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Zweiter Band.


Erstes Capitel.
Unglück über Unglück.


Einige Tage waren verflossen. Manfred hatte eine erste vorläufige Skizze von Schloß Melsenz aufgenommen und war damit heimgekehrt. Er saß in seinem Atelier. Die Staffelei war bei Seite geschoben, ein großer Tisch an's Fenster gerückt, und ein Reißbrett bot dem jungen Künstler ein großes ausgespanntes Blatt des schönsten Zeichnenpapiers dar, als ob es nichts Besseres verlange, denn aus dem reinen weißen Nichts sich in eine Welt von Contouren, Schattirungen, Farben und Tuschen verwandeln zu lassen, bis ein Stück romantischer und entzückender Landschaft daraus geworden. Aber Manfred hatte sich zurückgeworfen, den Ellbogen auf die Rücklehne seines Stuhles gestützt und den Hinterkopf auf die Hand, daß eine Fülle dichter dunkler Locken über seine Finger gerollt waren und sie uns sichtbar machten.

Er kam einmal wieder nicht zur Arbeit.

Arbeit! wie konnte er seine Sinne und seine Gedanken auf die Arbeit richten? Das Herz war ihm zum Springen voll, der Kopf schwer von Gedanken, die Brust gedrückt von Centnerlast. Während er seine Augen auf das weiße Blatt vor ihm richtete, sah er unausgesetzt nebelhafte Linien, schwächer als ein Hauch, darauf schwimmen, welche mit denen, die er hätte entwerfen sollen, auch nicht die mindeste Aehnlichkeit hatten: es waren Contouren eines Gesichtes, eines reizenden Frauenkopfes, die darauf schwammen, und in diesen Kopf war Manfred verliebt mit der wahnsinnigsten Leidenschaft.

Das war nun freilich eine unendliche, hoffnungslose Geschichte. Manfred mußte sich gestehen, daß ihm etwas Traurigeres in seinem Leben durchaus nicht hätte zustoßen können: Manfred Wallpott – Sohn des officiellen Künstlers Wallpott – und Constanze Merwing … Manfred war weit davon entfernt, diesen ungeheuren Unterschied zu übersehen … und deßhalb war ihm so sterbenstrüb, so verzweifelt zu Muthe – und das Leben erschien ihm so öde und so von allen Göttern verlassen, daß er sich den Tod wünschte. Es gab ja keine Hoffnung, auch nicht die allerleiseste für ihn: wäre er etwas Anderes gewesen als Landschaftsmaler, ein Soldat, der sich hätte zum Feldherrn, ein Beamter, der sich hätte zum Minister aufschwingen können, ja, dann wäre mindestens ein Hoffnungsschimmer, vorhanden gewesen: so aber, ein Maler, ein Künstler ohne Talent, wie er sich selber sagte, es war zum Wahnsinnigwerden …

Bald jedoch warf er sich das Egoistische all' solcher Gedanken vor und dachte nur noch an Constanzens peinliche Situation; dabei aber wurde er gestört durch ein heftiges Hämmern, welches aus dem Vorzimmer, dem Atelier seines Vaters erscholl. Er blickte auf; durch die offene Thür sah er, wie der große denkende Künstler Peter Paul Wallpott auf einen Stuhl an der gegenüberliegenden Wand gestiegen war und mit großer Sorglichkeit einen Nagel eintrieb. Dann bückte sich der geschäftige Herr, hob ein Bild, welches so lange zwischen der Rücklehne seines Stuhles und seinen Beinen gestanden, auf und hängte es an den Nagel.

Manfred stutzte und fuhr leise zusammen, als er das Bild – es war ein Portrait – nur mit stieren Augen sich gerade in's Gesicht starren sah; es war der Kopf Mellheim's.

