Ossip Schubin
Der Rosenkavalier
Ossip Schubin

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So kam ich denn, wie mir befohlen worden war, um fünf.

Es war Mitte Juni und sehr heiß. Die Fenster standen offen. Aus dem Garten drangen Wogen schwülen Akazienduftes, in die sich der bescheidenere Wohlgeruch des Jasmins mischte, wie eine süße Wehmut in eine große Leidenschaft.

Die Wände des kleinen runden Kuppelsaales waren ganz bedeckt mit Lorbeerkränzen, von denen lange, mit goldgedruckten Widmungen geschmückte Bänder herunterhingen. Die trocknen Lorbeerzweige knisterten in der Hitze. In den lorbeerbekränzten Wänden waren zwei Türen, außerdem befanden sich darin zwei Portieren aus rotem Damast, von denen ich mich nie gefragt hatte, was dahinterstecke. Mir wurde die Zeit lang, und so zog ich aus müßiger Neugierde den einen Vorhang zurück. Es stellte sich heraus, daß er eine Nische verhüllte, in der sich ein großer aufrecht stehender schwarzer Sarg befand, dessen Deckel mit einem silbernen Fragezeichen geschmückt war. Ich schrak zusammen und war nun natürlich sehr begierig, zu erfahren, was sich hinter dem zweiten Vorhang verbarg. Ein großes Ölgemälde. Eine Nonne stellte es dar in weißem Gewand mit schwarzem Nonnenschleier über der weißen Stirnbinde. Mit ihren beiden Armen hielt sie den Stamm des Kreuzes umschlungen, aus ihrem emporgerichteten Antlitz suchten die traurigen Augen den Heiland. Nie habe ich diesen Ausdruck ekstatischen Flehens auf irgendeinem Menschenantlitz übertroffen gesehen, weder auf einem Bild noch im Leben. Der Ausdruck teilte sich sogar den bleichen, das Kreuz mit Zärtlichkeit, Verzweiflung und Ehrfurcht umklammernden Händen mit.

Das ist eine heilige, sagte ich mir, aber eine, die früher ein von Leben und Leidenschaft glühendes Weib gewesen und aus Liebe heilig geworden ist.

Und wie schön sie war, wie unvergleichlich die wundervoll schwermütige Linie der himmelssehnsüchtigen Lippen, die Form der herrlichen, dunkelumsäumten Augen! Die Augen kamen mir bekannt vor. Das ist ja sie, durchzuckte es mich plötzlich, ist die Selvaggini! Nun versenkte ich mich mit einer Art Inbrunst in den Anblick des Bildes. Mir war's, als hätte ich sie durch diese Darstellung ihrer Persönlichkeit von einer neuen, noch anziehenderen Seite kennengelernt als bisher. Tränen der Andacht und Rührung traten mir in die Augen. Mit gefalteten Händen stand ich vor dem Bild, in Anbetung versunken – da, ein Aufrascheln weicher Seide, das Ticktack eines leichten rhythmischen Tritts – eine Wolke betäubenden Wohlgeruchs, viel, viel stärker, als er sie sonst zu umgeben pflegte ... meine Wohltäterin stand neben mir.

»Ei!« rief sie, nicht böse, nur neckend. »Hat's dich einmal gerissen, meinen Geheimnissen nachzuspüren?«

»Ich dachte nicht, daß es sich um Geheimnisse handelte,« murmelte ich verträumt, wobei ich noch immer nicht den Blick von dem Bilde losreißen konnte, nicht einmal, um meine Wohltäterin zu beglücken. »Warum haben Sie mir so lange den Anblick dieses wundervollen Porträts mißgönnt?«

»Warum?« fragte sie mit der verschleierten, schleppenden Stimme, deren ich mich von Wartenberg her erinnerte. »Warum – weil mich keiner mehr auf dem Bilde erkennt, und weil das weh tut! ... Du hast's erkannt?«

»Natürlich! Zuerst haben mich Tracht und Ausdruck irregeführt, aber nur ganz vorübergehend. Es ist ja schreiend ähnlich. Kein Mensch hat solche Augen außer Ihnen. Es stellt Sie gewiß in der Rolle der heiligen Elisabeth dar.«

