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Sechstes Kapitel.

Eine Viertelstunde vor der festgesetzten Zeit war er zur Stelle.

Wie ein Wachtposten schritt er auf dem Bürgersteig auf und ab und hielt nach allen Richtungen Umschau. Nie war ihm eine Viertelstunde so lang erschienen. Die Minuten krochen im Schneckengang. Endlich schlug es vom Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche elf Uhr und siehe, mit einer Pünktlichkeit, die seinem Herzen wohl tat, kam aus der Richtung vom Lützowplatz mit schnellen Schritten Fräulein Ruth Rosenberg.

Er eilte ihr entgegen, zog tief den Hut und küßte ihr die Hand.

»Ich danke Ihnen, daß Sie mich nicht haben warten lassen!«

Ruth lächelte.

»Ich freue mich,« erklärte sie, »daß Sie meine Anzeige gelesen und verstanden haben. Ich rechne darauf, daß Sie diese Zusammenkunft so auffassen, wie sie gemeint ist. Sie bezweckt die Besprechung einer geschäftlichen Angelegenheit. Wir können natürlich nicht hier auf der Straße stehen bleiben. Nur fünf Minuten von hier entfernt, in der Kurfürstenstraße, liegt ein Café, das jetzt gar nicht besucht ist. Dort will ich Ihnen sagen, weshalb ich Sie gebeten habe, hierher zu kommen. Bitte, begleiten Sie mich.«

Sie hatte diese Ansprache hastig heruntergehaspelt wie etwas Auswendiggelerntes. Nun sah sie ihn mit ihren großen, dunklen Augen fragend an.

»Wie Sie befehlen!« sagte Dorival.

Er suchte, während er neben ihr herging und mit Wonne den feinen Veilchengeruch einsog, der sie umspielte, nach einem Gesprächsstoff. Der Kühle, rein geschäftsmäßige Ton, den sie angeschlagen hatte, beirrte ihn nicht, aber es erschien ihm nicht an der Zeit, so zu sprechen, wie er gern gesprochen hätte. Und so schwieg er, gleich ihr. Innerlich aber war er sehr vergnügt!

Plötzlich fühlte er, wie die Finger seiner Begleiterin sich um sein Handgelenk krampften. Ihr Schritt stockte.

»Mein Gott,« flüsterte sie ihm erschreckt zu, »dort steht ein Polizist!«

»Fürchten Sie sich vor der Polizei?« fragte Dorival gedankenlos.

»Nein – aber Sie! Wir wollen umkehren. Wenn er Sie erkennt, sind Sie verloren!«

Aha, sie fürchtete für ihn. Und sie hatte ihm doch seine Sicherheit verbürgt –

»Lassen wir es darauf ankommen,« antwortete er mit imponierender Ruhe. »Ich bin gewohnt, der Gefahr ins Auge zu sehen. Aber bitte, Ihren Arm. So geht es besser.«

Und er gab sich den Anschein eines Mannes, der mit kaltblütiger Gelassenheit allen Schrecken dieser Welt entgegengeht. Er zog ihren Arm in den seinen, und sie widerstrebte nicht. Als sie an dem Schutzmann vorbeigingen, fühlte er ihr Zittern.

»Eine gewisse Frechheit ist für meinen Beruf durchaus erforderlich,« bemerkte er so nebenbei. »Man kommt ohne sie nicht vorwärts!«

In dem Café war nicht ein einziger Gast, man schien auch noch nicht auf den Besuch von Gästen zu rechnen. Ein Kellner, blaß und übernächtig, der eine Arbeitsschürze vorgebunden hatte, wischte Tische und Stühle ab, und ein Mädchen putzte mit verdrossenem Gesichte Gläser.

Dorival und Ruth schien sich in eine Nische. Der Kellner brachte Kaffee. Als sich der Mann wieder an seine Arbeit begeben hatte, sagte Ruth, mit dem Löffel spielend, ohne aufzublicken:

»Sie haben Wort gehalten, Sie haben den Mantel meines Vaters zurückgeschickt.«

»Aber ich hatte Ihnen doch mein Ehrenwort gegeben!«

»Es tut mir leid, daß Sie Ihren Mantel bei dem Vorfall im Kaiser Hof eingebüßt haben.«

»Wieso?« fragte Dorival wiederum gedankenlos.

