Ossip Schubin
Der Rosenkavalier
Ossip Schubin

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Ich hatte die Sonate oft gehört, was genügt hätte, mich zu orientieren, auch ohne daß ich sie selbst gespielt hätte, wenn ich's mit einem halbwegs normalen Partner zu tun gehabt hätte. Aber der Professor sägte und kratzte in einer so erratischen Weise, jedem Rhythmus hohnsprechend, sich bald da, bald dort aufhaltend, um einen Irrtum zu verbessern, dann in Sechszehnteln vorwärtsrasend, wo Achtel vorgeschrieben waren. Pausen abwechselnd verschlingend und dehnend, daß ich nicht mit ihm Schritt halten konnte, so sehr ich auch über Stock und Stein sprang, rückwärts und vorwärts, wie's eben kam. Dabei glaubte er immer richtig zu spielen.

»Sie haben offenbar keine Routine, aber Sie dürfen den Mut nicht verlieren,« bemerkte er, als uns ein ganz besonders grelles musikalisches Zerwürfnis zum Stillstand gebracht hatte. »Nur Courage! Na, probieren wir's noch einmal!«

Und so probierten wir's noch einmal. Aber die Entgleisungen wurden nur noch häufiger. Dabei sägte er sich in einen immer heißeren Eifer hinein. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und wenn es besonders schief ging, machte er mit dem Fiedelbogen eine dramatische Geste und versetzte dem Cello einen Hieb, offenbar um es für seine Missetaten zu strafen. Ich muß sagen, daß er meine Geduld auf eine arge Probe stellte, aber ich hatte ja nach und nach Übung erlangt in der Fertigkeit, künstlerische Empfindlichkeiten zu schonen.

Plötzlich wurden wir unterbrochen, und zwar durch eine Lachsalve, die knapp neben uns losperlte und wie ein übermütig hinschäumender Gebirgsbach klang. Ich sah auf. Vor uns in dem Zimmer stand ein junges Mädchen, und zwar gerade in einem breiten, gedämpft goldenen Nachmittagssonnenstrahl.

Vom ersten Augenblick an war ich in Hilda Fachberg verliebt, und wie verliebt! Mir war's, als ob mir die Lebenslust aus den Fingerspitzen heraussprühen müsse, als ob mir Flügel aus den Achseln wüchsen. Im Nu hatte ich alle meine Sorgen und widerwärtigen Eindrücke vergessen. Die Welt war wieder wunderschön geworden, das Leben hatte wieder einen Sinn. Hübsch war sie, das mußte jeder zugeben, der sie sah, wenn sie auch nicht auf jeden eine so hinreißende Wirkung ausüben mochte wie auf mich. Gottlob! Das hätte Komplikationen heraufbeschworen.

Sehr jung, noch nicht achtzehn, hoch aufgeschossen, aber nicht zu sehr Stange, und der Körper noch mager, knospenhaft, aber voll allerliebster Zukunftsversprechen, Hände und Füße lang und schmal, sehr edel geformt, nicht zu klein, das Köpfchen rassig, von hellbraunem Haar umgeben, das sie noch in einem Backfischzopf zusammengebunden trug. Es hing ihr lang über den Gürtel herunter und war mit einer schwarzen Schleife zusammengeknüpft, aus der ein dickes Büschel Locken herausquoll. Die Locken schimmerten goldig, ebenso der Flaum um ihre Stirn. Aus ihrem feingerundeten Gesichtchen leuchteten dunkelbewimpert zwei große kluge Kinderaugen. Ihr Näschen war gerad und schmal, ihr Mund, an dem die Oberlippe vielleicht eine Spur zu kurz war, hatte die Farbe einer Walderdbeere und die weichen Konturen des Mäulchens eines Tizianischen Jesuskindes. Beim Lachen zeigte sie eine Reihe herrlicher, schneeweißer Zähne. Sie lachte oft.

»Meine Tochter,« meldete mir der Professor.

Ich bat, mich vorzustellen. Er hatte meinen Namen vergessen. Ich mußte ihm nachhelfen. »Doktor – schon Doktor! Da haben Sie Ihr Examen aber verflucht jung gemacht. Gratuliere! Sind Sie Beamter – Ballhaus oder Statthalterei?«

»Nichts so Nobles. Ich arbeite in einer Advokatenkanzlei, der Kanzlei des Doktors X.«

»So, so! Haben recht, rentiert sich besser mit der Zeit. Na, jetzt kommen Sie eine Tasse Kaffee mit uns trinken, draußen auf der Terrasse, zur Belohnung Ihres guten Willens. Es geht noch nicht recht zusammen – aber,« fügte er mit königlicher Herablassung hinzu, »nur Courage, Sie werden sich schon in meine Eigenart hineinfinden.«

Er bildete sich wirklich ein, Cello spielen zu können, und war wie versessen darauf. Kaum daß er seinen Kaffee heruntergestürzt hatte, sah er schon ungeduldig in meine Tasse hinein. »Sind Sie fertig? Na gut, dann probieren wir ein Trio!«

Und so probierten wir ein Trio. Hilda spielte Geige. Sie spielte viel besser als ihr Papa, hatte Rhythmus und war durch und durch musikalisch. Nun, besonders war's auch nicht. Aber in einem unterschied sie sich wirklich von ihrem Herrn Vater. Sie war sich ihrer Unzulänglichkeiten durchaus bewußt. Als wir uns mit vielen Unterbrechungen, falschen Anläufen und mühsamen Nachbesserungen durch das herrliche H-Dur-Trio von Brahms durchgesetzt hatten, war es Abend geworden. Der Professor legte endlich seinen Bogen nieder, und während es seine Tochter übernahm, sein Cello, übrigens einen prachtvollen Stradivarius, zu verwahren, klopfte er mir auf die Schulter: »Nur nicht den Mut verlieren, es wird schon gehen!«

Da brach Hilda in ein noch übermütigeres Lachen aus als das, mit dem sie uns ihr Erscheinen gemeldet hatte. »Aber, Papa,« rief sie, »er spielt ja ausgezeichnet, spielt viel zu gut für uns. Das verwirrt uns, wie einen in der Konversation ein Mensch verwirrt, der immer recht behält.«

»Aber, liebes Fräulein Hilda, den Vorwurf musikalischer Rechthaberei können Sie in diesem Fall wirklich nicht gegen mich erheben!« warf ich, mich ihrer Heiterkeit anschließend, ein.