»Ja, in der Rolle der heiligen Elisabeth!« murmelte sie. »Möchtest du mir's glauben, daß ich, wenn ich die heilige Elisabeth sang – die heilige Elisabeth war? Tagelang dauerte der Zustand der Exaltation. Dann freilich,« heiser, kaum hörbar fiel es von ihren Lippen, »forderte das Leben sein Recht!« Und mit unglaublicher Schnelligkeit aus einer Stimmung in die andre überspringend: »Man kann nicht immer eine Heilige sein – und ... man kann auch nicht immer ein Heiliger bleiben!« leise kichernd, mit einem Kichern, das warm und wollüstig wie das Girren einer Turteltaube klang, fuhr sie mir über die Wange. Unangenehm berührt wandte ich mich nach ihr um.

In glänzender Toilette, einen großen schwarzen Federhut auf dem Kopf, eine dicke Perlenschnur um den Hals, war sie offenbar in gehobener Stimmung von dem Frühstück bei dem Großfürsten zurückgekehrt. Ihre Augen hatten einen verfänglichen Glanz, ihre gefärbten Lippen waren feucht. Sie hielt den Kopf zurückgebogen und blinzelte mich beim Sprechen herausfordernd an. Noch nie hatte ich sie so gesehen. Eine Art Grauen, das ich Mühe hatte zu verbergen, schnürte mir die Adern zusammen.

»Haben Sie sich gut amüsiert?« fragte ich, mich zum Reden zwingend.

»O ja, es war herrlich, herrlich! Alle waren sie in mich verliebt, wie in der alten Zeit – alle!« Sie ließ sich in einen Sessel gleiten. Die Augen geschlossen, versenkte sie sich in einen Traum. Dabei wechselte ihr Mienenspiel beständig, bald Schmerz, bald herausfordernde Schelmerei ausdrückend. Mit einemmal öffnete sie die Augen, und dann, auf ein Bild über einer der Türen deutend, rief sie: »Und das hast du nicht erkannt?« Sie lachte aus vollem Halse. Mir aber erstarrte das Blut in den Adern, worauf es gleich darauf ungestüm zu rasen begann.

»Das ist ... das sind ...« begann ich und kam nicht weiter.

»Das war ich auch!« Und den Kopf zurückwerfend, ganz der Rolle vergessend, die sie bis dahin vor mir gespielt hatte, der Rolle der edlen, mütterlichen Frau, murmelte sie: »Ja, das war ich auch, als Venus! Beide Rollen hab' ich gesungen, beide mit demselben Erfolg – einem närrischen Erfolg. Wenn ich aus den Wolken heraus die Worte fang: »Geliebter, komm, kehr' bald zurück!«, rasten die Leute mitten in die Musik hinein mit ihrem Applaus und Geschrei – es war abscheulich, geschmacklos ... nein, es war berauschend, war wundervoll ...«, und noch einmal auf das Bild deutend: »Ich wollte, du hättest mich damals gekannt. Schön war ich, weiß Gott, und jetzt ... Alle Tage hast du das Bild gesehen, und nie ist dir's eingefallen, daß ich das sein könnte?«

»Auf den Gedanken wäre ich allerdings nie verfallen,« stammelte ich.

Das Bild – es hing über der großen Glastür, die auf den Balkon hinausführte – stellte einen herrlichen weiblichen Körper dar, auf einem Ruhebett hingestreckt, die Glieder nur leicht verhüllt.

Bis dahin hatte sie in ihrer leichten Trunkenheit – zu ihrer eignen Entschuldigung muß ich wohl endlich ihren Zustand mit dem richtigen Namen benennen – vor sich hingeredet, ohne mich nur anzusehen, ganz in ihre von Champagner und Erinnerungen erhitzten Gedanken eingesponnen. Mit einemmal richtete sie den Blick auf mich. Sie erschrak über das, was sie angerichtet hatte, aber redete sich in eine große Entrüstung über meine lächerliche Prüderie hinein. »Wie er rot wird, der Herr Puritaner!« höhnte sie.

