Ossip Schubin
Der Rosenkavalier
Ossip Schubin

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Es war Anfang Dezember geworden und ein recht häßlicher Nachmittag, als Professor Schmieden endlich wieder Zeit fand, sich am duftenden Holzfeuer Frau Lindenstamms zu wärmen.

»Ich glaube, das ist der Luxus, den ich am meisten genieße,« versicherte er ihr gutmütig, »ein Klubsessel neben einem flackernden, prasselnden Holzfeuer und in lieber Gesellschaft.« Er verneigte sich ritterlich vor der alten Dame, die ihm indessen eine Tasse Tee gereicht hatte.

»Besonders an einem recht häßlichen Tag wie dieser, wenn der Regen gegen die Fenster drischt und der Sturm im Kamin singt, nicht wahr, mein lieber Professor?« entgegnete ihm die Dame.

»Jeder Genuß gewinnt durch den Kontrast. Darum haben Sie auch den Wohnungswechsel so genossen, als Sie sich endlich entschlossen hatten, die Pension der Frau Müller gegen das Haus der Selvaggini umzutauschen.«

»Endlich!« wiederholte der Professor bitter. »Sie denken zu gut von mir. Ehe zwei Tage verflossen, war ich bei ihr. Und wie ich aufgeatmet hab'! Sie haben ganz recht, der Kontrast spielt eine große Rolle dabei.«

»Es war die Übersiedlung aus dem Alltag ins Märchenland,« murmelte Frau Lindenstamm und fing an, die Maschen an ihrer Strickerei zu zählen, vielleicht um einen Vorwand zu haben, dem Professor nicht ins Gesicht zu sehen.

»Ja, aus dem Alltag ins Märchenland,« wiederholte er leise. »Trotz all dem Schauerlichen, das darauf gefolgt ist, trotz dem gemeinen Verdacht, der meine Beziehungen zu der genialen Frau besudelt hat, kann ich mich nicht ohne Wonneschauer an meinen Einzug unter ihr Dach erinnern. Ich hab' Ihnen geschildert, wie mir bei meiner Ankunft in Wartenberg zumute war. Genau dasselbe, nur in zehnfach gesteigertem Maß empfand ich jetzt. Damals hatte mich nämlich das Unästhetische in der Werkeltagsexistenz, auf die ich schließlich angewiesen war, noch lange nicht so abgestoßen wie zu einer Zeit, wo ich bereits den Komfort eines luxuriösen Heims kennengelernt, ja mich daran wie an etwas Selbstverständliches und Unentbehrliches gewöhnt hatte.

Einer der ersten heißen Maitage war's. Die Sohlen brannten mir unter den Füßen, als ich von ein paar Besorgungen, die ich noch in aller Eile nach der Kanzleiarbeit erledigt hatte, in meine Pension zurückkehrte, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Gerade im Begriff, die Häutchen von einer Tasse, entmutigend grauen Milchkaffees wegzusäubern (meiner alltäglichen Jause), überlegte ich, ob ich meinen Koffer nachschicken und die Straßenbahn benutzen oder mir, abgehetzt, wie ich war, eine Droschke spendieren solle.

Die zerzauste Magd, welche die ganze Bedienung des Kosthauses besorgte und der Hitze und Ersparnis halber ohne Strümpfe in niedergetretenen Lederpantoffeln herumschlumpte, meldete mir, der »Hausmeisterbub« sei draußen, um meinen Koffer herunterzutragen, es warte ein Wagen auf den Herrn Doktor. – Die Selvaggini hatte ihr Auto nach mir geschickt, eine Limousine mit einem eleganten Chauffeur im langen Lederrock. Die Fahrt auf den weichschwingenden Gummireifen hatte etwas unendlich Einschmeichelndes, Beruhigendes, so daß ich's fast bedauerte, als das Auto vor einem großen altmodischen Gittertor hielt. Das Tor stand in einer alten grauen Steinmauer, auf deren Kamm zwischen halbausgebrochenen Ziegeln allerhand blühendes Unkraut wucherte, und hinter der ich ein altväterisches Gebäude in österreichischem Barockstil, halb Schlößchen, halb Palast, erblickte. Auf allen blank in ihren prunkvoll geschwungenen Umrahmungen stehenden Fenstern brannte der Abendsonnenschein wie eine Illumination. Die Fenster waren groß, aber die Scheiben eher klein – zehn in jedem Fenster, fünf auf jeder Seite. Wenn ich noch hinzufüge, daß das Haus mit Hohlziegeln gedeckt war und einen länglichen niedrigen Giebel hatte, den ein Relief mit anmutigen Amoretten schmückte, während an beiden Seiten des Giebels eine ziemlich gemischte Mythologie auf dem Sims herumtanzte, so können Sie sich das kleine Lustschloß (es hieß Monplaisir) wohl genau vorstellen. Nur in Wien, Prag und Preßburg gibt es noch solche Häuser. Für Prag sind sie typisch, in Wien und Preßburg sind sie selten. Vielleicht wirkte darum die allerliebst launische Vornehmheit des malerischen Gebäudes so besonders stark auf mich.