»Weiß Gott nicht. Ihr Mitschuldigkeitseifer war geradezu unmoralisch!«

»Nimm doch nicht so große Worte in den Mund! Möchte wissen, was du überhaupt von Moral verstehst!« verwies ihr der Professor. »Von musikalischer Moral eine ganze Menge, Papa. Musikalische Moral heißt Rhythmus,« gab sie ihm lustig zur Antwort. Dann sich zu mir wendend: »Wissen Sie, was ich möchte? Sie selbständig Klavier spielen hören, ohne Nebenkatzenmusik!«

»Ich stehe zu Befehl.«

»Aber doch nicht jetzt. Es ist ja an der Zeit, zum Souper zu gehen,« entgegnete der Professor, der auf seine Mahlzeiten hielt und den die seine Kunst herabsetzenden Bemerkungen verdrossen hatten.

»Nun, ein andermal – wann Sie wünschen. Ich stehe den Herrschaften jederzeit zur Verfügung; indessen danke ich für die anregenden Stunden.«

»Bitte, bitte, wir haben zu danken. Es tut mir leid, daß Ihnen eine so unerquickliche Aufgabe zuteil geworden ist,« erwiderte der Professor sehr gereizt.

»Davon ein andermal, Herr Professor. Ihr Fräulein Tochter hat wahnsinnig übertrieben. Aber jetzt möcht' ich nicht länger stören.« Und ich empfahl mich rasch.

Noch in einem seligen Taumel befangen, schritt ich über die Straße, die an beiden Seiten von Tannen eingefaßt war. Wie die Tannen dufteten!

Da hörte ich hinter mir ein nach Atem ringendes Stimmchen. »Herr Doktor, aber Herr Doktor, so bleiben Sie doch stehen!«

Ich sah mich um. Hinter mir lief Hilda. »Der Papa hat mich geschickt. Er hat vergessen, Sie nach Ihrer Adresse zu fragen. Und wollen Sie nicht morgen bei uns essen? Es ist mein Geburtstag, und es hat dem Papa leid getan, daß er so brummig war, und Sie werden mir vorspielen, nicht wahr?«

Den nächsten Vormittag schlich ich mich in den bei Tage leeren Saal des Hotels Banhans, wo ein Klavier stand, und übte drei geschlagene Stunden lang.

Es ist bezeichnend, wie wenig der Professor auf Formen hielt, daß er mir gleich nach unserm ersten Besuch seine Tochter mit einer Einladung nachgeschickt hat. Alles weitere in unserm Verkehr war dementsprechend impulsiv, unkonventionell und naiv.

Wir sahen uns alle Tage und musizierten viel; mein Solospiel machte nicht nur seiner Tochter, sondern auch ihm aufrichtiges Vergnügen, und nach und nach fand er sich auch mit meinen kammermusikalischen Leistungen ab. Das arme H-Dur-Trio von Brahms hat sich viel gefallen lassen müssen von uns dreien. Wie miserabel hab' ich gespielt, um's dem alten Herrn recht zu machen! Aber ich bin auf meine Kosten gekommen. So schlecht er Cello spielte, so hervorragend war er in andrer Beziehung. Daneben war er völlig weltfremd und geschäftsblind. Nichts verwirrte ihn mehr als eine Rechnung, wenn diese nicht in eine wissenschaftliche Berechnung eingeschlossen war. Sobald er das Mikroskop in der Hand hielt, stimmte alles aufs genaueste, im täglichen Leben aber –

Einmal hatten wir eine kleine Nachmittagsfußtour zum Sonnwendstein geplant. Als ich in den »Johann« kam, um die Herrschaften abzuholen, fand ich den Professor mit zerzauster Frisur und geballten Fäusten vor seinem Bankausweis, in dem er sich nicht zurechtfinden konnte. »Ich bitte Sie, gehen Sie allein mit der Kleinen! Ich hab' zu tun!« stöhnte er. »Weiß der liebe Himmel, wann ich mich mit dem Zeugs zurechtfinde!«

Als wir vom Sonnwendstein zurückkamen, saß er noch über der Arbeit. Er tat mir leid. Hilda aber lachte ihn nur aus. »Wozu die Schinderei, Papa, das ist ja alles unnötig. Du unterschreibst schließlich doch den Ausweis, den die Bank dir schickt!«

Und so war es auch. Aber von dem Tage an fand der Professor es fast selbstverständlich, daß ich es übernehmen solle, Hilda statt seiner zu begleiten.

»Ich bitte Sie, Schmieden, ich bin schwer, die Kleine geht gern rasch, also tun Sie mir's zulieb, laufen Sie mit ihr, solang die Engländerin Ferien hat.«

Und so begleitete ich denn Hilda anstatt der Engländerin, und Hilda nannte mich übermütig »Gouvernantenersatz«.

Alle Tage machten wir Streifzüge durch die Gegend und genossen das Leben, genossen unsre Jugend und freuten uns aneinander. Aber wenn der Professor auch weltfremd war, so war er doch ein vortrefflicher Menschenkenner und konnte sehr gut beurteilen, wem er sein Töchterchen anvertrauen durfte, wem nicht. Im übrigen kam ihm Hilda, glaube ich, noch gar nicht erwachsen vor. Väter sind so. –

Ich muß gestehen, daß sie sich anfangs auch herzlich kindisch zeigte. Ganz besonders liebte sie es, meine Geduld auf die unsinnigsten Proben zu stellen. Sie suchte sich immer die steilsten und unbequemsten Wege aus und bürdete mir die lächerlichsten Lasten auf, wahre Heubündel von gepflückten Blumen. Dann tat ich ihr wieder leid, und sie trachtete, ohne sich's anmerken lassen zu wollen, sozusagen um die Ecke, mir etwas Liebes zu tun.

