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Zweites Capitel.
Eine Nacht im Kerker.


Nichts spricht deutlicher den Geist der verschiedenen auf einander folgenden Epochen aus, als der Charakter der großen Bauwerke, die in den verschiedenen Perioden nach einander aufgeführt worden sind, um in den Mittelpuncten der Bevölkerungen die niederen Dächer der großen Masse zu überragen. Die Wohnungen des Mittelalters waren überragt von Kirchen. Mit der Reformation verflüchtigt sich der spiritualistische Gedanke, auf dem sie und die ganze Gesellschaft erbaut sind; im gleichen Maße steigt die Bedeutung weltlicher Gewalt als Zusammenhalt der Gesellschaft; das siebenzehnte und das achtzehnte Jahrhundert bauen große Königsschlösser. Das Werk der Auflösung schreitet vor und fordert immer materiellere Mächte als Gegengewicht. Die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts baut Casernen und Festungen.

Und wir, wir stehen bereits in einem neuen Stadium. Sieht man bei uns einen hochragenden Neubau, so ist Zehn gegen Eins zu wetten, daß es entweder ein Eisenbahnhof oder – ein pensylvanisches Zellengefängniß ist. Je mehr Anstalten zum Fortkommen gebaut werden, desto nöthiger scheinen auch die Anstalten zu werden – um zurückzuhalten!

Welch' tiefe Bedeutung liegt darin! – Der Geist der Geschichte, der früher wie ein Falke in den steinernen Laubkronen der Kathedralen nistete, hat sich von da entfernt und auf den Mansarden-Dächern von Versailles niedergelassen, dann eine Zeit lang auf den Wallböschungen und Redouten des Ehrenbreitstein gehorstet, und jetzt flattert er verwildert und unruhig mit heiserem Schrei, der wie der Pfiff einer Locomotive gellt, über dem Zellengefängnisse von Bou-Mazas.

Ein solcher moderner Riesenbau ist es, zu dem wir den Leser führen. Er erhebt sich in einer abgelegenen Gegend der Residenz, nach hinten hinaus den alten verfallenden Stadtwallen nahe. Hohe fensterlose Mauern, lange Flügel, minaretartige Thürme, so dünn wie Schilfrohr an den Flanken … Das Ganze sieht aus wieder verschlossene Palast eines bösen Zauberers in einem morgenländischen Märchen. Die durch hohe Mauern getrennten Höfe im Innern, in denen kein Grashalm keimt, sind von unsäglicher Oede, und nicht besser sind die kalten langen Gänge, so sehr sie auch immer durch ihre Helligkeit und Reinlichkeit den Stolz des Herrn Directors der Anstalt und des Herrn Inspectors bilden. –

An den Verbindungsstellen dieser Gänge schreiten schweren, langsamen Schrittes Schildwachen auf und nieder; unhörbar gleiten die Aufseher in weichen Filzschuhen an den Zellenthüren daher; durch die vergitterten Fenster, die über den schweren Eichenbohlen dieser Thüren angebracht sind, tönen schnurrende Räder oder Geklopf und Geraspel der arbeitenden Gefangenen d'rinnen.

In einer solchen Kerkerzelle dieses unermeßlichen Gebäudes hat Manfred die Nacht zugebracht. Sie liegt in dem Flügel, der für die Untersuchungs-Gefangenen bestimmt ist und in welchem zugleich das Instructions-Gericht seinen Sitz hat. Hier herrscht nicht jenes öde, nur von dem Geräusch der Zwangsarbeit unterbrochene ›todtmachende‹ Schweigen, welches die moderne Grausamkeit erfunden hat; hier gehen Wächter und Gensd'armen aus und ein; wartende Zeugen, die vernommen werden sollen, stehen vor den Thüren der Gerichtszimmer und sprechen zusammen; im Hintergrunde tönt aus einer der Gefängnißzellen von einem wahren Gießkannenbaß gesungen das Lied: ›Ich bin ein Preuße‹ u. s. w., und obwohl ein Schließer mehrmals drohend an die Thür des Sängers geklopft hat, läßt dieser sich den Ausdruck seines Patriotismus nicht verkümmern. –

Gefangene, Verbrecher, Trunkenbolde, Alle, welchen eine stille Ahnung sagt, daß sie sich nicht ganz mehr im Vollbesitz dessen befinden, was man die öffentliche Achtung nennt, geberden sich als ausgezeichnet gute Patrioten, begeistert loyale Unterthanen. Es ist in einem solchen Menschen ein natürlicher Drang vorhanden, sich festzuklammern an das, was einen Charakter der Gemeinsamkeit für Alle hat; er will ein Zeichen haben, in dem er sich mit jedem Anderen gleich stellen darf.

Aber kehren wir zu unserem Freunde zurück, treten wir in die letzte der Thüren zur Linken des langen Ganges ein; es ist Manfred's enges, trübseliges Schlafkämmerlein. Der junge Mann liegt angekleidet auf der Decke des niederen Lagers, welches aus Gußeisen gemacht ist … Die Stätte des Schlummers, die weich und warm umfangen soll, ist aus eisernen Stangen, dem Ausbund alles Harten und Kalten, geschmiedet … es ist das auch eine sinnige Erfindung des neunzehnten Jahrhundertes.