»Ich bitte Dich, Vater,« rief er aus, »wozu das – Du willst doch diesen Kopf nicht da behalten?«

»Allerdings, mein Sohn – der wäre einmal wieder gerettet – das heißt nicht der Doctor Mellheim – aber sein Kopf – oder vielmehr nicht sein Kopf, denn ich befürchte sehr, daß man zur größeren Sicherheit des Staates und zum Besten der Phrenologie diesen Kopf mit sehr unliebsamen Maßregeln bedroht: aber mein Kopf, mein von mir gemalter Kopf, das Werk meiner classisch strebenden Hände, das ist gerettet, und ich bin des Schmerzes überhoben, was der Pinsel Deines Vaters malte, der rauhen Welt zur Mißachtung anheimgeben zu sehen. Ja, Manfred, das ist das Demüthigende, SchmerzIiche der Stellung eines officiellen Künstlers, daß er seine Schöpfungen – nämlich Schöpfungen wie diese, die mit einer bestimmt ausgesprochenen, von der blinden Themis soufflirten Intention geschaffen sind – in's Leben ruft, um sie recht eigentlich der Mißachtung der Welt übergeben zu sehen … Ich muß Dir auch gestehen, daß ich bei der Sache strenge Folgerichtigkeit des Gedankens, das, was die Wissenschaft Logik nennt, vermisse – denn gesetzt auch, der Kopf des Verbrechers verdiene die ihm zugedachte patibularische Erhöhung, so verdient doch auf der andern Seite meine künstlerische Schöpfung keine solche Behandlung, und da Jedermann von gesundem Urtheile einräumen wird, daß, wenn es sich von den zwei Dingen: einem Hochverräther oder Falschmünzer u s. w. und von einer Arbeit meiner Hand handelt, das Werk des Peter Paul Wallpott der wichtigere, hauptsächlichere, respectablere Gegenstand ist. – Du kennst die Geschichte von Espagnoletto, der einen Menschen kreuzigen ließ, um ein recht naturwahres Bild zu malen, und sie scheint mir hinlänglich zu beweisen, daß ein gutes Bild wichtiger ist, als ein schlechter Kerl – so, wollte ich bemerken, müßte die Respectabilität meines Bildes, das wahrhaftig nicht verdient, an den Galgen zu kommen, den betreffenden Verbrecher von dieser unnützen Entwürdigung befreien.«

Manfred ließ, ohne zu antworten, seinen Vater plaudern; seine Gedanken kehrten zu Constanzen zurück. Er fühlte mit ihr alles Schwere ihrer Lage, ihrer Aufgabe. Es war für den verhafteten Mellheim keine Hülfe, keine Rettung auf Erden – keine, wenn nicht Constanze ihm Rettung brachte: und sie, sie hatte ja auch die volle Verpflichtung, ihn zu retten. Sie war ihm gegenüber die Vertreterin seiner Familie – und als solche, wie viel hatte sie nicht gegen ihn wieder gut zu machen! Denn was war es, was Mellheim auf den Pfad des Unglücks gebracht hatte, als die Schuld der Familie, die ihn einem gefährlichen, einem so unglücklich ausgeschlagenen Erziehungs-Experiment Preis geben lassen? Hätte sein Vater ihn als Graf Merwing erziehen lassen – war es dann denkbar, daß er auf ähnliche Abwege gerathen wäre?

Ja, Constanze mußte ihn retten – aber, ad! konnte sie es – was vermochte sie, das schwache, einzeln stehende Mädchen! sich dem Fürsten zu Füßen werfen? Es war bekannt, daß der Fürst das feste Princip hatte, der Thätigkeit seiner Gerichte unbeirrt ihren Lauf zu lassen, und daß es für den Gefangenen nur unheilvoll werden konnte, wenn man Fürbitten und Verwendungen für ihn in's Spiel brachte. Die Gefangenwärter bestechen? eine Flucht bewerkstelligen? Manfred glaubte nicht an die Möglichkeit einer solchen. Sollte sie Graf Julian in's Geheimniß ziehen und ihm entdecken, wer Mellheim eigentlich sei? Sie konnte sicher sein, daß Graf Julian dann gerade desto eifriger für das Verderben des Unglücklichen gewirkt hätte, um eine Person, die zwischen ihm und einem eventuellen Successions-Rechte stand, zu entfernen.

Dem jungen Manne wurde das Herz schwerer und schwerer; er sprang endlich auf, es litt ihn in seinen vier Wänden nicht länger. Er kleidete sich rasch an, er wollte einmal mit Ulrici reden.