So mochten drei Wochen verstrichen sein. Ich fing an, ein klein wenig zu vermuten, daß ich ihr nicht gleichgültig sei, da meldete mir der Professor, daß der Semmering anfange, ihn zu langweilen, in den nächsten Tagen wolle er mit Hilda nach Ostende abfahren, wo er sich mit der »Miß« ein Stelldichein geben wolle. Es sei auch schon die höchste Zeit, daß besagte Miß ihr Duenna-Amt neuerdings antrete, denn, so versicherte der Professor seufzend, er habe es nachgerade satt, seine Tochter ganz allein zu chaperonnieren.

Diese Bemerkung beantwortete Hilda mit einem schallenden Gelächter, und als der Professor sie etwas barsch danach fragte, womit er ihre Heiterkeit erregt, erwiderte sie ihm: »Mit deinem Lamento über die Strapazen, die dich meine Bemutterung gekostet hat.«

»No! No!« brummte der Professor. »Ich will ja nicht behaupten, daß ich gerade ausschließlich und immer deine Begleitung besorgt hab' ... «

»Ausschließlich und immer?« Hilda lachte noch unbändiger, lachte ein klein wenig nervös ausgelassen, wie mir's schien. »Nicht ein einziges Mal bist du. mit mir am Sonnwendstein gewesen, nicht einmal am Pinkenkobel,« rief sie. »Die ganze Arbeit hast du dem armen Doktor überlassen.«

»Dem armen Doktor! Möcht wissen, warum du den bedauerst!« spöttelte der Professor.

»Weil ich ihn fürchterlich gefrozzelt und geschunden habe, und weil er sich's immer so nett gefallen ließ.« Sie steckte ihre Hände etwas tiefer in die Taschen ihres dunkelblauen Jäckchens. »Hm! Und wann soll die Auswanderung losgehen?« fragte sie.

»Übermorgen!«

»Na, da muß morgen gepackt werden! Heute ... nun, heute könnten wir ein letztes Mal zum Pinkenkobel wandern. – Kommst du mit, Papa?«

Aber das fiel dem Professor gar nicht ein. So wanderten wir denn allein. Beide in dem Bewußtsein, daß es das letzte Mal sein sollte.

Anfangs protzte Hilda sehr damit, wie sie sich auf die Reise freue, auf die Seebäder und auf die Ausflüge in die wundersamen alten belgischen Städte. Nach und nach verstummte sie. Sie war blaß, und von Zeit zu Zeit zog sie die Brauen über den Augen zusammen, als ob sie Tränen darunter verstecken wollte. Sie pflückte keine einzige Blume und hielt sich nirgends auf, aber wir waren ziemlich weit gegangen, und so wenig mir auch danach zumute war, fühlte ich mich doch verpflichtet, an die Rückkehr zu mahnen. »Die Tage fangen bereits an, kürzer zu werden, wir werden eilen müssen, nach Hause zu kommen, ehe es dunkel wird,« meinte ich.

Sie nickte seufzend. Sich auf dem Absatz umwendend, murmelte sie: »Es ist eklig!«

»Was?«

»Daß ich vom Semmering fort muß!«

»Oh, trotz der Seebäder und der alten belgischen Städte?«

»Ja!« Fast böse stieß sie's hervor. Dann beschleunigte sie ihren Schritt mir voraus. Mit einemmal blieb sie stehen. »Und ist's Ihnen denn gar nicht leid?« rief sie, mit dem Fuß aufstampfend. Ihre Stimme war voll Zorn, einem armen, traurigen Zorn, der mit Tränen kämpft.

»Mir?« sagte ich langsam. »Aber mir ist ja zum Sterben. Seit vierzehn Tagen hab' ich mich jede Stunde gefragt: Wie lang kann denn das Glück noch dauern? Plötzlich wird's ein Ende haben, und dann wird die Sonne am Himmel für mich auslöschen, und ich werd' mich den Nest meines Lebens weitertappen ... wie's eben geht!«

»Raimund!« rief sie. Es war das erste Mal, daß sie mich beim Namen nannte. Ihre Augen leuchteten, als hätte man ihr ein Wunder offenbart. »Raimund! Haben Sie wirklich so gefühlt?«

»Und warum haben Sie mir nie ein Wort davon verraten?«

»Warum? Weil ich das Vertrauen Ihres Herrn Vaters nicht mißbrauchen durfte.«

»Ja, aber – wenn Sie – mich wirklich mögen, so hätten Sie's ja Papa einfach sagen können.« Dabei legte sie ihre zarte, weiche Hand auf die meine.

Ich fuhr vor ihr zurück. »Um Gottes willen, Hilda, führen Sie mich nicht in Versuchung. Machen Sie keinen schlechten Menschen aus mir. Ich darf nicht um Sie werben!«

»Und warum nicht?«

»Warum? Weil ich ein armer Schlucker bin, der Ihnen nichts zu bieten hat als seine grenzenlose Liebe.«

Sie sah mich groß an. »Arm! Sie sind arm?« »Ja, sehr arm! Bettelarm!«

Einen Augenblick später lag sie in meinen Armen.

Wir küßten uns nicht einmal, nein, zehnmal; dann rissen wir uns mit einem Ruck voneinander los.

