Ossip Schubin
Der Rosenkavalier
Ossip Schubin

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Auskunft lag auf meinem Tisch. Mit schwankenden Knien bin ich in mein Zimmer zurückgekehrt und hab' den Brief geöffnet . . . da ist er.« Der Professor zog ein vergilbtes Dokument aus seiner Brusttasche. »Wollen Sie ihn selber lesen, verehrte Freundin?« wendete er sich an Frau Lindenstamm. »Mir ist es zu peinlich.«

Mein liebes Kind!

Vorbei, heute endlich bin ich mir darüber klar geworden, daß alles vorbei ist für mich, endgültig. Das Gefühl dieser Endgültigkeit bedeutet für mich eine Befreiung und Beruhigung.

Du kannst dir nicht vorstellen, was ich in diesen letzten Wochen durchgemacht habe. Du hast mich etwas gelehrt, von dem ich keine Ahnung hatte – die Scham. Mein alter Körper schämte sich vor deiner Jugend, meine Seele vor deiner Lebensanschauung, die ebenso rein und edel wie unerbittlich grausam ist.

Vorbei – vorbei! Nicht einmal eine Erinnerung übrig, an der ich mich freuen kann. Alles zerrissen, alles besudelt – durch einen Moment des Wahnsinns.

Du hast alles vergessen, was schön und edel war in unsern Beziehungen. Nichts steht dir mehr vor Augen als das alte Weib, das nach deiner Jugend verlangt. Jedes Wort, das ich an dich gerichtet, wird von nun an eine andre Bedeutung haben für dich, jeden kleinen Liebesdienst wirst du anders auslegen als früher. Du wirst denken, daß es vom Anfang unsrer Beziehungen an unheimlich in mir gekocht und gebrodelt hat und ich die Leidenschaft nur, aus Angst dich zu verscheuchen, durch einen wahnsinnigen Aufwand an Willenskraft niedergehalten habe. – In den letzten Monaten war das wirklich so; aber früher, nein! Ich will nicht sagen, daß ich damals, an jenem Morgen in Wartenberg, als du mit einem Rosenstrauß vor mich hintratst, nicht ein wenig in dich verliebt war, daß sich nicht etwas von dem in mir meldete, was ich damals schon seit zwei Jahren für tot hielt, und das leider nur betäubt, müde und überdrüssig war. Und wenn du nur ein hübscher, alltäglicher, gutmütig leichtsinniger Bursche gewesen wärst . . . Aber, das warst du eben nicht – warst etwas ganz Neues für mich, etwas Wundervolles, das meinem Empfinden neue Horizonte erschlossen und meiner Sehnsucht neue Wege gewiesen hat.

Mein Fühlen und Denken wendete sich mit Ekel ab von meiner Vergangenheit – ach, wozu Worte! Nur das möchte ich sagen:

Was du mir gabst, war ja so viel schöner als alles, was mir das Leben geboten. Und ich glaubte mich endgültig befreit von allen häßlichen Forderungen meiner Natur, befreit, erlöst von mir selbst. Das dauerte . . . oh, lange, lange. Dann kam der Frühling. Da fühlte ich von neuem die unheimliche durstige Glut in mir aufsteigen, und ich erschrak.

Aber der Dämon in mir wühlte und forderte. Was hab' ich mit mir gerungen Tag und Nacht, übermenschliche Kraft hab' ich darangewendet, dir mein schwüles Geheimnis zu verbergen, nur weil ich wußte, daß eine Geste, die dir mein Empfinden verriet, dich abstoßen und mir für immer abwendig machen würde. Vielleicht hab' ich die ganze Zeit in meinem Tiefinnersten gehofft, daß es doch noch einmal anders werden würde. Törin! – Nun, wie's gekommen ist, du weißt es ja.

Der Druck meiner furchtbaren Demütigung hat mich zu etwas veranlaßt, was weder die Überredungskunst der Juscha noch die Huldigungen Dazinskys fertiggebracht hatten, nämlich mich mit Dazinsky zu verloben. Ich hätte ihn auch geheiratet. Aber als ich dich in meinem Konzert erblickte, war wieder niemand mehr auf der Welt für mich als du. Und als ich die Tränen über deine Wangen laufen sah, wähnte ich dich zurückerobert zu haben.