»Ich bin kein Puritaner,« erwiderte ich, nicht ohne eine gewisse Gereiztheit, indem ich die Augen jetzt voll zu ihr aufschlug, »Und ich nehme es übel, wenn Sie mich so nennen!«

»Hm! Hm! Warum denn. Kleiner?«

»Weil ein Puritaner fast immer ein Mensch ist ohne Güte und ohne Schönheitssinn.«

»Ach so, ich dachte, es sei ein Mensch mit einem Überschuß an Moral.«

Ich zuckte die Achseln. »Wer sagt Ihnen, daß ich einen Überschuß von Moral besitze?« erwiderte ich trotzig. »Mein bißchen Moral ist in meinem Schönheitssinn mit eingeschlossen. Moral ist für mich einfach sittliche Ästhetik.«

Wie Sie sehen, hatten sich meine Lebensanschauungen im Laufe der letzten Monate weit von St. Pölten entfernt.

»Ei – ei!« Sie lachte ein wenig spöttisch. »Sieh doch! Aus meinem kranken Kind ist ein Lebemann geworden. Hm! Hm! – Und dein sittlicher Schönheitssinn fühlt sich durch dieses Bild verletzt? Das ist ja zum Totlachen. Wenn du kein Puritaner bist, so bist du wenigstens ein sehr beschränkter Philister. Vermagst du denn wirklich nicht die künstlerischen Qualitäten des Porträts zu würdigen, nur ...« – sie lachte gezwungen und errötete jetzt selbst – »nur weil ... weil sich ... die Spange von der Schulter gelöst hat? Makart – das Bild ist nämlich von ihm – bestand darauf, er sah nichts Anstößiges dabei. – Er war eben ein Künstler,« fuhr sie fort, »und meine Schönheit war etwas Heiliges für ihn. eine Offenbarung Gottes, eins seiner herrlichsten Meisterwerke – pflegte er zu sagen –, und du bringst nichts fertig, als ein dummes Gesicht zu schneiden und rot zu werden.« »Oh, die künstlerischen Qualitäten des Bildes weiß ich wohl zu würdigen,« entgegnete ich, sehr trocken, fast abweisend, da ich es geschmacklos und taktlos von ihr fand, mich wegen meines vielleicht übertriebenen Zartgefühls wie einen Schuljungen abzukanzeln. »Es hat mich nur unangenehm berührt, weil es Ihr Bild ist!«

Der Schlag traf. Sie wurde totenblaß, gleich darauf raffte sie sich zusammen, ihre Augen sprühten Feuer. »Hältst du mich vielleicht für eine Pensionärin?« rief sie. »Nun, dann stehen dir schöne Überraschungen bevor. – Bin wohl auch nicht schlimmer gewesen als eine andre, aber vielleicht aufrichtiger und uneigennütziger. Nicht so viel hab' ich mir aus der Meinung der Welt gemacht!« Sie schnalzte mit dem Finger. »Die Welt! Was kümmert sie sich übrigens um das Privatleben von uns andern? Die Welt ist gescheiter als du und weiß, daß man nicht Begeisterungen entzünden kann, wie ich sie entfesselt habe, ohne daß jeder Blutstropfen in unserm Körper glüht vor Leidenschaft, und ohne daß jeder Nerv in uns wund war' von traurigen Erfahrungen. Denn traurig sind sie ja immer, das ist der unausbleibliche Schluß. – Aber was tut's, wenn unsre Kunst nur um eine Schattierung reicher wird dadurch!«

Sie schwieg erschöpft, hatte offenbar schon viel mehr gesagt, als sie hatte sagen wollen. Wieder heftete sie den Blick auf mich. Diesmal erkannte sie den ganzen Umfang des Unheils, das sie angerichtet hatte, und noch bleicher werdend, murmelte sie: »Das ist ja übrigens alles längst vorbei, ich bin ein andrer Mensch geworden, eine alte Frau mit ernsten Lebensanschauungen, deine Vize-Mama, die sich freut, wenn sie ihrem lieben Buben das Leben angenehm machen kann ... Schlimmer Bub, was für ein böses Gesicht er macht! Nun, er wird schon wieder gut werden. Drück' auf die Klingel!« und mir die Hand auf die Achsel legend: »Ich habe Eiskaffee bestellt, weil es zu heiß ist für Tee.«