»Was hast Du, mein Junge?« fragte Peter Paul Wallpott, als er seines Sohnes Aufregung bemerkte. »Halte Dich an Deiner Arbeit; seit Du zurück bist, hast Du in Deinem gewöhnlichen Fleiße bedeutend nachgelassen … Das muß besser werden, mein Söhnchen, besser – nimm' Dich zusammen, nimm' Dich ernsthaft zusammen; mach' etwas, das Dich empfiehlt; wenn ich sehe, daß Du meinem Ideale von einer tüchtigen Portrait-Landschaft nicht allzu fern bleibst, habe ich eine kleine Ueberraschung für Dich in petto … wenn ich Dir dann so einen hübschen Sonnenuntergang in den Hintergrund hineinsetzte – so mit der ganzen blendenden Ueppigkeit meines Colorits …«

Manfred wäre in einem andern Augenblicke als dem gegenwärtigen vor Schrecken erstarrt bei dieser gütigen Zusage seines theuren Vaters und Meisters – jetzt aber überhörte er sie, und die Antwort wurde ihm ohnehin dadurch erspart. Es klopfte plötzlich, und bevor noch ein »Herein!« ertönte, trat Herr Ulrici in die Thür. Herr Ulrici war sehr eilig: er nahm sich weder die Zeit, den officiellen Künstler zu grüßen, noch seine Kopfbedeckung vor ihm abzunehmen. Er schoß durch das erste Zimmer in Manfred's Atelier, dessen Thür er sorglich hinter sich verschloß.

»Manfred,« sagte er, »Sie sind gestiefelt und gespornt zum Ausgehen, seh' ich – desto besser – Sie sollen augenblicklich zu Gräfin Constanze Merwing kommen.«

»Ich – zur Gräfin?« versetzte Manfred überrascht.

»Ja, aber erst habe ich mit Ihnen zu sprechen – das ist ja eine ganz verfluchte Geschichte!«

»Was ist eine verfluchte Geschichte?«

»Sagen Sie mir um Gottes willen, was haben Sie in Melsenz gemacht, Sie und die Gräfin?«

»Gemacht …?«

»Sie haben sie compromittirt, unglückseliger Mensch! compromittirt, sag ich Ihnen, wie man ein junges Mädchen nur compromittiren kann …«

»Ich – Gräfin Constanze Merwing?«

»In's Teufels Namen, thun Sie nicht so unschuldig, sagen Sie mir …«

»Ulrici, ich verstehe Sie nicht, erklären Sie mir einmal, was Sie wollen!«

»Was braucht's da viel Erklärens! sie ist verloren, ihr Ruf ist dahin, durch Niemand anders, als Sie gestern – Abend waren die Herren von Rottenau, Staudenbrecher, die ganze Clique wieder bei der Frau Habicht, auch Julian Merwing war da, der seit einigen Tagen von der Festung zurück ist, und da ist's lang und breit verhandelt worden, und heute Morgen fährt Frau Habicht bei den lieben Klatschschwestern in der Stadt umher, damit es nur ja recht schnell in Cours gelegt werde.«

»Aber was, was denn?«

»Nun, daß Sie der Geliebte Constanzens sind, daß diese Sie sich nach Melsenz hat kommen lassen …«

»Um des Himmels willen …«

»Um des Himmels willen keinesweges, Freundchen. Solus cum sola non praesumitur orare Pater noster, heißt's im canonischen Recht … der Mellheim hat's im Verhör ausgesagt, daß ihm Constanze Sie als ihren Gespons vorgestellt …«

»O Gott!«

»Und das wird nun durch die ganze Stadt colportirt; weßhalb, das kann ich mir denken … Die Geschichte bricht jedenfalls Constanzen in den Augen des Erbprinzen den Hals, und mehr verlangt man nicht!«

»Wie fürchterlich!« sagte Manfred, der ganz außer sich war.

»Das ist es auch,« sagte Ulrici, »und ich wollte ein Jahr meines Lebens darum geben,« setzte er für sich hinzu, »hätte ich bei der Geschichte ein reines Gewissen. Aber kommen Sie jetzt« fuhr er fort, »Constanze will Sie sprechen.«

»Weiß sie schon?«

»Freilich weiß sie – kommen Sie! Aber was ist Ihnen?!«

Ulrici wurde zu diesem Ausrufe veranlaßt durch das Aussehen des jungen Mannes, der todtenblaß vor ihm stand und einen wilden Blick auf ihn richtete, ein Bild des Entsetzens!