Manfred liegt da, blassen Antlitzes, das Auge eingesunken, aber glühend und glänzend, als läge er im Fieber. Er hatte eine furchtbare Nacht durchlebt. Ein ungeheurer Umschwung in seinen Gefühlen, in seiner Lage hatte sich seit dem gestrigen Tage in ihm vollzogen: ein Umschwung wie vom Leben zum Tode, vom Himmel zur Hölle; gestern noch war er im tiefsten Rausche des Entzückens und heute der Verzweiflung nahe; gestern ein Gott und heute ein gebrochener Mensch, der sich den Tod ersehnte. –

Und woher kam dieser Umschwung? Das ist rasch und leicht erzählt. Gestern hatte er vor Constanze Merwing auf den Knieen gelegen und ihre Hand mit Küssen bedeckt in wahnsinniger Leidenschaft; denn sie hatte ihm gesagt:

»Manfred, man will meinen Ruf verderben, indem man mir eine verbrecherische Neigung für Sie Schuld giebt; ich habe nur Ein Mittel, mich zu retten und dieses Mittel …«

»Und dieses Mittel?« hatte er stockend und erbleichend gefragt.

Constanze hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und ihm tief in's Auge gesehen; dann hatte sie leise, so leise, daß es kaum hörbar war, gesagt: »Es liegt in einem unbegränzten Vertrauen, welches ich zu Ihnen habe, Manfred.«

»O, das dürfen Sie, das dürfen Sie haben!« hatte er leidenschaftlich ausgerufen – »fordern Sie mein Leben!«

»Ihr Leben nicht, Manfred – aber – Ihre Hand. Sie müssen sich augenblicklich mit mir trauen lassen!«

Das hatte sie gestern zu ihm gesprochen; das war es, was ihn ganz überwältigt und dann himmelhoch erhoben hatte; was ihn später, als er Constanzens Wohnung verlassen, umhergetrieben in den einsamen Pfaden und Gebüschen der Tiefenthaler Anlagen, mit Bewegungen und Mienen, als sei er ein Verrückter.

Und heute?

Ja heute war das alles anders geworden.

Man hat bemerkt, daß eine Gefangenschaft einen für das Leben zurückbleibenden, die Seelenkräfte vergiftenden Einfluß auch auf die energischsten Geister übe. König Franz I., versichert ein geistreicher Geschichtsschreiber, hat, trotz alles Aufgebots von Prahlerei, weder in sich selbst die frühere Zuversicht auf sein Glück, noch in der Meinung der Völker den alten Zauber seines Namens wieder gewinnen können, nachdem er einmal die Kerkerluft der Madrider Haft geathmet. So sind Robespierre, so der Prinz von Condé, so der Cardinal Fürstenberg vom Glauben an ihr Glück, von ihrem alten Erfolg, von ihrem Stern verlassen worden, nachdem sie einmal gefangen gewesen.

Auf unseren armen gefangenen Manfred hatte die Kerkerluft eine ähnliche Wirkung geübt; sie hatte ihn tief entmuthigt. Zuerst freilich hatte er mit heiterer Ruhe und ohne Widerstreben sich verhaften lassen, seine wenigen harmlosen Papiere versiegeln sehen, und war den Dienern der Gewalt ohne Frage gefolgt, wohin sie ihn führten. Der Gedanke an Constanze war noch der einzige, den er fassen konnte, und in diesem Gedanken war er ja namenlos glücklich. Aber einmal zwischen den öden vier Wänden, einmal so ganz, so mutterseelenallein mit sich und der immer tiefer ihn umhüllenden Dunkelheit des Abends, der Nacht, der Mitternacht – war die glühende Purpurröthe auf den Wangen seiner Glückshoffnung tiefer und tiefer erblaßt und ›überkränkelt‹ von der fahlen Blässe des Sterbens.

Es war ihm, als erwache er aus den Phantasieen eines Trunkenen zur Nüchternheit. Er – sagte er sich selbst – und Constanze Merwing! welche Thorheit! wie konnte er, wie konnte sie nur daran denken? Mußte er nicht als besonnener Mann die leichtsinnige Aufwallung des Mädchens, das in ihr Unglück rannte, zurecht und zurück weisen? Welche Partie wäre das gewesen! Sie, mit ihrer für ihn unübersehlichen Bildung durch das Leben, durch Reisen, durch Unterricht: und er, mit der ganzen unglaublichen Unwissenheit eines gewöhnlichen malenden Kunstjüngers ausgerüstet! Sie mit ihrem Gewohntsein an die vornehmsten Formen der Existenz – und er mit seiner Unbehülflichkeit! Sie mit dem kecken, beinahe trotzigen Selbstbewußtsein – und er mit seiner blöden Scheu! Sie eine Fürstin im Hermelin geboren, und er ein – ja, geradezu ein Nichts – denn ein Maler, ein rechter Künstler war er ja nicht einmal, das erkannte er selbst ja am besten und so schmerzlich tief! Und doch, das alles hätte ja ausgeglichen werden können; Abgründe, eben so groß und tief, wie der, welcher zwischen ihm und Constanzen lag, waren schon überbrückt worden; aber das war es ja gerade, diese Brücke fehlte ja gerade: die Liebe! –

Ja, hätte er glauben können, daß Constanze ihn auch nur ein ganz klein wenig liebe, daß sie nur den Schatten einer keimenden Neigung für ihn hege: dann hätte Alles gut werden können; aber so ohne alle Neigung für ihn – nein, nein, tausend Mal nein! er wäre ein Ungeheuer gewesen, hätte er Constanzens Antrag angenommen und zugegeben, daß sie sich unglücklich mache, nur um einer ganz gemeinen, abscheulichen, verruchten Klatscherei zu begegnen, die ja doch nach wenig Tagen sich an ihrer eigenen Nichtigkeit erschöpft und verloren haben müßte und unglücklich – Constanze unglücklich, nein, das sollte sie nicht werden, dieses Wesen, dem er allen Segen des Himmels, alle Freuden der Erde wünschte, von der ihm jedes Haar ihres Hauptes mehr werth war, als alle Schätze der Welt am wenigsten durch ihn sollte sie unglücklich werden!