»Komm,« flüsterte sie. »Du hast recht, es wird spät. Papa wartet auf uns.« Und sie legte die Hand in meinen Arm. Aber obwohl es spät war und man auf uns wartete, ging sie sehr langsam. »Weißt du,« begann sie, sich zärtlich an mich lehnend. »Weißt du, wenn du mir wirklich noch nichts zu bieten hast als deine Armut und deine grenzenlose Liebe, so wollen wir unsre Verlobung vorläufig für uns behalten.«

Ich schwieg. Die Heimlichkeit widerstrebte mir. Indessen fuhr sie, ihren Standpunkt verteidigend, fort: »Siehst du, ich finde es ja entzückend, daß du arm bist, aber dem Papa könnte es weniger gefallen, und er könnte bis auf weiteres, das heißt, bis du ihm etwas Lockenderes für mich zu bieten hättest, unsern Verkehr einstellen. Raimund – und das könnte ich nicht aushalten!« Sie schmiegte ihr Köpfchen ein wenig an meine Schulter. »Aber, was ich ebensowenig aushalten könnte,« fuhr sie fort, »das wäre, den Papa zu hintergehen und dir heimlich um den Hals zu fallen, sobald sich uns die Gelegenheit böte. Locken würde mich's ja.« Sie lachte wie eine Waldtaube und fuhr dann leicht schaudernd fort: »Aber es wäre doch häßlich, und ich müßte mich schämen. Und das wäre mir schrecklich. Ich hab' mich noch mein ganzes Leben nicht geschämt. Und drum, Raimund, wollen wir nur noch so lange verlobt bleiben, als der Wald reicht, und von da ab wollen wir wieder nur gute Kameraden fein.«

Natürlich gingen wir langsam, sehr langsam, aber wie wir den Weg auch dehnen mochten, er nahm doch sein Ende, und ehe wir's uns versahen, standen wir vor der Landstraße, die im Gegensatz zu der weichen Dämmerung des Waldes hell und voll nüchternen Tageslichts war. Noch einmal schmiegten wir uns in die zärtlich beschirmenden Schatten hinein, gaben einander einen letzten Kuß, dann seufzten wir und stapften nebeneinander her wie zwei wohlerzogene Menschen, die sich ganz gleichgültig sind. Ich biß die Zähne aufeinander und schwieg. Was ich hätte sagen wollen, durfte ich nicht mehr sagen, und was ich hätte sagen dürfen, interessierte weder sie noch mich. Ab und zu streifte ich sie mit einem scheuen Blick. Sie war totenblaß, ihr Atem kam schwer.

»Es ist schrecklich!« murmelte sie, und trotzig fügte sie hinzu: »Ich glaub', ich halt's nicht aus.«

Dann beschleunigte sie ihren Schritt und eilte dem gemütlich im Tale hockenden »Johann« zu, in dem bereits einige Fenster rot aufzuglühen begannen. Ich sah ihr nach, bis sich das Türchen des Hotelgartens hinter ihr geschlossen hatte und sie im Hause verschwunden war, dann eilte ich in den Wald zurück. Die Dämmerung war jetzt dicht, aber das Mondlicht sickerte durch die Zweige. Ich ging und ging, bis ich die Stelle fand, wo sie mir die Arme um den Hals geschlungen hatte. Da warf ich mich auf den Boden und küßte den Waldweg, über den ihre Füßchen geschritten waren. Ich schluchzte vor Glück und Aufregung. Als ich mich wieder aufraffte, fand ich eine Bank, auf der ich bis über Mitternacht sitzen blieb. Jedes Wort, das sie seit unsrer ersten Begegnung mit mir gesprochen, jeden Blick, den wir getauscht, jedes Musikstück, das wir zusammen gespielt hatten, rief ich mir ins Gedächtnis zurück. Dazwischen rauschten mir Schumannsche Lieder und Eichendorffsche Worte durch die Seele ... Da, mitten in meine Ekstase hinein, tauchte ein blasses, alterndes, schmerzzerwühltes Gesicht vor mir auf, und dann hörte ich knapp neben mir einen kümmerlich wimmernden, fast winselnden Laut. Hab' mir nie erklären können, wo der herstammte, aber deutlich, ganz deutlich hab' ich eine alte Frau weinen hören. Atemlos hastete ich aus dem Wald.

Nach der großen, bis tief in die Nacht hinein verschleppten Aufregung verlangte meine gesunde Jugend nach Schlaf. Ich schlief bleiern, schlief noch fest, als am nächsten Morgen gegen neun Uhr der Professor Fachberg in mein Zimmer trat.

»Na, da krieg' ich ja einen schönen Faulpelz zum Schwiegersohn!« rief er mir lachend zu, indem er Hut und Stock auf einen Tisch legte.

Schwiegersohn! Bei dem Wort durchrieselte es mich köstlich, während ich mich im Bett aufsetzte und mir die Augen rieb. Dann fing ich an, ihm von meinem romantischen Waldspaziergang zu erzählen, von meiner namenlosen Aufregung, meinem ekstatischen Zustand.

Er schnitt mir mit einer gutmütig kategorischen Geste die Rede ab: »Sparen Sie Ihren Atem! Erstens bin ich ein alter Arzt, zweitens bin ich auch einmal jung gewesen ... ta ta ta!« Er verfiel in Schweigen, plötzlich mit humoristischem Zorn: »Halunke, Straßenräuber!« fuhr er mich an.

»Herr Professor, Hildegard kann Ihnen sagen, daß wir beide von unserm Gefühl überrascht worden sind.«

»Hilde hat mir noch mehr gesagt, nämlich, daß sie an allem schuld war. Na, lassen wir das. Einen süßen Schelm kriegen Sie, wenn Sie sie kriegen. – Hm! Hm! Auch ihren schönen Plan hat mir Hilde mitgeteilt, daß sie mir nämlich die ganze, wie sie selbst zugibt, etwas verfrühte Verlobung verheimlichen wollte. Natürlich hat sie's nicht eine Stunde ausgehalten, ist mir um den Hals geflogen und hat mir weinend ihr großes Verbrechen gestanden – zu allerliebst war sie dabei. »Weißt du, Papa«, hat sie mir schließlich zugeflüstert, »es wär' ja doch ein Betrug gegen dich gewesen, selbst wenn wir uns nicht geküßt hätten – und wir hätten uns doch geküßt!« Na, na! Ich werde Sie wohl über mich ergehen lassen müssen, junger Mann.«