Befremdet starrte ich sie an. Glaubte sie wirklich, daß sie meine Entrüstung, meinen Ekel mit solchen läppischen Verwöhnungen zu beschwichtigen vermochte? »Wenn Sie mich geschäftlich brauchen, so stehe ich Ihnen natürlich zur Verfügung,« erwiderte ich ihr. »Wenn nicht, so bitte ich, mich zurückziehen zu dürfen. Ich ... ich habe rasende Kopfschmerzen.«

Ihre Hand glitt von meiner Schulter. Die Tür schloß sich hinter mir.

Was in ihr vorgegangen ist, weiß ich nicht, aber ich sehe sie noch vor mir, wie sie mit tiefgesenktem Kopf wie entgeistert stehenblieb, als ich das Zimmer verließ. Ich aber – werden Sie mir's glauben? –, wie von einem Schlage betäubt, tappte ich in mein Zimmer. Dort warf ich mich auf mein Bett, biß in die Polster und schluchzte.

Nun kam eine traurige, drückende Zeit für mich. Es gab Momente, in denen ich mit meinem so plötzlich gegen sie erstandenen Abscheu wie gegen ein ekelhaftes Ungeheuer rang. Meine alte Verehrung suchte irgendeinen Ausweg aus dem widerwärtigen Eindruck. Zu andern Malen war ich knapp daran, meine Siebensachen zu packen und mich ohne Bescheid davonzumachen. Dann wieder trat mir plötzlich irgendein Zug ihrer rührenden Güte ins Gedächtnis. Mein Herz schrie nach ihr.

Trotz all meiner Entrüstung blieb die Situation für mich bedenklich. Wenn sie nur etwas geschickter gewesen wäre, hätte sie mich zurückgewonnen. Nachdem sie in einem Augenblick sinnloser Überreizung das Ideal, das ich mir von ihr gemacht, in Fetzen zerrissen, hätte sie sich sofort entschließen sollen, die Kosten ihrer Übereilung mit Würde zu tragen. Sie hätte ruhig bei ihren Lebensanschauungen verharren und mich von der Höhe ihres künstlerischen Standpunktes herab gutmütig und überlegen für meine philiströse Beschränktheit bemitleiden sollen. Sie hätte groß bleiben müssen, und da hätte ich sie immerhin als ein wundervolles Ungeheuer weiter bewundert, ja vielleicht hätte sie meine Weltanschauung zu beunruhigen angefangen.

Statt dessen – und das war ein großes Glück für mich – gab sie klein bei und glaubte mit ein paar Zugeständnissen den Riß zwischen uns verkitten zu können.

Als sie mich nach drei Tagen zum erstenmal wieder zu sich befahl, deutete sie mit einem schelmischen Lächeln auf den Platz über der Tür, wo ihr Venusporträt gehangen hatte, das nun von einem sehr langweiligen und spießbürgerlichen Stilleben ersetzt worden war.

»Ist mein großes Kind zufrieden?« fragte sie. Offenbar hatte sie sich auf eine tiefe Rührung gefaßt gemacht. Aber anstatt ihr mit Begeisterung zu danken und die Hand zu küssen, zuckte ich mit den Schultern. »Keineswegs,« erklärte ich. »Das Stilleben ist häßlich und paßt nicht hierher. Ihr Bild war doch wenigstens schön, ein Kunstwerk und ein herrlicher Gegenstand. Nachdem die erste Überraschung vorüber war, hätte ich mich daran gewöhnt. An das Stilleben werde ich mich nie gewöhnen.«

Der trockene Ton, in dem ich das vorbrachte, tat ihr weh. Sie sah mich mit einem betroffenen, traurigen Blick an.

Gleich darauf lud sie mich für den Abend zu Tisch. Ich lehnte die Einladung unter irgendeinem Vorwand ab.