Und sollte er ertragen, daß sie sich einst mit blutendem Herzen an ihn gefesselt fühle, wenn sie den spöttischen Blicken ihrer Standesgenossen begegne, die sie ›Frau Wallpott‹ nennen würden? Nein, dazu war er denn doch zu stolz! Oder wenn sie vor seiner Staffelei stehe und seinen Arbeiten zusehe und sich dann heimlich sage, daß sie einen beschränkten Menschen zum Manne habe, der sich gutmüthig und geduldig, mit dem Fleiße, welcher bornirten Köpfen eigen, abplage und es doch zu nichts Rechtem bringe: das, nein, das sollte sie nicht sich sagen, den Gedanken ertrug Manfred nicht – lieber zehntausend Mal den Tod!

In solchen Betrachtungen durchwachte er die Nacht und wüthete förmlich gegen die Erinnerung seines ach! so bald verschwundenen Glückes, und dabei wühlte er sich immer tiefer in seine Verzweiflung ein und klagte sein Schicksal an, das ihn so raffinirt grausam verfolge; ja, er klagte mit der blinden, kindischen Ungerechtigkeit des Unglücklichen Constanzen selbst an – warum war sie auch ein so viel anderer Geist als ein gewöhnliches Mädchen, und warum war sie eine Gräfin Merwing? Hätte er sie nicht tausend Mal mehr geliebt, auf Händen getragen, als irgend ein Anderer auf der Welt, der ihr tausend Mal gleich gewesen an Geist und Geburt – hätte er sie nicht wie eine Heilige verehrt, vergöttert – o, es war um wahnsinnig zu werden!

Doch sein Entschluß stand fest. Als in der ersten Frühe des Morgens der Schließer in seine Zelle trat, raffte er sich auf und verlangte Schreibzeug. Der Schließer versprach, beim Inspector die Erlaubniß nachzusuchen, und kehrte auch ohne sehr lange Zögerung mit dem Verlangten zurück. Manfred schrieb an Constanze: er schüttete alles vor ihr aus, was ihm das Herz abdrückte. Er wies ihren Antrag zurück.

Um acht Uhr war der Brief vollendet. Der Schließer hatte versprochen, um diese Stunde ihn abholen zu wollen, und gegen ein Geldstück machte er sich jetzt verbindlich, ihn ohne Aufschub an seine Adresse befördern lassen zu wollen.

Um neun Uhr erhielt Constanze Merwing das Schreiben: es war erbrochen und lag in einem neuen, mit dem Siegel des Gerichts verschlossenen Couvert.

Als Manfred den Brief abgesandt hatte, wurde er ruhiger. Er begann jetzt über seine Verhaftung und deren Veranlassung nachzudenken; mit der eigenthümlichen, sanguinischen Zuversicht, womit fast jeder, der zum ersten Male verhaftet wird, einer Befreiung nach wenig Stunden entgegensieht, glaubte auch er nicht, daß etwas Anderes als ein Mißverständniß die Ursache seiner Gefangenschaft sei, und erwartete sofortige Entlassung, sobald er nur einmal vom Richter vernommen worden.

Unterdeß glitt sein Auge ausdruckslos über die Wände, auf denen der nicht zu erstickende menschliche Schaffenstrieb in seinen Vorgängern sich in allerlei schlechten Kohlen-Zeichnungen bethätigt hatte: in Köpfen mit gewaltigen Nasen davor, Eseln mit fabelhaften Ohren und einer Reihe Soldaten, deren perspectivische Anordnung überaus viel zu wünschen übrig ließ. Solch' phantastisches Durcheinander war am besten dazu geschaffen, um einzuschläfern, und in der That schlossen sich Manfred's überwachte, schmerzende Augen endlich zu einem halben Schlummer.

So verflossen ihm ein Paar Stunden.

Um eilf Uhr wurde er plötzlich erweckt. Der Schlüssel drehte sich im Schlosse seiner Thür, und der Schließer trat ein. Er kündigte Manfred an, das er ihm sogleich zu folgen habe.

»Geht es zum Verhör?« fragte Manfred.

»Noch nicht,« antwortete der Schließer; »es ist ein Herr da …«

»Mein Vater?!«

Der Wärter zuckte die Achseln.

»Kommen Sie nur,« sagte er, gehen Sie voran, hier rechts hinab.«

Manfred ging den Corridor entlang, dann am Ende desselben eine Treppe hinunter, die ihn abermals in einen langen Corridor führte, der jedoch Spuren eines häuslichen Bewohntseins, eines sich frei, ja, nur allzu frei ergehenden Familienlebens zeigte; denn es waren Kinder da, die sich in dem Gange rauften, und Küchenabfall lag umher, und ein paar Mägde blickten neugierig aus einer Thür und sahen dem Gefangenen nach; es war offenbar ein Theil des Gebäudes, der außerhalb der ›Clausur‹ lag, die Privatwohnung eines der Aufsichts-Beamten. Daß aber hier alle Kerker-Disciplin darum noch nicht aufhöre, sah Manfred an dem strammen Wesen zweier Wärter, die schweigend auf einer Strohmatte vor einer der Thüren standen und offenbar Schildwache hielten. An diese Thür wurde unser Gefangener denn auch wirklich geleitet; sein Schließer öffnete sie vor ihm und ließ ihn eintreten, blieb selbst jedoch zurück.

Manfred sah sich in einer anständig möblirten Stube, die jenen bescheidenen Luxus aufwies, wie ein subalterner Beamter ihn seinem Empfangzimmer zu geben vermag. Ihm gegenüber zwischen den beiden Fenstern stand ein Sopha, und auf diesem ruhte in nachlässiger Stellung ein ihm fremder Mann von noch ziemlich jugendlichem Aussehen; er war schlank und schmächtig gebaut, sein Gesicht hager und gelb; auf seine Kleidung hatte er augenscheinlich viel Sorgfalt verwendet. Wenn er sich so wandte, daß das Licht auf seine Züge fiel, sah man freilich, daß sie älter und runzlichter waren, als sie im ersten Augenblick schienen, daß sein Schnurrbart nur so schwarz war, weil er ihn gefärbt hatte, und daß er falsche Haare zu Hülfe gerufen, um die Plünderungen, welche die Jahre sich auf seinem Scheitel erlaubt, zu verdecken. Sein Wesen und seine Bewegungen kamen hinzu, um Manfred zu zeigen, daß er ein vollendetes Bild des cidevant jeune homme vor sich habe.