Ich nahm seine Hand zwischen meine beiden und preßte sie an meine Lippen. »Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin für Ihre Güte und Ihr Vertrauen,« murmelte ich. »Vergnügen kann Ihnen diese Verlobung Ihrer schönen und glänzend situierten Tochter nicht machen.«

»Vergnügen!« Er zwinkerte humoristisch mit den Augen. »Sollte wenigstens nicht! Entsetzt müßte ich sein. Na, ans Heiraten ist natürlich vorläufig nicht zu denken und an eine offizielle Verlobung auch nicht. Aber mein Haus will ich Ihnen nicht verbieten. Wenn Sie in Wien – wir werden wohl Mitte September von Belgien zurück sein – zweimal in der Woche zu uns kommen wollen, um mit uns zu musizieren, so soll mir's recht sein!«

»Es ist mehr, als ich zu hoffen wagte.«

»Hm! Und somit wäre wohl alles in Ordnung,« seufzte er, indem er meinen Bettrand verließ und sich mächtig zu recken und zu strecken begann, »'s hätt' ärger sein können. Denn, unter uns gesagt, waren Sie mir vom ersten Moment an sympathisch, und ich bin ein Menschenkenner. Schon jetzt hab' ich das Gefühl, als ob Sie zu mir gehörten, als ob Sie von meinem Fleisch und Blut wären. Sapperment, da fällt's mir gerade erst ein« – er fuhr sich mit beiden Händen in die Haare, wobei er seine Frisur sofort in die groteskste Unordnung versetzte: »Hilde behauptet, daß Sie ein ganz armer Schlucker seien.«

»Bin ich auch.«

»Na! Dann ... wo zum Teufel haben Sie Ihre schönen Kleider her? Ist das alles gepumpt?«

»Nein, Herr Professor, ich habe keinen Kreuzer Schulden!« murmelte ich.

»Na ... dann ist mir die Geschichte rätselhaft. Ja, Menschenkind, auf Ihre gelben Schuhe allein hätt' ich Sie ... aber lassen wir das, 's wird schon irgendwie in Ordnung sein.«

Ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen stieg, zum erstenmal fühlte ich, daß die gelben Schuhe sozusagen einem unlauteren Boden entsprungen waren.

Schon setzte ich an zu einer erklärenden Beichte, da erhob er sich, während er äußerte: »Und jetzt könnten Sie endlich ausstehen. Wir erwarten Sie um ein Uhr zu Tisch.« –

War es wirklich, wie mein schlechtes Gewissen mir höhnisch zuraunte, um der gelben Schuhe willen, daß der Professor unsre Bitte um eine Gnadenfrist schroff abschlug und darauf bestand, den nächsten Tag mit Hilda abzureisen? Möglich ist's. Zurückgekommen sind wir auf dieses Detail nicht. Mein Schicksal hat sich nach meiner Rückkehr nach Wien so bald tragisch zugespitzt, daß keiner von uns mehr Muße und Laune hatte, sich mit solchen Lappalien abzugeben. –

Professor Schmieden verstummte. Kurz darauf verabschiedete er sich. Erst nach einer Woche begann er wieder:

Es war fast selbstverständlich, daß ich mich mit der Engigkeit der Verhältnisse meiner Familie in St. Pölten, wohin ich mich vom Semmering aus begab, viel besser abfand als im Frühjahr, ja viel Rührendes und Freundliches darin entdeckte, an dem ich bei meiner Heimkehr von der Riviera lieblos und verdrießlich vorbeigesehen hatte.

Meine Mutter wurde nicht müde, mich über die Fachbergs auszufragen, deren Bekanntschaft gemacht zu haben ich in einem Briefe erwähnt hatte. Ich erzählte ihr viel von ihnen, nicht alles, aber genug, um sie zu veranlassen, ja zu berechtigen, ganz allerliebste Luftschlösser zu bauen. Einmal, zögernd und verlegen, fragte sie mich, ob es nicht unter den Umständen besser für mich sein würde, meine Beziehungen zu der Selvaggini abzubrechen. Denn, wenn für sie und mich die Selvaggini nichts andres war, setzte sie hinzu, als eine vornehme alte Frau und meine mütterliche Freundin, so gäbe es doch viele Leute, die ein Vorurteil gegen Damen vom Theater hegten und alle Komödianten in einen Topf würfen. Ich erwiderte darauf, daß ich mir über diesen Punkt klar sei, und daß glücklicherweise die nahe bevorstehende Abreise der Diva nach Amerika mir die Trennung von ihr wesentlich erleichtere.

Meine Rückkehr nach Wien verschob ich, solange ich konnte, und bat, unter dem Vorwand, meiner Mutter geschäftlich behilflich sein zu müssen, um eine Urlaubsverlängerung in der Kanzlei. Da sie mir bewilligt wurde, freute ich mich sehr und spann mich immer mehr in das stille, hausbackene, aber trauliche Familienleben ein, schrieb am Vormittag ererbte Kochrezepte für meine ältere Schwester ab, die im Begriff stand, sich mit einem jungen Beamten von der Bezirkshauptmannschaft zu verheiraten, und machte am Nachmittag Landpartien mit der ganzen Stadt, d. h. mit der exklusiven Gesellschaftsschicht, mit der meine Familie »selbstverständlich« allein verkehrt.

Gegen den zehnten September erhielt ich einen Brief von der Selvaggini. Sie bat mich, nach Wien zurückzukehren, um den Vertrag mit ihrem amerikanischen Impresario durchzusehen und genau zu prüfen, ehe sie ihn unterschriebe. –

Der Herbst hatte bereits mit seinen goldenen Händen in die Bäume und Büsche des Parks von Monplaisir gegriffen, als ich wenige Tage später in einer Droschke davor hielt. Gelbe Blätter lagen hier und dort auf Rasen und Kieswegen, aber der Reichtum des Laubes war noch unberührt. Die Rosen auf den Rasenplätzen blühten. Der wundersame Septembersonnenschein schimmerte goldig durch silberne Schleier, ein mildes, kaum hörbares Rauschen ging durch die Büsche, über die weichen Herbstharmonien hinüber tönte ein schriller Laut, noch einer ... War das nicht – ? Nein, das konnte doch nicht die Stimme der Selvaggini sein – und doch...