Ich habe dich erwartet im Künstlerzimmer eine Stunde, und in meinem Hause drei Tage lang. Unter dem Vorwand, übermüdet zu sein, mich für die Reise schonen zu müssen, hab' ich alle hinausgewiesen, die dich hätten stören können, weil ich ganz allein sein wollte mit dir. Nichts wollte ich von dir – einer Sterbenden kannst du's glauben –, nichts als ein freundliches Wort und an deiner Hand noch einmal den Weg zurückfinden zu unsrer lieben Vergangenheit.

Erinnerst du dich nicht mehr an Wartenberg, an unsern Spaziergang an dem Abgrund vorbei, dem Abgrund, den ich nicht sah, weil du meine Gedanken davon weggelockt hattest?

Ich hab' dich erwartet drei Tage lang und hab' von dir geträumt und auf dich gehofft und deinem Schritt entgegengehorcht. Drei Tage lang. – Jetzt horch' ich noch, aber ich weiß, du kommst nicht . . . nie mehr. Vorbei. Alles.

Meine Verlobung mit Dazinsky hat mich bedrückt wie ein Alp. Ich wußte keinen Ausweg. Heute in der Nacht endlich hab' ich's erkannt, wo die Befreiung liegt. Der Tod ist der einzige Freund, auf den ich noch rechnen kann.

Wie ich endlich einig mit mir darüber war, da ist's ganz ruhig und klar in mir geworden. Der Tod . . . Wenn ich zurückdenke, wie ich mich sonst vor ihm gefürchtet hab', zurückdenke an die spiritistischen Séancen, in denen ich nach materiellen Bestätigungen eines Weiterlebens nach unsrer körperlichen Vernichtung verlangte . . . lachen möchte ich über mich – ein bitteres Lachen!

Mir graut vor der Unsterblichkeit. Wenn wir die Erinnerung an unsre vergangene Existenz mit hinübernehmen müßten, so wäre sie eine Hölle, und ohne die Erinnerung hätte die Unsterblichkeit keinen Sinn.

Nein, nein . . . nur schlafen, schlafen, endlich wieder schlafen. Vergessen . . . rasch, völlig. Ja, wenn mich am jüngsten Tag dein Schritt wecken könnte, stürmisch, übermütig, die Treppe hinaufjagend, immer zwei Stufen auf einmal und ein leichtes Accelerando zum Schluß, dein Schritt, mit dem du im Frühling so oft aus der Kanzlei mir entgegengeeilt bist, dein Schritt, der sich auf mich freute . . .

Vorbei . . .

Sei barmherziger gegen die Tote, als du gegen die Lebende gewesen bist.

Deine alte Freundin

Marie Dembinska, genannt die Selvaggini.

P. S. Es drängte mich, dir noch etwas Liebes zu tun, und ich kann doch nicht . . .

Heute vormittag war ich bei meinem Advokaten. Deinen Schwestern hab' ich jeder hunderttausend Kronen hinterlassen als Mitgift. Du wirst gut sein wollen zu mir nach meinem Tode, nicht wahr, und wirst sie nicht veranlassen, das kleine Vermächtnis abzulehnen.

Die andern Legate führe ich hier nicht an. Sie sind für dich uninteressant. Dich habe ich zu meinem Universalerben ernannt. Ich seh's genau vor mir, wie böse du mit deinen Brauen zucken wirst bei dieser Mitteilung.

Ich weiß es ja, daß du nie etwas annehmen wirst von mir, weiß, daß du weiterleben wirst in deinem ärmlichen Stübchen, dich mit kümmerlicher Kost begnügen und in abgetragenen Kleidern einhergehen wirst; aber ich weiß auch, daß niemand das Geld zu edleren Zwecken verwenden, niemand so viel Gutes damit tun wird wie du. –

Ich horche noch immer. Der Zustand ist unerträglich. Jetzt ist's genug. Ich habe eine große Dose Chloral genommen . . . Das Mittel wirkt nicht. Der Schlaf bleibt aus.