»Nun, mein Vater, der doch nicht ohne Mantel und Hut aus dem Hotel gehen konnte, brachte die Sachen mit nach Hause. Gestern hat er den Mann ermittelt, dem Sie den Mantel und den Hut – hm – entliehen hatten. Nun, ich biete Ihnen heute ein Geschäft an, damit können Sie mehr verdienen als einen Pelzmantel –«

»Ein Geschäft? Sie machen mich neugierig!« Dorival griff nach ihrer Hand.

Sie zog die Hand zurück.

»Das dürfen Sie nicht!« sagte sie und blickte ihn strafend an. »Sie haben sich bisher mir gegenüber ritterlich benommen. Das müssen Sie auch weiter tun, sonst müßte ich annehmen, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe. Dann würde ich sofort gehen. Wünschen Sie das?«

»Nein!«

»Gut, dann kann ich vernünftig mit Ihnen reden. Ich werde Ihnen zuerst sagen, was ich von Ihnen verlange, und dann nennen Sie mir Ihren Preis. Sie versprechen mir, daß alles, was ich Ihnen sage, von Ihnen streng geheim gehalten wird?«

Jetzt streckte sie ihm selbst ihre Hand entgegen.

Er griff schleunigst zu.

»Sie wissen, daß mein Vater Konsul der Republik Costalinda ist,« begann Ruth, und sie sprach wieder ganz in ihrer ruhigen, geschäftsmäßigen Art. »Mein Vater hatte früher in Costalinda ein Importhaus. Er hat in diesem Land lange Jahre gelebt. Später nahm er einen Teilhaber an, der dem Geschäft in Costalinda vorstand, während sich mein Vater nach Deutschland zurückzog. Vor etwa fünf Jahren brach in Costalinda eine Revolution aus. An der Spitze der revolutionären Partei stand ein Mann, der sich General Alvarez de Almeida nannte. Den Titel eines Generals hatte er sich selbst zugelegt. Er und seine Leute begingen in jener Zeit viele Grausamkeiten, plünderten, zerstörten fremdes Eigentum.

Damals schrieb mein Vater an seinen Teilhaber nach Costalinda einen Brief, in dem er seiner Anhänglichkeit an den Präsidenten offenen Ausdruck gab und aus seiner Verachtung für den General Alvarez kein Hehl machte. Dieser Brief ist nie in die Hände des Mannes gelangt, für den er bestimmt war. Der Teilhaber meines Vaters wurde von den Revolutionären ermordet, als er sich auf einer Kaffeeplantage befand, die er durch seine Gegenwart vor der Zerstörungswut der Horden des Alvarez zu retten hoffte. So kam es, daß der Brief meines Vaters in den Besitz eines Angestellten der Firma gelangte. Dieser Mensch hat den Brief sorgfältig aufgehoben. In seinen Händen wird dieser Brief für meinen Vater zum Verderben.«

»Wieso?«

»Die Partei des Generals Alvarez ist an die Regierung gekommen. Alvarez ist zum Präsidenten gewählt worden. Würde ihm jetzt der Brief, den mein Vater damals geschrieben hat, und in dem er über ihn ein sehr absprechendes Urteil fällte, bekannt werden, so wären die Folgen für meinen Vater sehr schlimm. Mein Vater hat gerade jetzt große Interessen in Costalinda. Es handelt sich um Eisenbahn-Unternehmungen. Er bedarf dazu der Unterstützung der Regierung. Ich kann Ihnen das nicht so erklären. Die Trassen der Eisenbahnen hat die Regierung zu genehmigen. Die kostspieligen Vorarbeiten sind bereits beendet, und die Pläne liegen der Regierung vor. Will nun die Regierung meinen Vater schikanieren, verwirft sie die Pläne der von meinem Vater vertretenen Gesellschaft, so ist die Ausführung der Eisenbahnen überhaupt in Frage gestellt. Damit wäre mein Vater ruiniert. Nicht nur, daß die großen, von ihm angekauften Waldregionen, die durch die Eisenbahnen erschlossen werden sollten, nicht nutzbar gemacht werden könnten, sondern auch die großen Summen für die Vorarbeiten wären verloren, und mein Vater würde für den ganzen Betrag aufkommen müssen. Er hat nämlich, da er des Einverständnisses der alten Regierung sicher war, die Bürgschaft dafür übernommen, daß die Trassen der Eisenbahnen so genehmigt werden, wie sie ausgeführt worden sind.«

»Wo ist der Brief jetzt?« fragte Dorival.