Als ich mich der Tür des Musiksalons näherte, hörte ich einen heftigen Wortwechsel. Eine Männerstimme sagte: »Gefallen hat mir's nicht!« Dann folgte ein Schweigen.

Sie mußte meinen Tritt gehört haben. »Komm nur herein!« rief sie und öffnete selbst die Tür. »Welche Überraschung, nicht wahr?« rief sie triumphierend, indem sie mir beide Hände entgegenstreckte.

Eine Überraschung wohl, aber keine angenehme.

Im ersten Augenblick erkannte ich meine alte Freundin kaum. Ihr graues Haar war hellbraun mit rötlich flimmerndem Schein gefärbt, ihre Figur, offenbar durch eine strenge Diät trainiert, auffallend schlank geworden. Auf eine gewisse Entfernung mochte sie den Eindruck einer jungen Person machen. In der Nähe sah sie älter als früher aus. Der strahlende Ausdruck in ihrem Gesicht erlosch, als sie die Befremdung von dem meinen las. »Du bist nicht einverstanden,« murmelte sie. »Der auch nicht,« fügte sie mit einem herausfordernden Lachen hinzu und deutete auf den Korrepetitor am Klavier.

»Beides Philister! Verstehen nichts!« ertönte eine männlich klingende, aber offenbar weibliche Stimme. Dabei erhob sich eine Dame (ich muß sie wohl so nennen), die indessen, in einer der Fensternischen verborgen, eine Patience gelegt hatte. Sie war ebenso groß wie die Selvaggini, aber sehr stark, trug über einem schwarzen Seidenkleid eine pelzbesetzte Katzabayka, in deren weite Ärmel sie fröstelnd die Hände versteckte, und wiegte sich in den Hüften beim Gehen. Bedeutend älter als die Selvaggini, verriet ihr Gesicht noch immer Spuren ehemaliger Schönheit: dunkelblaue Augen glühten unter dichten geraden Brauen, die Nase war leicht aufgestülpt, aber rassig, der Mund groß und voll. Sie war in eine Wolke von übermäßigem Wohlgeruch eingehüllt und stark, aber nachlässig geschminkt wohl nur aus alter Gewohnheit, da sie offenbar längst keine Wünsche hatte als die, ihrer körperlichen Behaglichkeit ungestört frönen zu können.

Trotzdem sie sehr intelligent aussah, machte sie auf mich einen geradezu abstoßenden Eindruck. Viel willensstärker als die Selvaggini, hatte sie nichts von ihrer Güte, nichts von ihrer Grazie, nichts von ihrem Genie.

»Also das ist der junge Freund? Gratuliere! Guten Geschmack hattest du immer!« Und sie hielt ein langstieliges Lorgnon vor ihre hervorstehenden Augen. »Mach uns bekannt!«

»Meine Stiefmutter – Frau Dombrowska.«

»Genannt Juscha,« vervollständigte die Fremde, »die älteste Freundin unsrer genialen Diva. Aber jetzt setzen Sie sich zu mir, wir wollen die Probe nicht weiter stören, nicht wahr?« Und sie zog mich zu sich in die Fensternische. Indessen schlug der Korrepetitor, den ich von meinem Platz aus genau betrachten konnte, ebenso wie die Selvaggini, ein paar Akkorde an. Ich erkannte das Duett zwischen Marcell und Valentine in den »Hugenotten«. Sie begann die berühmte Stelle: »Ich bin, ich bin – bin ein Mädchen, ach Marcell, das ihn liebt, und das ihr Leben willig für ihn gibt!«

Aller Tradition zum Trotz hatte sie die hohen Töne, anstatt sie wie üblich herauszuschmettern, in einem schüchtern träumerischen Pianissimo verschwimmen lassen, als ob sie Angst hätte, ein heiliges Geheimnis preiszugeben.

»Prachtvoll!« sagte der Korrepetitor.

Und ich wiederholte beklommen: »Prachtvoll!«

Aber dann kam die Arie. Sie setzte alle ihre Kunst daran, begann mit einem leidenschaftlichen Geflüster, schonte ihre Stimmittel bis zu einem letzten Krescendo, das in dem langausgehaltenen hohen C ausklang.

Beifallheischend sah sie sich um. Aber diesmal sagte nur die Dombrowska: »Prachtvoll!« Ich schwieg.

Der Korrepetitor räusperte sich. Nach einer nachdenklichen Pause erklärte er ein wenig trocken: »Es war immerhin eine Leistung.« Worauf er hinzufügte: »Aber an deiner Stelle möchte ich die Valentine doch nicht mehr singen.«

»Und warum nicht?« Ihre Augen sprühten Feuer, ihre ganze Gestalt bebte.

»Weil – weil in dem Theater Menschen anwesend sein könnten, die dich die Valentine früher haben singen hören! – Herrgott, sag' mir nur, wozu du dir das alles antust!«

»Was?« fragte sie eisig.

»Nun, das Wiederaufnehmen deiner Karriere. Einmal muß man aufhören. Und die Selvaggini ist sich's schuldig, daß sie zu rechter Zeit aufhört.«

»Du hast es von jeher verstanden, dich unangenehm zu machen, aber heute ist das Maß voll. Geh!« Sie deutete nach der Tür.