Mach mit meinem Geld, was du willst, aber das Porträt von Lenbach, das mich als heilige Elisabeth darstellt, das behalte und richte manchmal den Blick darauf. So sonderbar dir's scheinen mag, aber unter den hunderterlei verschiedenen Seelensplittern, aus denen eine menschliche Individualität zusammengesetzt ist, muß etwas gewesen sein, das mich der Heiligen verwandt gemacht hat. Ich habe keine Rolle so gern gesungen wie die Elisabeth. Noch tagelang nach der Vorstellung lebte ich in der Rolle, verzehrte mich in Sehnsucht nach Reinheit und Märtyrertum . . .

Meine Hand wird schwerer.

Alles ist zerrissen in mir, mir ist's, als flatterten die Fetzen meiner Seele durch mein verdämmerndes Bewußtsein. Ich stehe wieder auf der Bühne . . . nein, ich sitze neben deinem Krankenbett in San Remo. Dein abscheulicher Husten plagt dich. Ich stütze dich auf in meinem Arm . . .

Mein armer, blasser Bub, du wirst dich quälen, wenn du von meinem Tode hörst. Ich weiß es, aber du sollst nicht . . .

Nein! Mach dir keine Vorwürfe. Sag dir: Ich war das Schönste in ihrem Leben, und bis zum letzten Moment war sie mir dankbar dafür . . . Im übrigen war sie müde und hat schlafen wollen.

Leb' wohl! Wenn ich noch einmal den großen Donner gehört hab', so verdank' ich dir's! Auch daran denk', wenn ganz ungerechtfertigte Skrupel in dir aufsteigen sollten.

Ach, wie müde bin ich . . . Ich muß eilen . . . muß den Brief an die gewohnte Stelle tragen, von wo Luigi alle Morgen meine Briefe holt. Dann . . . noch eine Dosis . . .

Frau Lindenstamm ließ den Brief sinken, und der Professor fuhr in seiner Erzählung fort:

»Lange bevor ich den Brief zu Ende gelesen hatte, war ich schon in die erste Straßenbahn gesprungen, die nach Monplaisir fuhr. Atemlos eilte ich dem kleinen Lustschloß zu. Bis zum letzten Augenblick hoffte ich noch. Es gibt so viele Menschen, die Briefe schreiben, um einen Selbstmord vorzubereiten, den sie nicht ausführen.

Doch kaum hatte ich den Garten erreicht, in dem ich so viele schöne Stunden verbracht hatte, als jeder Zweifel verschwunden war.

Sie, verehrte Freundin, die Sie so viel erlebt und erfahren haben, werden sich gewiß des Aussehens entsinnen, das plötzlich ein Haus, eine Wohnung annimmt, wenn jemand darin gestorben ist. Es macht zugleich den Eindruck, als ob der ganze Betrieb ins Stocken gekommen wäre, weil ein Rädchen aus der Maschine gesprungen ist, und doch auch, als ob alle Hemmungen aufgehoben wären, die den Betrieb geregelt haben. Man beschäftigt sich nur noch mit dem Tode, das Leben läßt man gehen, wie es will, und kümmert sich nicht weiter darum.

Die Gartenpforte stand offen. Zwischen den gelben und roten Herbstbäumen, die es wie grandiose Totenfackeln umloderten, stand das kleine Lustschloß feierlich stumm, und knapp daneben auf einem Rasenplatz balgten sich ein paar Kinder.

Ein emsiges Hämmern durchtönte das Haus.

An der Tür des Sterbezimmers wurde ich abgewiesen. Die Juscha, bis zur Unkenntlichkeit verweint, erklärte mir hart und schroff, daß kein Fremder hinein dürfe. Man sei mit der Aufbahrung beschäftigt. Morgen von zehn Uhr an würde die Leiche für das Publikum sichtbar sein.

Ich mußte mich bescheiden.

Erst den nächsten Tag um zehn Uhr sah ich sie.

Zwischen einem Wald von brennenden Kerzen lag sie in einem schwarzen Sarg in dem schwarz ausgeschlagenen Musiksalon.