Ich war grausam. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur anführen, daß ich unsagbar litt. In der Jugend trennt man sich schwer von einem Ideal, und wenn auch das Ideal, das ich mir von ihr gemacht, wie es mir schon damals zu dämmern begann, eine recht kindische, obschon rührende Leistung meiner Phantasie gewesen war, so hatte es doch fest eingewurzelt in meiner Seele gestanden, und als sie es so erbarmungslos mit den Wurzeln ausgerissen, hatte mir das unbeschreiblich weh getan. Von da an vermied ich es, ihre Diner-Einladungen anzunehmen, hielt mich an den Abenden unter irgendeinem Verwand von Monplaisir fern und fing an ernstlich zu überlegen, wie ich mich ohne Roheit – das Wort Unzartheit genügte in diesem Falle nicht – von meinen Beziehungen zu der Künstlerin losmachen könne. Auch mit dem Gedanken, sie nach Amerika zu begleiten, spielte ich nicht mehr. –

Eine Woche später lag auf dem Frühstückstablett, das mir der alte Luigi noch immer täglich aufs Zimmer brachte, ein Brief von ihr. Vielleicht kündigt sie mir selbst, dachte ich und empfand eine Erleichterung bei dem Gedanken. Ich irrte mich. Genau erinnere ich mich nicht an den Wortlaut – aber der Sinn ist ungefähr folgender gewesen. Nach ein paar einleitenden, unser Zerwürfnis nicht ganz taktvoll erwähnenden Worten: »Ich hab' dich letzter Zeit über meine Kunst stark vernachlässigt und kurzgehalten. Heute nachmittag steh' ich zu deiner Disposition. Um mich nicht anzustrengen, habe ich meinen Korrepetitor für den Vormittag abgesagt und will dir vorsingen, was dein Herz begehrt.«

So unfreundlich ich die Eiskaffeejause abgelehnt hatte, so gern ging ich auf diese künstlerische Lockung ein.

»Wollen Sie mir wirklich den Nachmittag opfern?« fragte ich schon beim Eintreten.

»Ich muß wohl,« erwiderte sie mit jenem melancholischen Mutwillen, der eine Spezialität von ihr war. »Da mein Gesang das einzige ist, womit ich meinen abtrünnigen Verehrer zurückerobern kann.« Damit legte sie mir die erste Arie der Carmen auf das Notenpult des Klaviers. »Daß du's nur weißt, du bist Don José,« rief sie mir zu. »Bist mein Probierpublikum, bist der erste, dem ich mein neu aufgebügeltes Repertoire vortrage. Bin schon sehr neugierig, zu erfahren, wie meine Leistung auf dich wirken wird.«

Bei diesen Worten zog sie eine Rose aus einer Vase und fing an, damit zu spielen, während sie mir zugleich übermütige und herausfordernde Blicke zuwarf.

All dies war mir gründlich zuwider. Und doch ... Obwohl sie zu groß für die Rolle war, hab' ich die Carmen nie auch nur annähernd so verkörpern sehen. Der Rhythmus ihrer Schritte, das kurze Aufstampfen ihrer schmalen, feingebogenen Füße, das Dehnen ihres Oberkörpers, der Blick aus ihren halbgeschlossenen Augen, die tausenderlei Teufeleien um ihren Mund, der plötzlich im Lächeln und Locken ganz jung geworden war, die üppige, weiche, wollüstige Stimme, jeder Ton eine Verführung! Nur ...

Als sie geendet, sah sie mich fragend an. Ich aber sagte: »Don José verschmachtet schon zu Ihren Füßen, Marie! Aber wo ist Escamillo?«

Worauf sie: »Gibt es einen Escamillo? Meiner Treu! An den hatt' ich nicht gedacht.« Und sie lachte aus vollem Halse, ein wenig laut, fand ich. Sie sah mir's gleich an, daß sie einen zu grellen Ton angeschlagen hatte. »Laß den dummen Escamillo – ich möchte wissen, wie's dir gefallen hat.«

»Wie? – Es war herrlich!«

»Hm ... aber?«

»Kein aber!«

»Doch!« Sie sah mich scharf, leicht blinzelnd an. »Soll ich dir's sagen, was du gedacht hast, während ich sang: Was hätt' ich darum gegeben, wenn ich die Selvaggini vor zwanzig Jahren die Carmen hätte singen hören können! Das hast du gedacht!«

Ich zögerte: »Schöner hätten Sie vor zwanzig Jahren die Arie auch nicht singen können!« bemerkte ich an ihrer leider buchstäblich wahren Behauptung vorbei.