»Mit Vergnügen! Wenn du mich brauchst, weißt du, wo du mich findest,« brummte er und erhob sich von dem runden Drehstuhl vor dem Klavier. Dann bückte er sich nach seinem vertragenen Schlapphut, der unter dem Klavier lag, setzte ihn auf die struppigen Haare, nahm seine Notentasche unter den Arm, musterte mich mit einem langen, leicht zwinkernden Blick und wollte das Zimmer verlassen, als sie ihm nachrief: »Mach doch keine Dummheiten, Boja, du weißt ja, wie ich bin. – Natürlich bleibst du zum Essen.«

»Nein – hab' keine Zeit und keine Lust. Genieße dein junges Leben!« Und er ging.

»Ein guter Musiker, aber ein schauderhaft manierloser Mensch!« murmelte die Selvaggini, indem sie ihm nachsah.

»Ich wundre mich, daß du so viel Geduld mit ihm hast, Marie,« meinte in ihrem polnisch miauenden Ton, träge die Karten zusammenschiebend, die Dombrowska.

»Was willst du? Er ist der beste Korrepetitor, den ich kenne. Ein alter Freund.«

»Ein Freund?« wiederholte ich befremdet.

»Ja,« sagte sie finster, »einer von den wenigen, ganz uneigennützigen, die mir in meinem Leben begegnet sind. Oh, ein anständiger Mensch ist er schon, aber er macht sich manchmal unangenehm. Ich glaube, das tun die anständigen Menschen alle, früher oder später. Es gehört ihrer Ansicht nach mit zu ihren Verpflichtungen ... aber gehen wir essen.« –

Selbstverständlich fehlte bei dem äußerst luxuriösen Lunch auch der Champagner nicht, und ganz ebenso selbstverständlich ließ ich mein Glas, das mir die Selvaggini eigenhändig mit einem gutmütigen und etwas schüchternen Lächeln gefüllt hatte, stehen.

»Sie müssen schon verzeihen, Marie,« entschuldigte ich mich, »wenn ich mich an Hochquellwasser halte, aber der Wein, so inmitten des Tags getrunken, macht mich schwer und dumm, und ich möchte doch nach dem Essen noch meinen geschäftlichen Verpflichtungen nachkommen. Sie wünschten ja, daß ich Ihren Vertrag durchsehen und prüfen möchte.«

»Ach, laß das bis auf morgen,« murmelte sie fast flehend, »heute will ich mich an dir freuen – wenigstens einmal noch. Mein liebes, schönes, edles Kind!« Sie strich mir leise über die Hand. »Ich kann's gar nicht glauben, daß du wieder da bist, ich denke immer, du wirst plötzlich verschwinden wie ein Traum.« Ihre Stimme, die beim Singen so häßlich klang, war beim Sprechen üppig und weich, von einer tiefen Schwermut umflort. Aber sie übte ihren alten Zauber nicht mehr auf mich aus. Es lag zu viel zwischen der schönen Zeit in Wartenberg und jetzt. Ich blieb steif. Die Dombrowska betrachtete mich spöttisch. Sie fraß wie ein Oger und trank die ganze Flasche Champagner aus, griff zuletzt noch nach dem Glas, das ich hatte stehen lassen, und schlürfte es auf einen Zug hinunter. Dabei sagte sie höhnisch: »Denken Sie an mich, junger Mann, Sie werden sich noch oft an das Glas Champagner erinnern, das sie heute stehenließen, und Sie werden bereuen, es nicht getrunken zu haben.«

Die Selvaggini runzelte die Stirn. »Laß sie schwatzen,« murmelte sie. »Die versteht uns nicht – weder dich noch mich. Hast du deinen Abend noch frei? Dann schenk' ihn mir!« Sie sagte es so bescheiden und bittend, daß ich nicht anders antworten konnte als: »Mit Freuden, Marie; das versteht sich von selbst!«, obzwar mir nicht danach zumute war.

»Dazinsky hat sich für heute abend angesagt,« streute die Dombrowska ein.

»Laß ihn doch. Sag' ihm ab!« entgegnete die Selvaggini ungeduldig. »Vous êtes bête à faire renchérir le foin!«, murmelte die Dombrowska, offenbar in der Überzeugung, daß ich kein Französisch verstünde.

»Mag sein! Aber ich will ihn nicht sehen, hörst du – wenn er kommt, so wirf ihn hinaus, danach richte dich!«, erklärte die Primadonna herrisch und scharf. »Und dich will ich auch nicht!«

»Ah! Also ein Tête-à-tête mit diesem jungen Adonis – ich verstehe!« Die Dombrowska lächelte abscheulich.

»Du verstehst nichts,« versetzte die Diva heftig, »gar nichts, weil du eine Freundschaft wie die, die uns beide verbindet, aus deiner schmutzigen Seele heraus nicht begreifen kannst.«

Wir saßen jetzt beim schwarzen Kaffee, ich auf einem Taburett neben dem Klubsessel, in den sie sich zurücklehnte. Der Polin den Rücken kehrend, sagte sie weich, fast flüsternd: »Wir wollen das ganze Jahr ausstreichen, mit seinen Gefühlshöhen und -tiefen, Raimund – wir wollen wieder in Wartenberg anfangen. Weißt du noch, wie schön das war, damals, ehe du krank wurdest? Ich will mich wieder in dein Herz hineinsingen, mein Kind. Meine Arien magst du nicht! Mein Gott, das muß ich so hinnehmen, aber Lieder hörst du mich gern singen, nicht wahr?«

»Und ob, Marie! Leidenschaftlich gern!« Ganz unbewußt nahm ich ihre Hand und führte sie an meine Lippen. Mir war, als ob ich, durch ein Mißverständnis verführt, ihr nun ein Unrecht abzubitten hätte, das ich ihr angetan.

In dem Augenblick erschien der alte Luigi und überreichte mir ein Briefchen; ein Messengerboy habe es gebracht, bemerkte er, und warte auf Antwort.

Ich erkannte die Schrift Hildas.