Der Flieder stand in voller Blüte. In seinen Duft mischte sich der Hauch von frischgenetztem und frischgeschnittenem Rasen. Die Vögel zwitscherten weich, manchmal plötzlich stockend, dann laut jubilierend, als hätten sie sich viele zärtliche und einige bedenkliche Dinge zu sagen. Zugleich hörte man das eigentümlich kühlende Rauschen einer Gartenspritze.

Der alte Luigi erwartete mich, um mich in meine Wohnung zu geleiten. Dann bat ich ihn, mich zu ihr zu führen. –

Die Zeit, die nun folgte, war himmlisch. Aber es war nicht meine entzückende Wohnung, weder das elastische Bett mit dem kühlen, seidenfeinen Linnen, noch mein Schreibzimmer mit den bequemen roten Leder-Klubsesseln und mit den Photographien von Braun neben alten Radierungen an der Wand; es war nicht der ebenso vornehme wie gemütliche Zuschnitt der ganzen Existenz in Monplaisir, in die ich mich bald als ein ganz und gar zugehöriger Hausgenosse einfügte; nein, es war sie, ihre Persönlichkeit, die den wundersamen Zauber auf mich ausübte.

Meine Sinne hat sie kalt gelassen, aber mein Empfindungsleben hat sie wie kein zweiter Mensch, sei's Mann oder Frau, angeregt, beschäftigt und beglückt. Wie ich mich immer aus der Kanzlei heraus zurückfreute auf Monplaisir! Wie eilig ich's hatte, die Treppe hinaufzustürzen zu ihr – immer zwei Stufen auf einmal und ... Sie wünschen, verehrte Freundin?« unterbrach der Professor seine Erzählung.

»Oh, nichts!«

»Doch! Sie haben sich soeben geräuspert. Offenbar reizte es Sie, eine Frage an mich zu stellen. Ich stehe Ihnen zu Diensten. Ihre Fragen sind immer interessant.«

»Nun,« – Frau Lindenstamm breitete ihre Strickerei, eine zu wohltätigen Zwecken bestimmte braune Wollschärpe, auf ihren Knien aus und begann etwas zögernd – »hat denn die Selvaggini in jener Zeit Ihres ziemlich vertraulichen Verkehrs nicht ein einziges Mal den – Pferdefuß gezeigt?«

Der Professor zuckte unangenehm berührt zusammen und blickte unter gerunzelten Brauen ein Weilchen vor sich hin. Endlich sagte er: »Gezeigt mag sie ihn wohl haben – aber gesehen hab' ich ihn nicht. Als Entschuldigung, vielmehr Erklärung für meine Blindheit kann ich nur meine grenzenlose Verehrung für die geniale und fesselnde Frau anführen. Ich bewunderte alles an ihr, von dem Duft, der ihren Kleidern, ja jedem Gegenstand entströmte, den sie in Gebrauch hatte, bis zu dem Luxus, der sie umgab, den Kunstschätzen, die diesen Luxus adelten, bis zu der auf Gummirädchen dahinschwebenden Behaglichkeit ihres Hauswesens. Das alles gehörte zu ihr, machte zusammen ein Ganzes aus, war die Selvaggini. – Ja, ja, Gnädigste, ich weiß, was Sie fragen wollen: ich hätte mir doch eine Vorstellung machen müssen über ihr Künstlerleben, ihre Vergangenheit. Nun ja, ich wußte, daß sie sich im gewöhnlichen Leben Frau Dembitzka nannte, und glaubte zu wissen (irgend jemand hatte mir das mitgeteilt), daß sie nach kurzer, sehr unglücklicher Ehe nur mehr für ihre Kunst gelebt hatte. Daß sie von vornehmen Verehrern, wie zum Beispiel Dazinski, umschwärmt und, zu einer zweiten Ehe gedrängt, es dennoch vorgezogen hatte, ihre Freiheit zu bewahren, erhöhte nur meinen Respekt für sie. Von der dämonischen Leidenschaft, die ihre Leistungen auf der Bühne durchglüht, und die das Publikum bis zum Wahnsinn hingerissen haben sollen, ahnte ich nichts. Mit der Primadonna hatte ich nie zu tun gehabt. Ich kannte nur die große Dame und die gütige Frau, die Liedersängerin, deren Stimme mich an das Edelmetall alter katholischer Kirchenglocken erinnerte und deren Vortrag mich zu Tränen rührte. Ich glaubte tatsächlich in ihr jenes Phänomen gefunden zu haben, das eine große Künstlerin von tadelloser Sittenreinheit bedeutet, und ich legte Wert auf diese Sittenreinheit. Es war recht kleinstädtisch von mir, darüber bin ich mir längst klar – und bin Ihnen dankbar dafür, liebe gnädige Frau, daß Sie nicht über mein Geständnis gelächelt haben.«