Sie ließ mit melancholischer Ironie die Mundwinkel sinken. »Wie du dich herauswickelst! Vielleicht hab' ich sie wirklich nicht schöner gesungen ... aber besser gepaßt hat mir die Rolle vor zwanzig Jahren. Hübscher war ich, biegsamer, impulsiver, jünger. Eine grauhaarige Carmen kann man sich eben nicht denken. Die Jugend faßt diese Dinge so rasch. Die Jugend ist grausam. Nun, versuchen wir's mit etwas anderm. Die Ballade der Senta – das Gebet der Elisabeth.«

»Eins nach dem andern!« bat ich, und sie nickte.

Ich wüßte nicht zu sagen, was sie schöner sang. Ihre künstlerische Gestaltungsgabe war unerreicht, und sie war bei Stimme, wie ich sie noch nie gehört. Das Fis im Gebet der Elisabeth schmetterte sie mit einer weichen Kraft heraus, die mir unvergeßlich bleiben wird. Und zu dem himmlischen Wohllaut die Verzweiflung des Ausdrucks!

Sie war entzückt von sich selbst. »Es geht noch, wahrhaftig, es geht!« rief sie aus. »Meine Stimme hat noch keine grauen Haare, meine Stimme ist noch jung ... wahrhaftig, ich bin ein Naturspiel!« »Nein, kein Naturspiel, ein Wunder!« sagte ich ohne Galanterie, mit Überzeugung.

Diesmal freuten sie meine Worte. Sie konnte nicht aufhören zu singen, obwohl ich sie mahnte, sich zu schonen. Arie um Arie sang sie, endlich, in einer Art Primadonna-Wahnsinn, die Arie der Traviata » Ah fors e lui«. Die Cavatina ging noch ganz gut, dann kam die Fioritur, das Passagenwerk zwischen der Arie und endlich der Walzer. Plötzlich ließ die Stimme nach. Die hohen Töne konnte sie nicht erreichen. Sie versuchte es ein paarmal und brachte nur ein wüstes Gekreisch heraus. Und was das ärgste war, auch die wundervollen Töne in der tiefen Lage hatten von einem Augenblick zum andern ihren Klang verloren. Betroffen sah ich sie an. Ihr armer Mund zuckte in einer breiten grotesken Grimasse, die Augen zogen sich zusammen, und sie fing an zu schluchzen, wie ich in meinem Leben niemanden schluchzen gehört habe.

Ich legte den Arm um ihre Schultern, streichelte sie, küßte ihr die Hände. Alles, was mich an ihr verdrossen, hatte ich vergessen. Sie war für mich nur eine unglückliche Frau, die ein Gebrechen vor mir preisgegeben hatte und sich nun schämte. »Marie, meine verehrte Wohltäterin! Regen Sie sich doch nicht so auf!« rief ich. »Wegen einer vorübergehenden Indisposition!«

Sie schluchzte nur um so heftiger. »Nein, nein, es ist vorbei! Das Schicksal hat einen Strich unter meine Karriere gezogen. Es ist zu Ende. – Das Alter ist gekommen.« Beide Hände an den Schläfen, starrte sie vor sich hin, als habe sich ein Gespenst vor ihr aufgerichtet. »Vorbei!« murmelte sie. »Vorbei!«

Nachdem sie ein paar Minuten lang totenblaß, am ganzen Körper zitternd, so vor sich hingestarrt hatte, warf sie plötzlich den Kopf zurück. »Es muß noch gehen!« rief sie, trat auf das Klavier zu und befahl herrisch, heiser: »Noch einmal den Walzer!«

Ein Ton nach dem andern brach.

Mit einem entsetzlichen Aufschrei warf sie sich auf den Boden. Ich neigte mich über sie, wollte ihr helfen, sich aufzurichten. Da merkte ich, daß sie ohnmächtig geworden war.