Die Sprache des Fremden hatte etwas Affectirtes; aber unser junger Maler war ein viel zu harmloser Menschenbeurtheiler, um dieß eben so bald heraus zu fühlen, oder um von vorn herein der ziemlich stark aufgetragenen Bonhommie zu mißtrauen, womit der Mann im Sopha ihn bewillkommte.

Außer dem letzteren war noch eine Person in dem Empfangzimmer des Inspectors anwesend; sie stand seitwärts von dem Fremden, die verschränkten Arme auf die Rückenlehne eines Stuhles gestützt und nachlässig den Oberkörper darauf schaukelnd. – Diesen Mann erkannte Manfred auf der Stelle wieder: es war sein Bekannter von Schloß Melsenz her, der Doctor Hugo Mellheim.

» Ah voilà pour deux!« sagte der Fremde im Sopha kopfnickend zu Manfred. »Setzen Sie sich, mon ami,« fuhr er fort, herablassend auf einen Stuhl deutend und in einer Weise, als sei er ein alter Bekannter Manfred's.

Dieser, der begreiflicher Weise nicht in der Stimmung war, auf ein solches Wesen mit Bereitwilligkeit einzugehen, blieb stehen, grüßte Mellheim mit einer Verbeugung und fragte auf jenen deutend: »Wohl der Herr Instructionsrichter?«

»O nein,« lächelte Mellheim spöttisch, »der Herr ist nicht ex officio, sondern nur als Dilettant hier, aus angeborener Theilnahme für das Loos der Gefangenen, so à la Appert! …«

»Und diese Theilnahme ist in der That so groß,« fiel der Fremde, Beide scharf fixirend und sehr ironisch, ein, »daß ich Ihretwegen riskire, von einem so geistreichen Manne wie Herrn Doctor Mellheim verspottet zu werden!« – Zu Manfred gewandt, fuhr er dann fort: »Der Inspector hat Sie auf meine Bitte herbeiholen lassen; ich möchte Sie nämlich kennen lernen und sprechen, um zu sehen, was ich für Sie und –« er deutete auf Mellheim – »den sarkastischen Herrn dort thun kann; ich nehme in der That Antheil an Ihnen, Sie sind ein Paar unbesonnene junge Leute …«

»Ich muß Sie bitten, mein Herr …« fiel Manfred ein.

»Hören Sie mich bis zu Ende – unbesonnene junge Leute, die Mitleid verdienen, weil das Verbrechen, das sie in eine so heillose Lage brachte, doch guten Theils nur Leichtsinn ist.«

»Wissen Sie denn, was mein Verbrechen ist?« fragte Manfred, innerlich auch dadurch verletzt, daß er mit Mellheim so ganz auf ein Niveau des Verbrechens und der Heillosigkeit der Lage gesetzt wurde; »ich muß Ihnen gestehen, Sie wissen dann mehr als ich selbst.«

»Sie werden doch nicht zu Ihrer Vertheidigung die Taktik des Läugnens adoptiren?« fragte wie überrascht der Fremde. »Daran thäten Sie sehr unrecht, mon cher

»Ich habe nichts zu läugnen,« sagte Manfred stolz.

Der Fremde zuckte die Achseln.

»Darf ich fragen, wessen Theilnahme ich so glücklich bin, mir zugewendet zu sehen?« fuhr Manfred mit einer Bestimmtheit fort, der nicht mehr auszuweichen war– der Fremde wurde ihm immer unangenehmer.

»Ich bin Graf Julian Merwing!«

Manfred machte eine leichte Verbeugung mit dem Kopfe. Trotz seines Mangels an Weltklugheit begriff er sehr wohl, daß er vor diesem Menschen auf der Hut sein müsse.

Mellheim hatte während des Vorigen Manfred mit einem gewissen schadenfrohen Augenblinzeln angesehen. Jetzt sagte er zu diesem gewendet:

»Wissen Sie in der That nicht, weßhalb Sie verhaftet sind?«

»Nein! – doch denke ich mir, auf den Grund irgend einer Aussage von Ihnen hin, Herr Mellheim!«

»Aussage? Was bedurfte es da einer Aussage von mir? Haben Sie mir nicht in Melsenz Ihren Paß gegeben?«

»Allerdings; die … die Gräfin wünschte es –« wollte er hinzusetzen, aber er verschluckte die Worte, er wollte Constanzen auch in Gedanken von diesen Menschen fern halten.