»Lieber Raimund! Ich schreibe auf gut Glück in deine Kanzlei, da ich deine andre Adresse nicht kenne. Ich weiß gar nicht, ob du schon in Wien bist. Aber wenn, so komm heute in unsre Loge in der Oper, Nr. 11 im ersten Rang. Meistersinger – Reichmann singt. Ich weiß, wie du die Meistersinger liebst. Papa war gnädig, er hat mir gestattet, dich einzuladen. – U. A. w. g. Alles weitere heute abend.

Hilda.«

Es fuhr mir wie ein Blitz durch die Glieder. »Ich kann den Abend leider nicht mit Ihnen verbringen!« rief ich aus. »Und warum nicht?« Sie sah mir mit einem scharfen, bösen Blick in die Augen.

»Professor Fachberg hat mich in seine Loge geladen. Es werden die Meistersinger gegeben. Ich ... Sie begreifen« – ich war aufgesprungen und hatte mich bereits der Tür zugewendet –, »ich muß in mein Zimmer hinunter, die Antwort zu schreiben.«

»Mach doch keine Geschichten! Setz' dich an meinen Schreibtisch, du findest Papier genug ohne Monogramm,« wendete die Selvaggini ein.

Ich zögerte.

»Hast du vielleicht Angst, den Professor zu vergiften, wenn du mein Papier benützest?« fragte sie ungeduldig und scharf. Es widerstrebte mir tatsächlich, Hilda auf dem Papier der Primadonna zu schreiben. Anderseits konnte ich mich nicht entschließen, eine alte Frau, die noch obendrein meine Wohltäterin war, zu verletzen. Es läßt sich nicht leugnen, verehrte Freundin, daß eine Portion Roheit dazu gehört, in gewissen Lebenslagen Charakter zu bewahren, und diese Roheit hatte ich nicht.

So setzte ich mich denn an den Schreibtisch und schrieb auf das erste Kärtchen, das mir zu Händen kam: »Komme mit tausend und tausend Freuden, glückselig. Raimund.«

Erst als ich das Briefchen eingeschlagen und mich umgewendet hatte, um es dem Diener zu übergeben, merkte ich, daß die Diva hinter mir stand und mir offenbar über die Schulter geguckt hatte, während ich schrieb.

Die Tür hatte sich hinter Luigi geschlossen. Wir standen einander gegenüber und blickten uns ins Auge.

»Treuloser!« sagte sie langsam, und das Wort klang von ihren Lippen wie ein Lied, ein von der Selvaggini gesungenes Lied.

»Sind Sie mir böse, Marie?«

»Nein! – Ich bin nur traurig.« Sie stockte einen Augenblick, dann ganz leise: »Traurig, weil ich im ganzen Lauf unsrer Bekanntschaft nicht imstande war, den glücklichen Ausdruck auf dein Gesicht zu zaubern, den es trug, als du das kleine Billett gelesen hast!« Da ich nichts erwiderte – wie hätte ich können? –, fuhr sie fort, und ein wenig Schelmerei durchschimmerte den tiefen Schmerz in ihren Augen: »Also hat der Professor eine Tochter – hätte mir's denken sollen!« Ich nickte halb mechanisch. Sie sagte nichts mehr, seufzte nur einmal sehr tief, dann mit dem schweren, schleppenden, mutlosen Schritt, den ich kannte, verließ sie das Zimmer.

Betroffen blieb ich stehen und blickte ihr nach.

Ein Räuspern der Dombrowska, die, wieder Patiencen legend, in ihrer Fensternische saß, veranlaßte mich, nach ihr hinzublicken. Ihre Patience zusammenschiebend, zündete sie sich eine frische Zigarette an. »Junger Mann,« begann sie in ihrem miauenden, halb deutschen, halb französischen Jargon, »Sie bereiten sich sehr peinliche Stunden für Ihre Zukunft vor. Sie benimmt sich wie eine Idiotin, das leugne ich nicht, mais tout de même, c'est un grand cœur – und Sie – Sie benehmen sich ... comme un goujat

Ich war wütend, am liebsten hätte ich der alten Frau etwas an den Kopf geworfen, und doch ... Kennen Sie den Ausdruck goujat, verehrte Freundin?

Frau Lindenstamm nickte.

Es gibt keine deutsche Übersetzung dafür. Gemeiner Bengel hat eine zu starke, alberner Tölpel eine zu schwache Bedeutung. Nun, ganz tief, im heimlichsten, intimsten Unterbewußtsein fühlte ich, daß ich den Ausdruck verdiente.

Sie betrachtete mich spöttisch, dehnte und reckte sich, dann, träge in die Wolke von Zigarettendampf hinein, die sich indessen vor ihrem Gesicht verdichtet hatte, sagte sie: »Es gibt Lebenslagen, in denen ein Mann sich nicht anders helfen kann, aber wenn er ursprünglich die Neigung hat, ein anständiger Mensch zu sein, so muß er trachten, solchen Situationen vorzubeugen.«

Ich war halb besinnungslos vor Zorn. Was hatte die Kreatur, diese alte Kupplerin für ein Recht, mir Moralpredigten zu halten? Es drängte mich, zwang mich förmlich, sie zu demütigen: »Was wissen Sie von anständigen Menschen!« rief ich. »Haben Sie je einen anständigen Menschen gekannt?«

Sie betrachtete mich gleichmütig, ja überlegen von oben bis unten, dann, mit einem Zynismus, der mir unvergeßlich geblieben ist: »Einen anständigen Menschen – was Sie so nennen! Nicht einen, viele ... Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, ehe ich – was Sie ebenfalls so nennen! – eine Dirne geworden bin. Der Fassadenunterschied ist immens, aber der innere sittliche Unterschied – der, verzeihen Sie mir, ist recht häufig unglaublich gering.«

Wir standen einander gegenüber, boshaft und feindselig, wie zwei bissige Hunde. Da drang das aufdringliche Geklingel des Fernsprechers zu uns herein; gleich darauf erschien Luigi und meldete: »Der Herr Graf Dazinsky läßt fragen ...«

Ehe ich noch vernommen hatte, was der Herr Graf Dazinsky fragen ließ, hatte ich das Zimmer verlassen.


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