Wir trugen sie auf ihr Zimmer und legten sie auf ihr Bett, der alte Luigi und ich. Tagelang blieb sie dort, bei zugezogenen Gardinen, in einem Anfall bodenloser Verzweiflung. Immer, wenn ich aus der Kanzlei zurückkam, teilte mir Luigi dasselbe mit: sie läge still, das Gesicht gegen die Wand, nehme keinen Bissen zu sich und erlaube niemandem, das Zimmer zu betreten, als ihrer alten Kammerzofe.

Es dauerte eine volle Woche, ehe sie mich zu sich berief. Diesmal empfing sie mich nicht in dem Musiksalon, sondern in einem kleinen übermöblierten Raum mit zahllosen in der phantastischsten Art zusammengesteckten Photographien an der Wand und einer aufdringlichen Masse von herumstehenden Nippessachen auf allen Tischen.

Ihr Gesicht war verfallen, ihre Lippen zitterten beim Reden und besonders bei ihren mühsamen Versuchen, das für mich schauerliche Erlebnis leicht zu nehmen. »So sind wir nun einmal, wir Künstlerinnen, wir haben alle zu viel Phantasie!« erklärte sie mir. »Jede kleine Unannehmlichkeit bauschen wir zur Katastrophe auf. Wenn uns ein Ton einmal versagt, glauben wir gleich die ganze Stimme verloren zu haben. Der berühmte Laryngologe, mit dem ich mich beriet, hat mich vollständig beruhigt, mir Schonung und eine Badekur vorgeschrieben. Dann könne ich meine Vorbereitungen für meine amerikanische Tournee von neuem beginnen. Wahrscheinlich werde ich von Ems nach Mailand zu Lamperti reisen, um mich ein paar Wochen lang seiner musikalischen Disziplin zu unterziehen. – Leid tut mir nur, daß wir uns für die Zeit trennen müssen, liebes Kind. Hoffentlich gibt es ein um so vergnügteres Wiedersehen im Herbst.«

Ich nickte nur. Das Schweigen zwischen uns zog sich in die Länge, es wurde dumpf und drückend, so ein Schweigen, das ganz voll ist von Dingen, die man nicht auszusprechen wagt. Endlich erhob sie sich.

»Bin ich entlassen, Majestät?« fragte ich mit gekünstelter Heiterkeit.

»Nein!« erwiderte sie. »Ich habe eine Überraschung für dich vorbereitet!« Sie führte mich in den Musiksalon, den ich nach der kürzlich erlebten Szene nicht ohne einen Schauder betrat. Dort erblickte ich ein gelblackiertes, häßliches Instrument, das wie eine überlebensgroße Trompete aussah. Es war ein Grammophon. Ich hasse Grammophone, die meistens nur verschnupfte musikalische Karikaturen hervorbringen. Nichtsdestoweniger muß ich gestehen, das es einige Stimmen täuschend wiedergibt, z. B. die Stimme Carusos, die Stimme der Destin in ihrer Blüte und die der Selvaggini.

Herrgott, welche Stimme, ergreifend wie eine Orgel, weich wie ein Waldvogel und, wie ich schon einmal erwähnt, mit dem Edelmetall von alten Kirchenglocken! Dieselbe Leichtigkeit in allen Lagen.

Ich horchte atemlos. Mitten aus dem Horchen und Genießen beobachtete ich meine Freundin. Die horchte noch aufmerksamer als ich. Große Tränen, die sie nicht merkte, rollten über ihre Wangen herab.

»Das war ich,« sagte sie leise, als das Grammophon mit einem boshaften Schnurren verstummte; dann, ohne sich noch nach mir umzusehen, verließ sie das Zimmer, mit demselben müde schleppenden Schritt, dessen ich mich von Wartenberg her erinnerte, ehe wir Freundschaft geschlossen hatten. –

Zwei Tage später hab' ich sie auf die Bahn gebracht. Es war sieben Uhr früh. Die Stadt, totenstill, fing erst an, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. Ich höre ihre Stimme zögernd, matt, zitternd beim Abschied sagen: »Wirst du mich denn gar nicht vermissen?« Und ich höre den unaufrichtigen Ton meiner Antwort, die natürlich allerhand höfliche Versicherungen enthielt.