»Sie – durch mich unglücklich – das ist zum Wahnsinnigwerden!« stammelte er halblaut.

»Fassen Sie sich,« sagte Ulrici und schüttelte ihn am Arme; »vorwärts!«

Manfred ermannte sich, griff nach seinem Hut und folgte ihm.

Peter Paul Wallpott sah ihnen überrascht nach, als sie so hastig durch sein Atelier eilten.

»Gräfin Merwing,« dachte er, »will zweifelsohne wissen, wie weit ihr Bild vorgeschritten ist. Diese Neugierde nach dem neuesten aus dein Walpottschen Atelier hervorgehenden Werke stellt ihrem Kunstsinne ein schönes Zeugniß aus.«

Unser Meister fuhr in seiner Arbeit fort, und theilte unablässig der glücklichen Leinwand auf seiner Staffelei immer mehr von dem ausgezeichneten Colorit mit, welches sein Stolz war.

So verging der Morgen. Zu Mittag kehrte Manfred nicht heim; Herr Wallpott verzehrte, da er verwitwet und ohne andere Sprößlinge als seinen Sohn war, in völliger Einsamkeit sein frugales Mahl. In der Nachmittagsstunde kam sein dienstbarer Geist, ein talentvolles weibliches Wesen in mittleren Jahren, das eine ausgezeichnete encyklopädische Bildung in häuslichen Arbeiten aller Fächer besaß, von einem Ausgange heim und machte ihm eine Eröffnung, welche höchst überraschend, ja, beinahe niederschmetternd auf den armen Künstler wirkte. Sie stellte sich nämlich dicht vor den arbeitenden Coloristen, stemmte beide Arme in die Seiten und brach in den Ausruf aus:

»Na, das ist eine schöne Begebenheit!«

»Was ist eine schöne Begebenheit? was hat Sie, meine Gute?«

»Er ist verrückt geworden.«

»Verrückt, wer?«

»Manfred, Ihr Sohn Manfred.«

»Manfred verrückt?«

»Rein übergeschnappt, sag' ich Ihnen, rein übergeschnappt – ach, Du mein Gott, was soll das geben – ich laufe aus dem Hause, wenn der heim kommt – nein, das sag' ich Ihnen, bleiben thu' ich um keinen Preis …«

»Aber was ist denn geschehen? so spreche Sie doch …«

»Die Meyer hat es mir gesagt, Sie wissen, meine Freundin, die Meyer, welche schon für Sie gewaschen hat …«

»Nun ja, ja, und die?«

»Die ist vorhin durch die Tiefenthaler Anlagen zurück gekommen, und da ist ein Mensch vor ihr hergegangen, der allerlei curioses Zeug getrieben, daß sie ganz verschreckt worden. Bald ist er zehn Schritt weit gelaufen und gesprungen, und dann ist er still gestanden und hat die Hand vor den Kopf geschlagen und damit um sich in die Luft gefochten … und dann wieder fort, ›hast Du nicht gesehen!‹ und auf einmal: hopsa! ist er vier Schuh hoch in die Luft gesprungen und hat einen Ast über sich gepackt und hat sich daran hin- und hergeschwungen – darnach ist er wieder fortgelaufen so hat er's eine Weile getrieben, bis die Meyer näher getreten, da hat er sich nach ihr umgeschaut, und sie hat Ihren Sohn erkannt und hat gesehen, wie die Haare wild flatternd um seinen Kopf gehangen, das Gesicht feuerroth, die Augen verdreht – so ist er mit Einem Male, als er sie wahrgenommen, rasch wie 'ne Eidechse in's Gebüsch geschlüpft.«

Herr Peter Paul hörte diesen Bericht mit steigender Sorge an.

»Ich hab's kommen sehen, ach, Du lieber Gott, ich hab's kommen sehen!« fuhr das achtbare Wesen fort – »er hat's mit von der Reise heimgebracht, seitdem ist's nicht richtig mehr mit ihm gewesen, Sie können mir's glauben, Herr Wallpott, auf der Reise ist ihm etwas passirt …«

»Schweig' Sie – sdweig' Sie, gebe Sie auf's Haus Acht,« unterbrach sie der Künstler und warf rasch seinen Malerkittel ab. Meinen Rock, meinen Hut – wo hat die Meyer ihn gesehen?«

»In der Gegend des chinesischen Thurmes ist es gewesen, Herr, recht mitten in den Anlagen.«

»Gut, gut, ich will nach ihm sehen, mach' Sie nur um Gottes willen kein Geschwätz über die Sache!«

Damit eilte Herr Wallpott mit sorgeerfülltem Herzen zum Atelier und zum Hause hinaus.