»Er ist noch immer in den Händen jenes Mannes, der ihn sich damals angeeignet hat. Er heißt Erich Labwein und wohnt jetzt hier in Berlin. Er hat hier ein kleines Bargeschäft eröffnet. Er ist so eine Art Winkelbankier.«

»Kann Ihr Vater ihm den Brief nicht abkaufen?«

»Mein Vater hat bereits eine hohe Summe für die Auslieferung des Briefes geboten, aber dieser Labwein hat das Angebot ausgeschlagen. Er hofft von anderer Seite mehr zu bekommen.«

»Kennen Sie diese andere Seite?« fragte Dorival.

»Gewiß, es sind englische Kapitalisten. An ihrer Spitze steht der Baumwollkönig Sir Howard Frederik Byford. Der möchte das deutsche Kapital und den deutschen Einfluß ganz aus Costalinda verdrängen.«

Als Dorival den Namen seines Onkels Byford nennen hörte, pfiff er leise durch die Zähne. Wiederum gedankenlos.

»Das sieht ihm ähnlich,« bestätigte er.

»Sie kennen Sir Byford?« fragte Ruth erstaunt.

»Ich habe seinen Namen schon gehört,« stotterte Dorival. »Er ist ein rücksichtsloser Gegner. Aber kann denn Ihr Vater diesen Labwein nicht durch einen Prozeß zwingen, ihm den Brief zurückzugeben?«

»Das würde ein sehr langer und darum vergeblicher Weg sein. Labwein würde den Brief längst an Sir Byford verkauft haben, ehe auch nur der erste Termin stattgefunden hätte. Nein, es gibt nur einen Weg, um den Brief meinem Vater zu verschaffen. Sie sagten mir doch, Sie könnten auch einbrechen?«

»Donnerwetter!« sagte Dorival.

»Nicht wahr?«

»Ja – natürlich – selbstverständlich kann ich einbrechen!«

»Sie würden einer guten Sache dienen!«

»Dja – das wär mal eine Abwechslung!« stotterte Dorival. Er kam sich vor wie ein Idiot.

»Wollen Sie mir helfen?« fragte sie zaghaft.

Er ergriff ihre Hand, streichelte sie und sagte zuversichtlich und beruhigend: »Aber natürlich will ich Ihnen helfen. Ich breche bei diesem Labwein ein, nehme ihm den Brief weg, stecke ihn in einen Rosenstrauß und mache ihn Ihnen zum Geschenk!«

Er war entzückt, daß sie ihm ihre Hand nicht entzog!

Ihre Augen leuchteten auf.

»Wirklich? Sie wollen mir den Brief beschaffen? Oh, wie dankbar werde ich Ihnen sein!«

Er küßte ihre Hand.

»Für Sie tue ich alles. Ich bin ja furchtbar verliebt in Sie!«

Ruth rückte schleunigst ab.

»Sie vergessen Ihr Versprechen!« sagte sie ruhig. »Bleiben wir bei unserem – Geschäft. Was beanspruchen Sie für Ihre – Ihre – Arbeit?«

Er machte ein klägliches Gesicht: »Ich bitte um Verzeihung, ich –«

Sie machte eine abwehrende Handbewegung.

»Sie sollen nicht abschweifen. Ich habe Ihnen verziehen, aber jetzt müssen Sie bei der Sache bleiben. Sie ist doch wahrhaftig ernst genug. Also, was wollen Sie haben?«

»Ich will die Ehre haben, Ihnen den Brief zum Geschenk machen zu dürfen!«

»Das geht nicht. Das kann ich auf keinen Fall annehmen. Sie können nicht umsonst arbeiten. Die Sache ist doch nicht gefahrlos. Ich biete Ihnen dreißigtausend Mark. Ich habe Ihnen ganz offen gesagt, welchen Wert der Brief für meinen Vater hat. Wenn Ihnen mein Angebot zu niedrig erscheint, so nennen Sie mir Ihre Forderung.«

Dorival tat, als überlege er sich die Sache und tappte dabei, wie rein zufällig, nach ihrer Hand. Aber sie erkannte rechtzeitig seine Kriegslist und versteckte die Hand hinter ihrem Rücken.

»Würden Sie auch einen Vorschuß geben?« fragte er, ihre geschäftsmäßige Art nachahmend.