Wenn es wahr ist, daß der Tod uns die Maske vom Gesicht nimmt und erbarmungslos unser eigentliches Ich zeigt, dann hat sie sich vor dem allerhöchsten Urteil nicht zu scheuen gebraucht. Das edle, traurige Gesicht, das auf dem spitzenbesetzten Kissen ruhte, war das Gesicht der heiligen Elisabeth auf dem Porträt von Lenbach.

Irgend jemand gab mir den Sprenkel in die Hand, den ich in den Weihwasserkessel zu ihren Füßen tauchen sollte, um sie damit zu besprengen. Ein junger Priester kniete betend neben dem Sarg. Nicht einen Augenblick hatte sich der Pfarrer der Gemeinde gesträubt, ihren Tod einem bösen Zufall, einer unabsichtlichen Übertreibung des Schlafmittels zuzuschreiben und ihr alle Ehren einer christlichen Aufbahrung und Bestattung zu gönnen. Der Grund war leicht zu erkennen.

Das Zimmer war voll Menschen, da man jeden hineinließ, der noch einmal die Selvaggini sehen wollte; aber zwischen den vielen Neugierigen aus den wohlhabendsten und vornehmsten Klassen waren zahllose Arme. Niemand war wohltätiger gewesen als die Selvaggini, und ihre Wohltaten waren nie Almosen, sondern stets Geschenke gewesen, die sie wie eine zärtliche Mutter am Weihnachtsabend immer mit einem freundlichen Wort und einer Liebkosung begleitet hatte. Die Wallfahrer an ihrem Sarg waren in zwei streng abgegrenzte Gruppen geteilt: die Reichen, die flüsterten und gafften, und die Armen, die weinten und beteten.

Ich hielt mich zu den Armen. Ich gehörte zu denen, denen sie Gutes getan. – –

»So . . . und nun bin ich zu Ende,« sagte der Professor, »ich glaube, daß auch Sie meinen Schmerz begreifen.« Sein Gesicht war verfallen, er kämpfte mit Tränen.

Die alte Dame gönnte ihm die Zeit, sich zu beruhigen, dann sagte sie sehr weich: »Ihren Schmerz begreife ich; die Vorwürfe aber, die Sie sich wegen des Selbstmordes der Ärmsten machen, erscheinen mir unberechtigt. Jedenfalls konnten Sie nicht anders handeln, als Sie gehandelt haben.«

Da fuhr der Professor auf, und seine traurigen Christusaugen blitzten: »So! Ich hätte nicht anders handeln können?« rief er empört. »Das denken Sie wirklich?«

Sie wurde etwas verlegen. »Aber lieber Freund! Sie konnten doch nicht . . .« Sie stockte.

»Der Geliebte der Selvaggini werden, meinen Sie?« vervollständigte er schneidend. »Nein, das konnte ich nicht.«

»Also.«

Er schwieg einen Augenblick, dann: »Erinnern Sie sich an die Stelle in ihrem Brief, in der sie mich daran erinnert, wie geschickt ich sie einmal an einem Abgrund vorübergeführt habe, ohne daß Sie's merkte? Sehen Sie, das hätte ich auch damals tun sollen, in der Stunde, die über ihr Schicksal entschied.« Seine Stimme zitterte. »Ich hätte sie an dem Abgrund vorüberführen müssen, ohne daß sie eine Ahnung davon gehabt hätte, wie nah sie daran gewesen war, ihr Gefühl vor mir preiszugeben.«

Frau Lindenstamm dachte einen Augenblick nach, dann sagte sie sehr leise: »Lieber Freund, um das zu tun, hätten Sie das Gefühl der Selvaggini gleich in seinem Entstehen erraten müssen, mit einem Wort, Sie hätten nicht der naive Idealist sein dürfen, der Sie nun einmal waren, sondern ein lebenskundiger, recht abgebrühter Weltmann, und in dem Fall wären Sie nicht das Schönste gewesen im Leben der unglücklichen Künstlerin.«