Er lenkte seine Schritte durch die Straßen der Stadt den Anlagen zu, die vor den Thoren einen großen Flächenraum bedeckten. Sie waren ein echtes Probestück deutschen Geschmacks, diese Anlagen neben der Residenzstadt, und weit im Umkreise genossen sie eines bedeutenden Rufes. Man hatte sie aus einem herrlichen Walde hochstämmiger Eichen und Buchen geschaffen; die waren gewachsen seit Jahrhunderten und waren Riesen geworden mit malerischen Aesten und dichtbelaubten Wipfeln, daß jedem, der unter sie trat, das Herz aufging und er in einen Tempel Gottes zu treten glaubte. Breite, dunkel überwölbte Alleen hatten den Wald durchzogen für die Lustwandelnden. Jetzt aber war der deutsche Wald gelichtet, gefällt und gerodet und in einen englischen Park verwandelt; da waren Bowlinggreen und Weiher mit türkischen Enten darauf und künstlich zusammengeordnete Gehölzpartieen; dazwischen hatte man chinesische Thürme, türkische Kioske, maurische Minarets, spanische Eremitagen gesetzt, auf einer Insel im Weiher stand eine künstliche gothische Burgruine, am Ende des Parks lag eine italienische Villa, und auf dem Wege dahin kam man an einem Vogelhaus im französischen Rococostyle vorüber … Es war ›wundervoll,‹ darüber waren alle Ammen der Residenz, die hier ihre Kinder spazieren führten, alle Commis-Voyageurs, welche die Stadt besuchten, und alle empfindsamen Seelen der haute volée einstimmig.

Ueber solch' geschmackvolles Durcheinander ärgerte sich nun freilich unser officieller Künstler, der daher schoß, wie ein Habicht zu seinem Neste, das er von einem Buben erklettert sieht, sehr wenig; desto mehr aber über die abscheulichen krummen Windungen der Schlangenwege, die ihn um dreimal so viel Zeit brachten, als er nöthig gehabt, wenn er gerade zu und über die Rasenflächen hätte laufen können. Aber das war streng untersagt, und zahlreiche Invaliden patrouillirten als Wächter, um die Besucher vor dem Irrthum zu bewahren, in den herrschaftlichen Anlagen sei der gerade Weg der beste. Endlich trieb die steigende Angst den Maler zur rücksichtslosen Gesetzverachtung: er lief gerade zu, unbekümmert um Sammtgras und Blumen-Corbeillen.

Er hatte den Park noch nicht halb durchsucht und immer noch keine Spur von Manfred gesehen, und es wurde dunkler und dunkler. Mehrere Spaziergänger waren ihm begegnet, er hatte sie alle ausgefragt, aber Niemand hatte Manfred gesehen. Jetzt hatte auch der letzte die Anlagen verlassen. Es ward stiller und nächtiger; die Wipfel der alten Stämme, die aus den guten, alten Waldeszeiten übrig geblieben, rauschten im Nachtwinde, als ob sie um ihre geschwundenen Brüder klagten. Wallpott stand still, wischte sich mit einem Tuche über die Stirn und schöpfte Athem. Er dachte darüber nach, ob es nicht besser sei heimzukehren – er gab sich der Hoffnung hin, daß Manfred auf einem anderen Wege als dem seinigen längst nach Hause gegangen, daß er ihn dort finden werde. Da hörte er Schritte hinter sich, eine Hand legte sich auf seine Schulter.

»Herr Wallpott …«

Der Maler schrack zusammen unter der Mahnung des beschwerten Gewissens. Er erkannte einen der Invaliden, die den Graswuchs bewachten. Aber der Mann sagte freundlich:

»Herr Wallpott, wen suchen Sie – Sie suchen Ihren Sohn?«

»Meinen Sohn – allerdings, meinen Sohn Manfred – um Gottes willen, wissen Sie etwas von ihm?«

»Ja – ich habe ihn gesehen,« antwortete der Alte zögernd.