»Nun wohl,« fuhr Mellheim fort, »da Sie mir Ihren Paß gaben, so hat man ihn auch bei mir gefunden – das ist logisch, nicht wahr?«

»Und das ist mein Verbrechen?«

»Scheint Ihnen das nicht groß genug? Zum Teufel, Sie sind naiv!« antwortete Mellheim mit widrigem Lachen; »dem Doctor Mellheim zur Flucht Beihülfe geleistet zu haben, das ist ihm nicht genug! Und da Sie mir Ihren Paß gegeben haben, so müssen Sie doch auch ein Gesinnungs-Genosse von mir, ein Rother, ein Mitglied des großen Todtenbundes der Rache sein, das ist doch klar – glauben Sie, unsere Justiz habe nicht auch ihre Logik, so gut wie wir Beiden? O, die hat ihre ganz besonderen Kettenschlüsse, ihr barbari und …«

»Ihre Barbarei manchmal obend'rein,« unterbrach Graf Julian. »Ja, Herr Wallpott, was Doctor Mellheim da bemerkt, ist nur zu wahr, und wenn Sie sich auch schuldlos glauben, so werden Sie doch Ihre Unbedachtsamkeit mehrere Jahre im Kerker zu büßen haben. Deßhalb dauern Sie mich, und dazu kommt, daß ich von jemand, der Theil an Ihnen nimmt, gebeten bin, meinen Einfluß zur Linderung Ihres Schicksals aufzubieten; auch für Mellheim möchte ich etwas thun; denn auch ihn halte ich nicht für so strafwürdig.«

»Sie sind sehr gütig, Herr Appert – Herr Graf, wollte ich sagen!« warf Mellheim keck dazwischen.

Julian Merwing fixirte ihn wieder mit seinem stechenden Blicke. Dann fuhr er, ohne sich beirren zu lassen, fort:

»Das Erste, was ich Ihnen nun rathen muß, damit ich überhaupt etwas für Sie thun kann, ist rückhaltlose Offenheit in den Verhören; rückhaltlos, verstehen Sie? Glauben Sie nicht, daß Sie Rücksichten zu nehmen, noch auch, daß Sie irgend jemanden zu schonen haben: Sie sind bei Gott nicht in der Lage, Rücksichten auf Andere nehmen zu können … daß es auch Ihnen an den Kragen geht, mon très cher,« setzte er zu Manfred gewendet hinzu, darüber täuschen Sie sich ja nicht! … also keine Hinterhalte, keine Restrictionen in Ihren Bekenntnissen zu irgend Jemandes Gunsten, es sei auch, wer es sei; Sie müssen vor Allem durch offenes bußfertiges Bekenntniß das Wohlwollen Ihrer Richter gewinnen.«

Manfred fixirte nun seinerseits den Grafen mit einem sehr mißtrauischen Blicke. Er ahnte, worauf das hinaus sollte; und zugleich auch stieg ein Strahl einer ganz neuen Hoffnung in ihm auf.

»Auf meine Offenheit können Sie sich verlassen, Herr Graf, um so mehr, als ich nicht wüßte, daß durch meine Bekenntnisse irgend jemand auch nur im Geringsten bloßgestellt werden könnte.«

»Sie wollen sagen, Sie haben keine politischen Mitschuldigen. Ich glaube es Ihnen; Sie sind dadurch in die Sache Mellheim's verwickelt, daß Sie in Melsenz waren und ihm Ihren Paß gaben. Die Hauptsache ist also, daß Sie mit dem Geständnisse alles dessen herausrücken, was in Melsenz vorgegangen, an jenem Abende der Flucht Mellheim's …«

»Darüber werde ich allerdings sehr offen sein; denn da ich zu Fuße von hier aus hingereist war, kam ich todmüde an und habe mich sogleich schlafen gelegt …«

»Das ist nicht wahr, Sie …«

Nicht wahr?! Wissen Sie es besser, Herr Graf? Haben Sie mich etwa dort beobachtet in Melsenz?«

Der Graf schoß einen wüthenden Blick auf Manfred; er wollte einige heftige Worte ausstoßen, aber er bezwang sich und sagte sehr ruhig und sehr leise:

»Desto besser für Sie, wenn es so ist! Aber sehen Sie sich wohl vor … wenn Sie nicht durch Ihre volle Offenheit meine Sympathie verdienen, mögen Sie Ihre fünf oder zehn Jahre brummen!«

»Er ist geärgert, daß ich Constanzen durch mein Zeugniß nicht bloßstellen will,« schloß Manfred mit Blitzesschnelle; »also bedarf er meines Zeugnisses noch, um sie bloßgestellt zu sehen; also ist sie bis jetzt noch nicht compromittirt; – es kann noch Alles gut gehen!«

Unter ›gut gehen‹ verstand Manfred für Constanze die Rechtfertigung vor dem Klatsch der Welt und für sich das Urtheil auf fünf oder zehn Jahre Kerker!

»Und Sie?« wandte sich Julian Merwing an Mellheim.

»Ich – ich bin zu fest von der durchaus uneigennützigen philanthropischen Theilnahme des edlen Grafen Julian Merwing für uns arme Teufel überzeugt, als daß ich nicht seine Rathschläge auf das Gewissenhafteste befolgen sollte,« antwortete der Demokrat mit bitterer Ironie und einer spöttischen Verbeugung.

» Mon Dieu, Ihr seid ein Paar verstockte Gesellen!« sagte Julian Merwing unmuthig. »Aber ich will mich in meinen Vorsätzen dadurch nicht irre machen lassen. Sie, rother Doctor, haben ja auch schon, so viel ich weiß, in Ihrem ersten Verhöre ganz offene, aufrichtige Antworten gegeben, auch über die leidige Theilnahme einer gewissen mir verwandten Dame an Ihrer Flucht und über das etwas excentrische Verhältniß derselben Dame zu diesem hübschen jungen Bösewicht hier …«

»Verzeihen Sie, Herr Graf, darüber habe ich keine Silbe ausgesagt,« fiel Mellheim, zum ersten Male mit dem Ausdrucke vollen Ernstes redend, ein.

Manfred hätte Mellheim um den Hals fallen mögen für diese Worte. Er athmete tief auf.