»Das Schönste in ihrem Leben – das Bitterste, das Demütigendste war ich,« behauptete der Professor. »Das Schönste! Das hat sie nur so gesagt in ihrer unerschöpflichen Großmut, um mich zu beruhigen.«

»Da irren Sie sich,« erklärte Frau Lindenstamm, »Sie waren das Schönste in ihrem Leben, und sie war Ihnen bis zum letzten Moment dankbar dafür. In jedem Fall überschätzen Sie die Rolle, die Sie in dieser Tragödie gespielt haben. Der eigentliche bestimmende Faktor darin war das hereinbrechende Alter, mit dem sich das Temperament der Unglücklichen nicht abfinden konnte. Das Alter ist der beste Freund einer Frau, wenn man es freundlich willkommen heißt. Es beruhigt und tröstet, es befreit uns von dem aufregenden Wechselfieber der atemlosen Regenbogenjagd, die man Jugend nennt, einem Zustand, den ich für meinen Teil um keinen Preis wieder durchmachen möchte. Es lehrt uns, aufmerksamer zu leben und infolgedessen Schönheiten in der Welt zu entdecken, an denen wir früher blind vorübergerast sind. Denn in der Jugend rast man immer, man genießt die Gegenwart kaum, weil man unentwegt in die Zukunft hastet. Das Alter genießt die Gegenwart, es ist darauf angewiesen. Der einzige wunde Punkt ist, daß so wenig Zeit mehr zwischen uns und der Ewigkeit liegt. Aber daran denkt man selten. Ich versichere Ihnen, ich bin keine Ausnahme. Für viele Frauen ist das Alter die schönste Lebensepoche. Nur, wie gesagt, man muß dem Alter freundlich entgegengehen. Wenn man sich dagegen wehrt, dann wird es böse, wird ein uns beständig demütigender, entmutigender, grausamer Feind. Das war es für die Selvaggini. Je mehr sie sich davon abwandte, um so boshafter lauerte es ihr auf und trieb sie schließlich zur Verzweiflung. Gönnen wir ihr den Tod, lieber Freund. – Und nun wenden wir uns wieder dem Leben zu. Ich kann mir Ihre Existenz nicht ganz zusammenreimen. Früher waren Sie Jurist, und jetzt sind Sie doch Arzt. Und was für einer!«

»Ich habe umgesattelt. Nach dem Tode meiner unglücklichen Wohltäterin verfiel ich in einen monatelang andauernden krankhaften Nervenzustand. Mein verehrter väterlicher Freund, Hofrat Fachberg, der sich mir gegenüber heftige Vorwürfe machte – der Ärmste, er hat's ja doch zum Besten gemeint –, hat mich herausgepflegt, aber lange Zeit stand's hier nicht zum Besten mit mir.« Er tippte sich auf die Stirn. »Mein alter Beruf war mir verleidet, Rechtsstreitigkeiten hatten kein Interesse mehr für mich, das einzige, wonach mich dürstete, war Leiden zu lindern. Mein verehrter Freund machte mich zu seinem Schüler. Er hätte mich auch mit Geld unterstützt, wenn ich es über mich gewonnen hätte, noch etwas von irgend jemand anzunehmen. So hat er mir einträgliche Stunden verschafft. Auf der Universität und Klinik hat er sich auf das eingehendste mit mir beschäftigt. Ich bin sehr bald anerkanntermaßen sein liebster Schüler geworden.«

»Hm! Und wen hat Hilda geheiratet?«

»Sie hat gar nicht geheiratet.«

»Aber sie lebt doch noch?«

»Ob sie lebt – das fehlte noch, daß die . . . gar nicht auszudenken! Sie ist ein herrlicher, entzückender, edler, nützlicher Mensch, die Oberin des mit einer Erziehungsanstalt verbundenen Heims für verwahrloste Kinder, das ich aus dem mir von der Unglücklichen hinterlassenen Vermögen errichten ließ. Wir sehen uns öfter, da ich jede Woche das Heim auf seinen hygienischen Zustand prüfe.«

»Ist sie noch immer hübsch?«

»Hübscher als je, schön . . . und manchmal zuckt ihr sogar noch etwas von der alten Schalkhaftigkeit um die Mundwinkel.«

Sie lachte. »Nun, wenn ein so anerkannt intelligenter Mensch wie Sie nicht von selber darauf kommt, und ich mir's erlauben darf, einem so berühmten Manne die Wahrheit zu sagen, so möchte ich bemerken, daß Sie meiner Ansicht nach ein ganz gewissenloser Esel sind!«

Über diese Ausdrucksweise war der Professor doch ein wenig verblüfft. »Gnädige Frau!« begann er.