»Sie haben ihn gesehen – ist es wahr –ist er …?«

Der Maler stockte, er wollte es vor einem Fremden nicht aussprechen; aber der Invalide ergänzte den Satz:

»Ja, es ist wahr, vor einer Stunde etwa ist es geschehen.«

»Vor einer Stunde? – Was ist geschehen vor einer Stunde?«

»Haben sie ihn gefaßt.«

»Gefaßt – Manfred? wer hat ihn gefaßt?«

»Nun, arretirt, ein paar Polizeidiener.«

Peter Paul Wallpott stand wie an den Boden geheftet vor Schrecken bei dieser Nachricht.

»Arretirt? meinen Manfred …«

»Nun ja – an der Einsiedelei.«

»Und weßhalb?«

»Das weiß ich nicht!«

Wallpott stand noch immer wie starr da; so blickte er dem Invaliden in's Gesicht und brachte vor Schrecken kein Wort heraus.

Der Wächter wandte sich endlich und ging, indem er leicht den Schirm seiner Mütze berührte.

Wallpott ließ ihn ziehen.

»Mein Gott,« seufzte er endlich tief auf, »sollte es so weit mit ihm gekommen sein – sollte die Polizei ihn haben in Sicherheit bringen müssen?!«

Dann wandte auch er sich, um nach Hause zu kommen. Zu Hause mußte er ja dann Manfred finden oder mindestens eine Nachricht von der Polizei-Behörde. So eilte er mit langen Schritten dahin. Aber je weiter er kam, desto schwerer und kürzer wurden diese Schritte. Er war todmüde, und der Schreck war ihm lähmend in alle Glieder gefahren. Angstbeklommen vor sich blickend, ging er weiter, während die weiße Staubdecke auf seinen Schuhen durch die Dunkelheit schimmerte.

Als er endlich wieder in der Stadt auf dem Pflaster war, schmerzte ihn jeder Stein, auf den er trat; so kam er nur langsam vorwärts, durch die hell beleuchteten Straßen, an den glänzenden, gasstrahlenden Läden vorüber, wo die Reichthümer des Luxus schimmerten, an den hohen Häuserfronten mit großen Spiegelscheiben und breiten Einfahrtsthoren für die Equipagen vorbei, durch die auf- und niederwogenden Menschen, die alle so viel zu thun zu haben schienen und so eilig und so lebhaft waren, neben lustig gedrehten Orgeln her, an Wein- und Bierhäusern vorbei, aus denen die Stimme der Zechenden und Singen und Lachen scholl.

»Was ist die Welt so luftig, und was haben die Menschen für Vergnügen in der Welt, und wie glänzt und gleißt das alles, und wie sind die Herzen so leicht und unbekümmert, und wie viel Geld ist da für alle diese schönen Sachen, um sie zu kaufen und zu haben –« so dachte Peter Paul Wallpott bei all' diesem Anblick – »besondere für dich, den mühsam strebenden Künstler, der sich abgemüht hat ein langes Leben hindurch, und geplagt wie ein geschundenes Lastthier, und dem sie heute den Sohn in's Narrenhaus gebracht haben – den einzigen lieben Sohn – o Gott, o Gott, halte mich aufrecht!«

Dem Maler stiegen bei diesen letzten Worten seines Selbstgesprächs ein paar Thränen in die Wimpern, und mühsam hielt er sich aufrecht auf seinen müden, wunden Füßen.

Er war jetzt dem Portale des großen Bankhauses Habicht junior und Compagnie gegenüber. Oben glänzten eine Reihe Fenster hell beleuchtet in die Nacht hinaus. Es waren die Empfangzimmer der jungen Frau vom Hause, die Besuch zu erwarten schien. In der That traten zwei Männer, die in eifrigem Gespräche mit einander begriffen waren, in diesem Augenblicke in das Portal ein. Wallpott kannte sie nicht, aber er hörte die Worte, welche der eine, eine große lange Gestalt, zu dem Anderen sprach:

»Er ist in Sicherheit gebracht! Sie werden ihn morgen selbst in's Gebet nehmen können.«

Was der Andere antwortete, entging Wallpott; sie verschwanden in dem Hause. Aber die Worte trafen ihn und verdoppelten seine Angst. Sollten sie sich auf seinen Sohn bezogen haben? Mit erneuter Hast eilte er seiner entlegenen Wohnung zu.

