchen, um es Ruth mitzubringen. Die Zeitung mit dem Bericht über das Attentat auf den Bankier Labwein hatte er zu sich gesteckt, denn vielleicht hatte ihn Ruth noch nicht gelesen.

»Guten Morgen!« hörte er in diesem Augenblick eine liebe Stimme sagen.

Ruth stand neben ihm. Hübscher noch als früher erschien sie ihm in ihrem kecken Frühjahrshütchen, in ihrem eleganten Schneiderkleid.

»Ich danke Ihnen, daß Sie so pünktlich sind!« sagte er und küßte ihr die Hand.

»Nicht Sie haben mir zu danken,« wehrte sie ab, und er sah, trotz des Schleiers, daß sie rot wurde. »Ich habe Ihnen zu danken, daß Sie Wort gehalten haben.«

Sie drückte ihm fest die Hand.

»Wollen wir jetzt nach unserem stillen Winkel gehen, oder wäre es Ihnen recht, wenn wir im Tiergarten –?«

»Nein, nein,« unterbrach sie ihn ängstlich, »es ist wegen Ihrer Sicherheit besser, wenn wir in das Café gehen.«

Sie traten in das Café und nahmen ihre alten Plätze ein. Der Kellner erkannte sie und lächelte freundlich. Er zog sich diskret zurück, nachdem er den Kaffee gebracht hatte.

»Darf ich Ihnen diese Veilchen überreichen?« sagte Dorival und hielt Ruth das Sträußchen hin.

Sie nahm die Blumen dankend an und befestigte das Sträußchen an ihrer Jacke.

»Haben Sie die Zeitung schon gelesen?« fragte Dorival lächelnd.

»Ja. Ich weiß ja nicht, wie ich Ihnen danken soll –«

»O, bitte!«

»Es muß fürchterlich gewesen sein –«

»O nein!«

»Sie sind sehr geschickt gewesen –«

»Danke!«

»Und haben Sie – haben Sie den Brief gefunden?«

Aengstlich zögernd stellte sie die Frage. Gespannt blickte sie ihn an. Tapfer ging sie ohne Umschweife auf ihr Ziel los. Aber es bangte ihr vor der Entscheidung. Hatte er den Brief gefunden, oder nicht? Und wenn er ihn gefunden und an sich gebracht hatte, was würde er jetzt von ihr verlangen, ehe er den Brief herausgab? Nicht die Forderung in barem Geld, die er machen konnte, schreckte sie. Sie wußte, ihr Vater würde in dieser Beziehung nicht kleinlich sein. Aber sein Benehmen ihr gegenüber war nicht mißzuverstehen. Und er gefiel ihr. Sie mußte sich zusammennehmen, um stark zu bleiben. Sie mußte sich ins Gedächtnis rufen, daß der Mann innen verderbt war. Er war ein Verlorener, ein Ausgestoßener, der seine äußeren Vorzüge benutzte, um Frauen zu belügen und zu betrügen. Eigentlich mußte sie ihn verachten. Und sie wunderte sich über sich selbst, daß sie das nicht konnte. Und – wie würde er sich jetzt benehmen – jetzt, da er den großen Trumpf gegen sie in der Hand hielt? Dorival nahm aus der Brusttasche den Brief.

»Hier ist der Brief,« sagte er.

Ruth stieß einen Freudenschrei aus, nahm den Brief, betrachtete zuerst den Umschlag von allen Seiten, dann überflog sie den Inhalt des Schreibens.

»Er ist's! Er ist's!« jubelte sie. »Wie wird sich Vater freuen! Sie glauben gar nicht, in welcher Sorge mein guter Vater wegen dieses Briefes gewesen ist. Aber Sie haben ihn gerettet!«

Ehrliche, überströmende Dankbarkeit sprach aus ihren Worten, ihr n Blicke, dem Druck ihrer Hand.

Sie sah, wie seine Blicke wieder bewundernd auf ihr ruhten. Und da verstummte sie plötzlich, wandte sich ab und wurde rot. Aber dann nahm sie sich zusammen und fragte mit erzwungener, geschäftsmäßiger Ruhe.

»Wie darf Ihnen mein Vater das Geld auszahlen?«

»Welches Geld?«

»Für den Brief.«

»Ich will kein Geld. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«

»Warum wollen Sie keine Belohnung annehmen? Vielleicht, weil Sie dem Labwein zwölftausend Mark fortgenommen haben? Das ist ganz Ihre Privatsache. Wir bezahlen Ihnen trotzdem die dreißigtausend Mark aus, die Ihnen von mir versprochen sind.«

»Ich will kein Geld, Fräulein Ruth.«

»Was wollen Sie denn?«

»Erinnern Sie sich nicht mehr meiner Forderung? Sie sprachen damals, wenn ein Kuß einen Wert haben soll, so muß man ihn als Geschenk erhalten. Ich bitte um mein Geschenk, Fräulein Ruth.«

Sie hatte den Brief schon in ihrem Täschchen geborgen. Einen Augenblick schien es, als wolle sie ihn wieder herausnehmen und ihn zurückgeben.

Aber die Hand, die schon das Täschchen geöffnet hatte, drückte es mit plötzlichem Entschluß wieder zu.

Dorival glaubte ihr an den Augen abzulesen, daß es Mitleid mit den Sorgen ihres Vaters war, das sie veranlaßte, das Täschchen wieder zu schließen.

Sie rückte näher an ihn heran und schob ihr Köpfchen vor. Dicht vor sich sah er ihr blasses, ernstes, trauriges Gesichtchen.

»So, jetzt können Sie mir einen Kuß geben!« sagte sie.

Einen Augenblick zögerte er. Aber – dann faßte er mit beiden Händen ihr Köpfchen und drückte auf den roten, frischen Kindermund einen kräftigen Kuß.

Ruth schwieg. Dann entnahm sie ihrem Täschchen eine Besuchskarte und schrieb mit Bleistift einige Worte auf die Karte.

»Ich fahre jetzt zu meinem Vater und gebe ihm den Brief,« sagte sie leise. »Sie können selbst oder durch einen anderen das Geld, das Ihnen gehört, im Geschäft meines Vaters an der Kasse abheben. Sie brauchen nur die Karte vorzuzeigen, die ich Ihnen dort hingelegt habe.« Sie stockte einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Und – wenn Sie einmal in Not geraten sollten – mein Vater wird nie vergessen, was er Ihnen schuldet. Und ich –«

Sie brach mitten im Satz ab, erhob sich und reichte ihm die Hand.

»Sie wollen schon gehen?« fragte Dorival erschrocken.

Sie nickte.

Da wurde er rabiat.

»Ich kann Sie so nicht gehen lassen!« sagte er heftig.

Sie sah ihn an.

»Das kann ich nicht. Es ist alles dummes Zeug. Ich habe die Komödie satt. Ich muß Ihnen sagen, wer ich bin. Sie haben ja keine Ahnung. Ich bin der Freiherr –«

»Halt!« sagte Ruth.

Er schwieg verblüfft.

Sie sah ihn lange an und Tränen kamen ihr in die Augen.

»Nein,« sagte sie endlich leise, »ich will den Namen nicht hören. Wie können Sie mich in diesen Minuten belügen wollen!«

Und sie griff nach ihrem Täschchen, stand aus und lief eilig fort.

»Zahlen!« schrie Dorival.

Der Kellner kam. Er warf ihm ein Geldstück hin und stürmte auf die Straße. Aber Ruth war nicht mehr zu sehen ...


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