»Nun, Sie hat Ihnen eben den Verstand weggesungen,« meinte nach einer nachdenklichen Pause Frau Lindenstamm.

»Sie hat mir fast gar nicht vorgesungen,« erwiderte der Professor. »Ihre Sparsamkeit darin war die eine große Enttäuschung, die ich in Monplaisir erlebte. Wenn ich sie um ein Liedchen bat, vertröstete sie mich auf später. Da sie während der Stunden, die ich in der Kanzlei verbrachte, mit ihrem Korrepetitor ihre Rollen durchnahm, fühlte sie sich des Abends zu müde, um mir noch ein Privatkonzert zu geben, erklärte sie mir. Hab' nur ein wenig Geduld, bat sie mich, ich will dich später reichlich entschädigen. Indessen mußt du mir vorspielen. Und das tat ich denn, so gut ich konnte, und mit großem Vergnügen. Denn ich fühlte, daß ich Fortschritte gemacht hatte. Sie war entzückt von meinem Spiel, konnte gar nicht Lobesworte genug finden für meine bescheidenen Leistungen. Gewiß muß ihre Begeisterung übertrieben gewesen sein. Immerhin hörte sie mir wirklich gerne zu. – Wenn ich nicht spielte, plauderten wir. Sie sprühte von Witz und Übermut, erzählte die unglaublichsten Dinge von russischen Großfürsten und venezianischen Gondolieren, die beide gleichermaßen in sie vernarrt gewesen seien. Später, wenn ich an ihre Erzählungen zurückdachte – viel später, als mir bereits die Augen aufgerissen worden waren, wunderte ich mich selber darüber, wieso es mir nie aufgefallen war, daß sie ihre Schilderungen häufig am interessantesten Punkte abbrach. Sie mag wohl im allerletzten Augenblick vor dem Abgrund stehengeblieben sein und eine ungeheuerliche Schlüpfrigkeit unterdrückt haben. Aber sie hat sie eben unterdrückt, nie hat sie sich einer Taktlosigkeit vor mir schuldig gemacht im Gespräch. Ganz besonders geschickt war sie in einem Punkt. Sie hat mir tatsächlich viel zu tun gegeben, so daß nicht einen Augenblick in mir die Empfindung aufkommen konnte, daß mein Sekretärposten bei ihr eine Sinekure, ein Vorwand sei ... Die Gastfreundschaft, die ich bei ihr genoß, das war eine andre Sache. Aber ich fühlte ebenso wenig Bedenken, sie von ihr anzunehmen, als wenn sie eine liebe ältere Verwandte von mir gewesen wäre. Mein Honorar war gering, immerhin, da mein Leben mich so gut wie nichts kostete, machte es im Verein mit dem, was ich in der Kanzlei verdiente, ein ganz anständiges Taschengeld aus. Ich konnte meinen Schwestern hübsche Geschenke senden und meine Garderobe erneuern, was sie allerdings sehr nötig hatte. Daß ich mir hierbei einige Stutzereien erlaubte, kann ich nicht leugnen. So sehr euch's heute verwundert, neigte ich damals dazu, wie ich mich überhaupt immer mehr an den mich umgebenden Luxus gewöhnte. Meine Verweichlichung, die schon an der Riviera begonnen, hatte sich ungemein entwickelt. Traurig sah ich der Stunde entgegen, wo ich mich von der Selvaggini würde trennen müssen – von ihr und all dem reizvollen ästhetischen Beiwerk, das mit dem Leben unter ihrem Dach zusammenhing. Mußte die Stunde wirklich kommen? Anfangs hatte ich ihre immer häufigeren und dringenderen Vorschläge, sie als ihr Sekretär nach Amerika zu begleiten, als eine Art Scherz mit einem dankbaren Handkuß lachend abgelehnt. Dann hatte ich angefangen, mit dem Gedanken zu tändeln, schließlich ihn ernstlich in Erwägung zu ziehen. Der Widerwille vor dem Alltag vereinte sich in mir mit dem neugierigen Wandertrieb der Jugend und der Sehnsucht nach interessanten Erlebnissen.