»Nicht?« versetzte Julian Merwing mit dem Anschein größter Kaltblütigkeit, aber mit einem Zucken um den Mund, das Manfred nicht entging … »Nicht? Nun, das machen Sie, wie Sie wollen; meiner Nichte kann es gleichgültig sein, die ist Gottlob außerhalb des Bereiches Ihrer Aussagen,« setzte er hinzu, indem er stolz den Kopf in die Höhe warf, als seien diese Worte nichts denn der Ausbruch des Cavalier-Hochmuthes. Und doch lag ihnen eine doppelte Berechnung zu Grunde. Sie sollten reizen – und zugleich über die Tragweite der Geständnisse, welche er hervorlocken wollte, beruhigen. Dann fuhr er fort:

»Reden wir von etwas anderem; erzählen Sie mir von sich, geben Sie mir einige Daten über Ihr früheres Leben, Ihre Jugend; die Gegenwart eines Menschen läßt sich nur aus seiner Vergangenheit erklären, begreifen und entschuldigen, wenn sie wie bei Ihnen – vous en déplaise – der Entschuldigung bedarf. Um für Sie wirken zu können, muß ich Ihren ganzen Lebenslauf darlegen können. Erzählen Sie mir also – Sie, Herr Wallpott, zuerst. Wo wurden Sie geboren?«

Manfred blickte den Grafen, der sich nachlässig auf seinem Polster dehnte und streckte und seine Nagelspitzen zu reinigen begann, mit seinen aufrichtigen dunklen Augen eine Weile groß an. Es war, als hätte seine Lage dem jungen Manne alle Kräfte des Scharfblickes und der Combinationsgabe verdoppelt. Er durchschaute diesen Grafen völlig. Und in der That, hätte Julian Merwing gewußt, was gestern zwischen Manfred und seiner Nichte vorgefallen, wie gut Manfred über die Urheber des Complottes, die Constanzens Ruf vernichten wollten, um die Neigung des Erbprinzen für sie zu ersticken, unterrichtet war, er hätte nicht eine von seinem Gegner so leicht zu durchschauende Taktik befolgt.

Jetzt wollte dieser intriguante Graf Julian ergründen, ob er, Manfred, in der That ein geborener Merwing sei; das war offenbar; zum guten Glücke hatte ja Ulrici Manfred noch gestern, am Morgen, während sie zu Constanzen gingen, mitgetheilt, was er, Ulrici, um der Gräfin Widersacher in die Irre zu führen, ausgesagt …

Manfred besann sich jetzt nicht lange. Entschlossen antwortete er:

»Ich bin auf dem Lande geboren – wo? das ist mir unbekannt geblieben; mein Vater spricht nicht gern über die Zeit meiner ersten Kindheit; auch war ich nicht immer bei ihm; ich erinnere mich eines Pfarrhauses unter grünen Obstbäumen, im Schatten einer dunklen, moosigen Dorfkirche, wo ich mich als Kind umhertummelte. Den Namen des Ortes habe ich jedoch nie erfahren können; mein Vater weicht, wie gesagt, meinen Fragen aus; es ist, als ob etwas Geheimnißvolles darum liege.«

Graf Julian Merwing horchte hoch auf.

»Können Sie mir Ihr genaues Alter angeben?« fragte er.

»Auch das ist mir nicht möglich,« antwortete Manfred mit diplomatischer Vorsicht.

»Haben Sie Unterstützungen, oder hat Ihr Vater Erziehungsgelder bezogen, die ihm für Sie ausbezahlt wurden?«

»Das weiß ich nicht: mein Vater hat mir darüber keine Mittheilungen gemacht; doch habe ich freilich bemerkt, daß er über Geldsummen gebot, die ihm nicht aus dem Erlös seiner Arbeiten kommen konnten.«

Manfred wurde es, während er sich so zu diesen falschen Angaben zwang, immer beklommener und peinlicher zu Muthe; er zog sein Tuch hervor und trocknete die Stirn, auf der schwere Tropfen zu perlen begannen, und dabei gestand er sich, daß das Lügen eine furchtbar schwere Sache sei.

Mellheim hatte bei diesen Mittheilungen Manfred's gespannt und offenbar verwundert zugehört: aber er hatte, durch einen ängstlichen Blick Manfred's bewogen, den Ausruf unterdrückt, daß ihn diese Geschichte sehr lebhaft an sein eigenes Schicksal erinnere.

Graf Julian verstummte; er war für einen Augenblick in Gedanken versunken. Plötzlich öffnete sich rasch eine Seitenthür; ein Mann in halber Militärtracht trat mit einer gewissen Aufregung ein und winkte dem Grafen, zu ihm in die Brüstung des Fensters zu kommen, das zwischen dem Sopha und dem Eintretenden lag.

»Was wollen Sie, Inspector?« fragte Julian Merwing unmuthig über die Störung.

»Nur ein Wort, Herr Graf!«

Julian trat zu ihm; der Inspector machte ihm flüsternd eine kurze Mittheilung.

Diesen Augenblick benutzte Manfred. Mit Blitzesschnelle stand er neben Mellheim und raunte ihm zu:

»Ein Compromiß – ein Geheimniß gegen ein Gelöbniß! wollen Sie?«

Mellheim streckte ihm die Hand hin und nickte mit dem Kopfe.

»Sie sind der Merwing, den er sucht. Erfährt es der Graf, so sind Sie verloren – Sie stehen zwischen ihm und einem Erbrecht. Diese Gefahr nehme ich auf mein Haupt, ich gebe mich für den Sohn seines Bruders aus, wenn Sie dafür der Gräfin Ruf schonen.«

Mellheim blickte Manfred mit dem Ausdruck der größten Ueberraschung an; aber er konnte nicht antworten, denn der Inspector trat trennend zwischen Beide. Graf Julian hatte unterdeß nach seinem Hute gegriffen und begann seine Handschuhe anzuziehen.

»Ich will lieber nicht mit ihr zusammentreffen,« sagte er halblaut zum Inspector.