Endlich hatte er sie erreicht. Das Hofthor stand nur angelehnt; als er im Hofe war, zeigte ihm ein Blick, daß Niemand im Hause – Alles war dunkel, nirgends ein Schimmer von Licht. Wallpott bückte sich neben der Hausthür zur Erde und zog aus einer Mauerspalte den Hausschlüssel hervor, der hier versteckt wurde und des ersten Zurückkehrenden harrte, wenn alle Bewohner ausgegangen waren.

Als er geöffnet hatte, tappte er über den dunklen Flur in die Küche und suchte mit zitternden Händen das Feuerzeug, und suchte und suchte und fand es nicht, während seine Kniee unter ihm vor Müdigkeit zusammen brachen. Es war der bitterste Augenblick seines Lebens, wie er später gestand, dieses Alleinsein in seinem dunklen Hause, mit der Angst um sein einziges Kind im Herzen, mit den gebrochenen Gliedern, an dem erloschenen Herde, in dem kein Funke mehr glomm – Alles todt und Asche! –

Da tönten Schritte auf dem Hofe, es war die Aufwartefrau, die kam; er kannte ihren schlurfenden Gang, und aufathmend rief er ihr entgegen:

»Komme Sie hierhin, Margareth – wer ist da gewesen, was hat Sie gehört …?«

»Ad du lieber Himmel, Sie sind's, Herr Wallpott? Herr Jesus Christ, was muß man erleben! Warten Sie, hier ist das Feuerzeug – freilich sind sie da gewesen, sie haben Alles durchsucht und versiegelt …«

»Durchsucht – versiegelt …?«

»Ich war nur eben einen Augenblick zu der Meyern herüber, um es ihr zu erzählen …«

»Um Gottes willen, lasse Sie die Meyern bei Seite – wer ist da gewesen?«

»Nun, die Polizeileute, die ihn arretirt haben …«

»Also wirklich?!

»Sie haben ihn gebracht, Sie, Herr Wallpott, waren kaum eine Viertelstunde aus dem Hause, in 'nem Fiaker sind sie mit ihm angekommen und gleich mit ihm in sein Zimmer hinein, da hat er ihnen zeigen müssen, wo seine Papiere lägen, die haben sie eingeschlagen, versiegelt, und dann damit auf und davon!«

»Und er …«

»Ach, der liebe junge Herr!« greinte die Frau; »es ist auch kein wahres Wort daran, was die Meyer gesagt hat, er war so still und ruhig, er ist gewiß nicht verrückt geworden; er lächelte nur immer, als wenn's ihn nichts anginge.«

»Aber, hat er Ihr denn nichts zurück gelassen für mich, nichts gesagt …?«

»Ach, Herr je, ja, ich hätt's bald vergessen; da dieses Papierchen hat er mir für Sie zugesteckt.«

Die Frau kramte in ihrer Rocktasche und zog ein winzig kleines Billet heraus, unversiegelt, aber durch künstliches Zusammenfalten geschlossen; Wallpott griff hastig darnach, riß es auf und hielt es der Küchenlampe nahe, welche die Frau endlich angezündet hatte. Die Schriftzüge schwammen vor seinen Augen, sie waren mit Bleistift so rasch und flüchtig geschrieben, daß es schwer war, sie zu enträthseln. Wallpott kam endlich damit zu Stande und las die folgenden Worte:

›Ich bin arretirt, lieber Vater; da ich kein Verbrechen begangen, sei nicht unruhig ich bin namenlos glücklich …‹

»Namenlos glücklich?« wiederholte Wallpott und rieb sich die Augen – dann fuhr er fort:

›Denn seit ein paar Stunden, bin ich der Bräutigam der Gräfin Constanze von Merwing. Behalt das noch für Dich! Adieu!‹

Wallpott starrte einen Augenblick diese Zeilen an, dann ließ er trostlos die Arme sinken und sagte mit dem Ausdruck des Verzweifelns:

»Er ist doch verrückt!«



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