Sie sehen, nur ein Wunder konnte mich davor retten, so ganz allmählich die Präzision meiner sittlichen Anschauungen zu verlieren und dann – was unausbleiblich gewesen wäre – in diesem süßbetäubenden Lotterleben zu verliedern.

Das Wunder kam. Es war ein häßliches, schmerzliches Wunder. Die Selvaggini zeigte den Pferdefuß. Ich erinnere mich noch, als ob es gestern gewesen wäre, des Abends, wie, als wir gerade nach Tisch mit unserm schwarzen Kaffee auf der Terrasse saßen, Luigi mit einem grünumgürteten Telegramm auf silbernem Präsentierbrettchen an sie herantrat.

»Mach's auf!« sagte sie, indem sie es mir zuschob. »Gewiß wieder ein Theaterdirektor aus der Provinz, der um eine Audienz bittet.« Es hatte in letzter Zeit derartige Telegramme geregnet, und ein großer Teil meiner geschäftlichen Tätigkeit hatte darin bestanden, sie zu beantworten, abweisend oder entgegenkommend, wie's der Diva beliebte; denn sie hatte für einige der Provinztheater, in denen sie ehemals große Triumphe gefeiert und vom Publikum tobsüchtig beklatscht worden war, eine große Anhänglichkeit bewahrt und zeigte sich dort gerne zu einem kurzen Gastspiel bereit. Als echte Künstlerin, mehr ehrgeizig als habgierig, gab sie nie um einen Heller von ihren gewohnten Forderungen preis, doch erklärte sie sich in gewissen Fällen in kleineren Städten, wo es den Theaterdirektoren unmöglich gewesen wäre, ihren Ansprüchen zu genügen, gerne bereit, umsonst zu singen, für einen wohltätigen Zweck.

Natürlich verursachte mir das stets viel langweilige Schreiberei, die ich mit gutem Willen, aber ohne allen Enthusiasmus besorgte. So öffnete ich denn recht gleichgültig das Telegramm. Ehe ich den Wortlaut erfaßt, las ich die Unterschrift: Dazinsky. Ärgerlich zusammenzuckend reichte ich ihr das Blättchen.

Kaum hatte sie es durchflogen, so eilte sie, offenbar ganz von einer freudigen Aufregung durchflammt, an ihren Schreibtisch. »Ich bitte dich, klingle!« rief sie mir zu.

In großer Hast reichte sie dem herbeieilenden Diener das von ihr soeben ausgefüllte Telegrammformular und trug ihm auf, sofort damit auf die Post zu gehen.

»Ich wußte gar nicht, daß sich Dazinsky in Wien befindet,« bemerkte ich etwas übellaunig.

»Wozu hätte ich dir's sagen sollen, da du ihn nicht leiden kannst!« rief sie lachend und zog mich am Ohrläppchen. »Eifersüchtiger!«

»Daß ich ihn nicht leiden kann, ist richtig,« erwiderte ich, »aber eifersüchtig bin ich nicht, und ich verschmähe diese Konkurrenz.« Dann, da ich doch neugierig war, fragte ich: »Er scheint Ihnen eine angenehme Nachricht übermittelt zu haben, Marie?«

»Ja, der Großfürst Michael lädt mich für morgen zum Dejeuner im Hotel Sacher. Er ist ein alter Freund von mir und von Dazinsky – einer meiner größten Verehrer. Er will ein Gastspiel für mich vermitteln, in Petersburg, sobald ich in Amerika fertig bin. Du kannst dir nicht vorstellen, was das bedeutet – ein Gastspiel in Petersburg!« »Wohl kann ich es mir vorstellen, den ... großen Donner!«

»Ja! – den großen Donner,« murmelte sie, lehnte sich in ihren Sessel zurück und lächelte erinnerungsversunken.

»Da werden Sie mich morgen nicht brauchen,« bemerkte ich.

Sie fuhr auf wie aus einem Traum. »O doch – ich hab' sogar allerhand ganz besondere Anliegen an dich. Komm etwas später als gewöhnlich ... erst gegen fünf.« –


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