»Auf Wiedersehen,« wandte er sich dann zu den beiden Gefangenen … »Sie, Herr Wallpott, mon cher, vergessen Sie nicht, daß Sie Ihre sehr unglaubliche Schläfrigkeit in Melsenz, die in der nächsten Nähe meiner schönen Nichte sehr ungalant war, werden beschwören müssen …«

Ich werde sie beschwören, Herr Graf!« antwortete Manfred, sich stolz aufrichtend und laut, aber dunkelrothen Gesichts und klopfenden Herzens.

»Was werden Sie beschwören, Manfred?« fragte in diesem Augenblicke eine unendlich wohltönende weiche Stimme hinter ihnen – die Thür war rasch aufgegangen, und Constanze Merwing stand auf der Schwelle; hinter ihr zeigte sich mit leuchtendem Gesicht Peter Paul Wallpott, der wackere Künstler, und ein milde blickender ältlicher Herr mit einem Papiere in der Hand.

»Herrn Appert hatten wir: voilà Mistreß Elise Fry!« sagte spöttisch Mellheim bei diesem Anblick.

Manfred's Röthe verwandelte sich in dem Augenblicke, wo er Constanzens Stimme vernahm, in eine vollständige Leichenblässe: er erzitterte von der Scheitel bis zur Sohle und faßte nach der Lehne des Sessels, um einen Halt zu gewinnen.

Constanze trat dicht vor ihn.

»Was wollen Sie beschwören, Manfred?« wiederholte sie.

»Daß ich Sie an jenem Abende in Melsenz gar nicht gesehen habe, gnädigste Gräfin,« antwortete Manfred, indem er alle Kraft aufbot, um möglichst laut und entschieden zu sprechen; aber leise und rasch setzte er hinzu: »Sie sind gerettet – es ist noch nichts verloren – Mellheim schweigt, und ich …«

»Und Sie schwören um meinetwillen einen Meineid! Und das soll ich ruhig geschehen lassen?«

»Gräfin,« sagte Manfred, in der Aufregung furchtbarer Leidenschaft. »Gräfin, lassen Sie mich Sie vor Ihrem entsetzlichen Geschicke retten – Ihre That der Verzweiflung, Sie sollen sie nicht thun – lieber gebe ich durch einen falschen Eid meine Seele verloren!«

»Manfred! Manfred!« rief Constanze aus, und ein paar Thränen perlten über ihre Wangen – »wenn Sie wüßten, wie glücklich Sie mich machen …«

Manfred sah Sie verwundert an. Er verstand sie nicht.

»Sie lieben mich!« sagte sie mit unbeschreiblicher Innigkeit.

»Und daran haben Sie gezweifelt?« stotterte er und blickte mit den großen dunklen Augen zu ihr auf, daß sie die ihren zu Boden schlug.

»Wie sollte ich nicht!« flüsterte Constanze – »war es nicht ein zu großes Glück für mich, als daß ich daran hätte glauben können? Nein, meine Hand bot ich Ihnen, weil ich mußte. Sie nahmen sie, weil – nun, welcher junge Mann in Ihren Verhältnissen hätte sie nicht genommen? Daß Sie mich liebten, o, hätte ich das ahnen können, Manfred, wie viel leichter wird mir dann das Wort geworden sein, welches ich gestern zu Ihnen sprechen mußte, und das mir beinahe das Herz abstieß! Aber ich war eine Thörin – Sie lieben mich, und ich, ich will Sie wieder lieben dafür, ja, ich liebe Sie jetzt schon, Manfred, in dieser Leidenschaft, in diesem stolzen, heroischen Ankämpfen wider Ihr eigenes Glück … o, reden Sie mir nicht mehr von Rettung, von Ausflüchten …«

»Um Gottes willen, Gräfin …«

»Ihr Brief, der erbrochen und gelesen ist, macht ja ohnehin Alles vergeblich! O, lassen Sie die Menschen sagen, was sie wollen, mein Freund – kommen Sie, wir lassen diese Stadt für immer hinter uns – wir fliehen in die Ferne, die Fremde …«

»Ist es denn möglich, ist es denn wirklich möglich, solch ein Glück …?« sagte Manfred, dessen Augen jetzt ebenfalls feucht wurden und dann einen Strom von Thränen über beide Wangen nieder rinnen ließen.

»Ihre Unterredung wird gegenseitig sehr intim und überaus sentimental, meine gnädigste Nichte,« sagte jetzt Julian Merwing, der, weil er sich nicht mehr unbemerkt hatte entfernen können, geblieben war und mit untergeschlagenen Armen herantrat.

»Finden Sie das auffallend, mein gnädigster Onkel?

»Wenn Sie es nicht übel nehmen – beinahe!«

»Doch hoffentlich nicht anstößig bei Verlobten?«

»Verlobten?!« – Julian Merwing lachte laut auf.

»In vollem Ernst!« sagte Constanze mit stolzer Hoheit, indem sie sich von Manfred abwandte und ihrem Oheim kühn die Stirn bot.

Julian Merwing stand einen Augenblick verstummt – erstarrt, so daß eine vollständige Pause eintrat. – Herr Peter Paul Wallpott benutzte sie, um sich mit extravaganten Freudenbewegungen an den Hals seines Sohnes zu werfen.

»Nun, das nenne ich eine Mesalliance!« stammelte endlich blaß und außer sich vor Wuth Graf Julian.

»Und doch hat diese Mesalliance Niemand anders gestiftet, als mein theurer Oheim, Julian Graf von Merwing!«

»Ich! ich hätte die gestiftet?«

»Nur Sie!«

»O, bitte, erklären Sie doch …«

»Waren Sie es nicht, Julian, der vor Allen der Anwesenheit dieses jungen Mannes in meinem Schlosse zu Melsenz eine anstößige, in hohem Grade beleidigende Deutung gab?«

»Hatte ich Unrecht?« fragte Julian mit zornfunkelnden Augen.