»Herr Medizinalrat . . .« Dann ungeduldig: »Menschenkind – haben Sie denn nicht begriffen?«

»Das hab' ich wohl, aber ich dachte, meine Erzählung hätte Ihnen beweisen müssen, daß all derlei für mich ausgeschlossen ist, daß ich nicht mehr das Recht habe, glücklich zu sein.«

»Recht? Das ist Unsinn! Vielleicht hatten Sie zeitweilig die Fähigkeit verloren, glücklich zu sein. Jedenfalls haben Sie die Verpflichtung, glücklich zu machen. Da lassen Sie ein entzückendes, durch und durch liebenswertes Geschöpf zur alten Jungfer verdorren, nur um einem verdrehten Gewissensskrupel zu frönen, einer Reue, die gar keine Berechtigung hat; denn glauben Sie mir, ob die arme Selvaggini sich umgebracht hat, weil Sie nichts mehr von ihr wissen wollten, oder, was mir sehr viel wahrscheinlicher vorkommt, weil sie keines Tones in ihrer Kehle mehr sicher war, der Tod war eine Befreiung für sie, und jeder, der die Sache objektiv betrachtet, muß ihn ihr gönnen. Ihr Leben hatte keinen andern Ausweg mehr. Und jetzt – sursum corda! Ich hoffe, Sie laden mich zu Ihrer Hochzeit.«

Als der Professor die Freundin kurz darauf verließ, hielt er den sonst etwas vorgeneigten Kopf gerade und machte den Eindruck eines Menschen, dem man eine schwere und drückende Last von den Schultern genommen hat.

Frau Lindenstamm aber hatte er in einem sehr gedankenvollen Zustand zurückgelassen. Nicht ohne Beschämung erinnerte sie sich manches übermütigen Witzes, ja manches scharfen Spottwortes, das sie über jene Frauen geäußert hatte, die sich's nicht abgewöhnen konnten, jung bleiben zu wollen.

Das unheimliche Gleichnis des im Herbst neuerlich blühenden Kastanienbaums trat ihr ins Gedächtnis. Es bedurfte nicht dieses peinlichen Naturspiels, um zu beweisen, daß jeder Herbst eine Tragödie ist. Sie gedachte der märchenhaften Schönheit, die er alljährlich entfaltet, gedachte der Stürme, die an ihr wüteten, und der Fröste, die sie vernichteten.

Das Buch einer nordischen Schriftstellerin über das »Gefährliche Alter« fiel ihr ein. Einen ganzen Winter war davon die Rede gewesen. Damals hatte sie das Buch nur als eine Widerlichkeit abgelehnt, jetzt verurteilte sie es als eine Grausamkeit. Was ist das gefährliche Alter anders als die Agonie des Geschlechtslebens? Über die Agonie spottet man nicht. Jeder Todeskampf ist heilig! sagte sie sich. Sie dankte dem Schicksal aus ganzem Herzen, daß ihr diese Agonie erspart geblieben, daß es ihrer Natur möglich gewesen war, sich freundlich und dankbar von der Jugend zu trennen. Und plötzlich trat ihr eine Szene aus dem halbvergessenen Raimundschen Zauberspiel »Der Bauer als Millionär« ins Gedächtnis, und das war die Szene, wo die Jugend von dem Bauer Abschied nimmt. Durch ihre Seele glitt der Kehrreim des naiven Versleins, an dessen tiefem weisem Sinn sie bis dahin achtlos vorübergegangen war, und träumerisch summte sie vor sich hin:

»Brüderlein fein, Brüderlein fein,
Zärtlich muß geschieden sein!«

 

Ende

 


 << zurück