»Gewiß, da ich Sie als zuverlässigen Menschen kennen gelernt habe!«

»Schön!« sagte er. »Ich halte Sie beim Wort. Sie geben mir einen Vorschuß. Ich verlange dafür, daß ich Ihnen den Brief besorge, zwei Küsse!«

Großes Schweigen.

Er blickte sie ganz ernsthaft an. Als er sah, daß sich ein Schatten auf ihr Gesicht legte, setzte er hinzu:

»Sie bemerkten vorhin ganz richtig, daß meine Arbeit mit Gefahr verbunden ist. Diese Anzahlung würde mir Mut zu dem Unternehmen machen. Ich bin natürlich mit einem Vorschuß von fünfzig Prozent zufrieden. Zahlbar bei Abschluß.«

»Ich sehe,« sagte sie, ohne ihn anzublicken, »Sie machen schon jetzt keinen guten Gebrauch von dem Vertrauen, das ich Ihnen geschenkt habe. Ich habe Ihnen ein Geheimnis mitgeteilt, und Sie suchen jetzt diese Mitteilung gegen mich auszunützen. Das ist nicht schön von Ihnen. Ich habe immer gedacht, ein Kuß hätte nur dann einen Wert, wenn man ihn geschenkt bekommt.«

»Ja, wenn ich wüßte, daß ich hoffen dürfte, von Ihnen einen Kuß geschenkt zu bekommen, dann wäre mir das ja auch lieber! Gut! Ich will auf den Vorschuß verzichten und die Bemessung des Honorars, nach getaner Arbeit, Ihrer Großmut überlassen. Einverstanden?«

Ruth sah ihn an und mußte lachen: »Einverstanden!«

Ein Handschlag bekräftigte den Abschluß des Geschäftes.

»Aber nicht wahr,« ermahnte sie ihn, »Sie sind recht vorsichtig?«

»Sie dürfen ganz unbesorgt sein!« Er tat so, als ob er den Brief schon so gut wie in der Tasche hätte.

»Und noch eins müssen Sie mir versprechen. Sie dürfen sich nicht zu – zu Gewalttätigkeiten hinreißen lassen.«

»Die Sache wird einen ganz unblutigen Verlauf nehmen. Seien Sie ohne Sorge!«

»Sie haben schon einen Plan?«

»Aber natürlich. Wie heißt der Mann?«

»Ich werde Ihnen seine Adresse aufschreiben.«

Sie zog einen winzigen Bleistift aus ihrem Täschchen.

»Haben Sie ein Blättchen Papier bei sich?«

Dorival griff in alle Taschen. Vergebens. Da fand er in der Westentasche ein zusammengelegtes Stückchen Papier. Das reichte er Ruth hin: »Vielleicht genügt dies.«

Ruth entfaltete das Papier.

»Da steht schon eine Adresse. Frau von Maarkatz.«

Dorival griff hastig nach dem Papier, zerknüllte es und warf es auf den Boden.

»Eine belanglose Notiz! Hier ist ein anderes Stück Papier!« Er zog aus der Westentasche das abgerissene Stück eines Konzertprogrammes und legte es vor Ruth auf den Tisch.

»Bitte! Auf der Rückseite wird noch Platz sein.«

Ruth drehte das Blättchen Papier um.

»Auch hier ist schon etwas darauf geschrieben,« sagte sie und las: »Geliebter! Ich erwarte Nachricht postlagernd W. 30. unter G. L. Ich muß Dich sprechen. Dein Gretchen.«

»Das war überhaupt nicht für mich bestimmt!« sagte Dorival wütend. »Was für ein Zeug schleppe ich da mit mir herum! Kellner, bringen Sie mal einen Bogen reines Papier.« Er warf den Zettel des Fräulein Lotz hinter dem ihrer Herrin her.

Der Kellner brachte Papier und eine Schreibunterlage.

Ruth beugte sich über das Papier, schrieb die Adresse des Herrn Erich Labwein auf: schob Dorival den Zettel hin und zog dann sehr schnell ihre Handschuhe an. Sie schien es plötzlich eilig zu haben ...

»Sie können mir schreiben, wenn Sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen haben,« sagte sie. »Und – –«

»Und?«

»Sie scheinen mit sehr vielen Damen in – geschäftlicher Verbindung zu stehen!«

Und fort war sie!


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