»Ja, das hatten Sie, vollkommen Unrecht. Aber ich begriff eben so vollkommen, daß ich Sie und alle Anderen nicht davon würde überzeugen können. Was blieb mir also Anderes übrig, als Manfred zu heirathen, um mich zu retten?«

»Teufel – Sie sind ein energisches Frauenzimmer, Constanze!«

»Ich danke Ihnen für das Compliment, Julian, und nehme es an, denn ich habe es verdient. Ich habe noch mehr gethan.«

»Aber,« fiel Julian ein, »wie ist das? um der Rettung Ihres Rufes willen nehmen Sie diesen Menschen da … und dieser Mensch log ja noch eben mit bewundernswürdiger Keckheit – er war ja bereit, einen falschen Eid zu schwören, nur um Sie nicht bloßgestellt zu sehen. Das ist ja unerklärlich – es lag ja gerade in seinem Vortheile, gegen Sie auszusagen und Ihre Gunst auf den Gassen auszurufen; ein Anderer hätte Sie so viel zu compromittiren gesucht, wie er nur immer vermocht …«

Constanze warf einen gerührten Blick auf Manfred.

»Ja, so thöricht, so unvernünftig war er– ich hörte es selbst,« sagte sie mit größter Innigkeit, »daß er nicht that, was ein Anderer gethan hätte.«

»Und wollen Sie die Energie so weit treiben, sich im Gefängniß trauen zu lassen, mein gnädigste Nichte

»Hier im Gefängniß nicht, nein, in meiner Hauscapelle.«

»Sie vergessen, daß …«

»Ich vergesse nichts. Herr Manfred ist frei. Nicht wahr, Herr Instructionsrichter?«

Der ältliche Herr, der sich bisher schweigend neben dem Inspector im Hintergrunde gehalten hatte, machte eine Verbeugung.

»Allerdings,« sagte er; »die gnädige Gräfin haben eine nöthige Cautionssumme hinterlegen lassen, und nach dem Beschluß des Criminalgerichte wird Herr Wallpott der Haft entlassen; er darf auf freiem Fuße das Ergebniß der Untersuchung abwarten. Hier ist das betreffende Decret des Gerichts;« setzte er hinzu, das Papier dem Inspector des Gefangenhauses überreichend.

»Und auch Sie, Herr Mellheim,« wendete sich Constanze an diesen, seien Sie getrost. Ich will Ihretwegen den Fürsten um eine Audienz bitten. Ich weiß es wohl, er ist ein gewissenhafter Herrscher, er wird den Arm seiner Justiz nicht lähmen, aber nach Ihrem Urtheile werden Sie, das hoffe ich fest, erfahren, wie unerschöpflich seine Milde ist!«

Mellheim sah sie einen Augenblick schweigend an. Er erwachte offenbar aus tiefem Nachsinnen, in das er während aller dieser Verhandlungen versunken gewesen zu sein schien. Plötzlich faßte er sich, schritt auf Constanze zu, ergriff ihre Hand und küßte diese mit einer Heftigkeit, als ob ein inneres Gefühl ihn hinrisse.

»Ich bin ein Graf Merwing!« sagte er halblaut, so daß nur sie ihn verstand, zu ihr. »Weßhalb sagten Sie mir das nicht? Das ist etwas Anderes!«

»Haben Sie es erfahren? nun ja, es ist etwas Anderes!« antwortete Constanze lächelnd; »daß Sie es einsehen, bürgt mir für Ihre Zukunft. Für die Zukunft der Welt sind Sie kein Held geworden werden Sie einer für Ihre Zukunft, indem Sie sich selbst umgestalten. – Uebrigens,« fuhr Constanze in demselben halblauten Tone, so daß kein Andrer sie verstand, fort, – »da Sie es nun einmal wissen, will ich Ihnen ausliefern lassen, was sich auf Ihre Geburt bezieht und womit Sie sie beweisen können. Ich glaube, wenn Sie es schwarz auf Weiß in der Hand haben, daß Sie ein geborener Reichsgraf sind, wird Ihr politischer Enthusiasmus so bald überlegener und freier Beurtheilung der Dinge weichen, daß Sie desto eher das Wohlwollen und die Milde der Richter gewinnen.«

»Damit sagen Sie mir eigentlich, schöne Cousine,« antwortete Hugo Mellheim, »daß der Kern meines politischen Enthusiasmus das alte: › ote-toi de là que je m'y mette!‹ gewesen!«

Er lachte dabei ohne im mindesten eine Spur von Beleidigtsein zu verrathen.

Sie wandte sich von ihm ab.

»Ihren Arm, Manfred. Mein Wagen erwartet uns unten. Ihr Vater begleitet uns, ich setze Sie beide an seiner Wohnung ab.«

Herr Peter Paul verbeugte sich höflichst geschmeichelt und sehr tief. Er verbeugte sich nicht allein vor der Gräfin Merwing, sondern zugleich vor seinem Sohne; er war gränzenlos stolz auf seinen Sohn und fühlte etwas wie Ehrfurcht vor seinem Manfred.

Constanze, Manfred und der Maler gingen; Niemand als der Inspector, Mellheim und Graf Julian blieben zurück.

»Nun, Herr Graf Julian Merwing, haben Sie mir noch etwas zu sagen?« fragte Mellheim mit erhobener Gestalt und einer so bewußt stolzen Haltung, wie er sie noch nie in seinem Leben angenommen hatte, auch wenn er auf der Rednerbühne gestanden, umbraust von tausend Hurrah's seiner Urwähler und souverainen Proletarier.

»Ihnen? Ach, gehen Sie und lassen Sie sich hängen.«

Julian schritt der Thür zu.

»Das werde ich bleiben lassen,« rief ihm der Gefangene nach … » n'en doutez pas, mon cher comte, wir werden uns wiedersehen!«



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