Ob mir leid um sie war? Aber wie ich aufatmete, als der Zug sich in Bewegung setzte und ich ihr Taschentuch nicht mehr winken sah! Noch denselben Tag bat ich in der Kanzlei um Urlaub. Es litt mich nicht mehr in Monplaisir. Der Entschluß, meine Beziehungen zu der Primadonna zu lösen, sobald sie zurückgekehrt sein würde, stand bei mir fest, ebenso wie die Absicht, es so zart als möglich zu tun. Unterdessen widerstrebte es mir, noch etwas von ihr anzunehmen. Mir graute geradezu vor Monplaisir, und in den Zauber, der die große Künstlerin umschwebte, hatte sich ein unlauteres Element gemischt, das mir die ganze Freude daran verdarb.

Ich strebte heraus aus dem allen, irgendwohin, wo mich die Erinnerungen an die Diva nicht verfolgen würden. Nach kurzer Überlegung entschied ich mich für den Semmering. Der lag sozusagen vor den Toren von Wien. Wenn es mir dort nicht gefiel, konnte ich mich weiter umsehen. Ich hatte ein paar hundert Kronen gespart. In jenen historischen Zeiten, ich meine die Zeiten vor dem Krieg, langte das weit. –

Am Semmering mietete ich mich so bescheiden wie möglich in einem Häuschen ein, das sich ein kleiner Kaufmann von seinen Ersparnissen gebaut hatte und dessen Oberstock er im Sommer an Fremde abgab. Mein Kämmerchen war weiß gestrichen, das Bett war hart, die Fenster waren klein, aber sie blickten Über eine bewaldete Talsenkung in eine märchenhafte blaue Ferne, und da ich sie Tag und Nacht offen ließ, so war mein Stübchen immer voll von Tannenduft, der so viel süßer als der stechend aromatische Geruch von Fichten und Kiefern ist. Fichten und Kiefern riechen nach Harz, Tannen duften wie der Tau auf jungem Getreide am Frühmorgen eines Frühlingstages.

Ich war zufrieden – mehr als das. Ich atmete auf. Ich las sehr viel, machte endlose Spaziergänge, kannte bald jeden malerischen Winkel in der Umgebung und nahm die Mahlzeiten in kleinen Bauernwirtshäusern, wobei ich mich ebenso an der Billigkeit wie an der Einfachheit der Kost freute.

Mit einem gescheiten Menschen hätte ich mich gern das eine oder das andre Mal ausgesprochen, aber das vergnügungssüchtige Gelichter, das ich in bunten Musselinfähnlein herumtrippeln sah und herumkichern hörte, lockte mich nicht, und so störte es mich geradezu, als plötzlich im Südbahnhotel eine Tante von mir auftauchte, Schwester meiner Mutter und Frau, eines sehr reichen Herrschaftsbesitzers in Mähren. Sie hatte eine ganze Zimmerflucht im Südbahnhotel gemietet, war umgeben von einem Troß von jungen Mädchen und wollte mich alle Tage mit einer andern ungarischen Gräfin bekannt machen. Ich wich ihr aus.

Glücklicherweise gefiel ihr's nicht besonders auf dem Semmering; nach kurzer Zeit entschloß sie sich, weiter nach Süden vorzudringen; ich glaube, sie wollte an den Karersee. Am Tag vor ihrer Abreise aber keuchte sie plötzlich hinter mir her, als ich im Begriff stand, vom Pinkenkogel zurückzukehren.

»Raimund! Raimund!«

Ich kehrte mich um. »Tante Lina – du wünschest?«

»Du! Du spielst doch Klavier?«

»Einigermaßen ... ein wenig.«

»Einigermaßen, ein wenig!« wiederholte sie aufgeregt. »Du mußt doch gut spielen, sehr gut. Deine Mutter hat mir gesagt...«

»Ach was, Mütter überschätzen ihre Kinder immer. Dürfte ich dich übrigens fragen, warum dich mein Klavierspiel interessiert?«

»Es ist nur ... ich hab' mit dir geprahlt, und da Professor Fachberg händeringend einen guten Pianisten sucht, so hab' ich dich vorgeschlagen. Um Gottes willen, blamiere mich nicht! Ich hab' gesagt, du würdest dir eine Ehre daraus machen, mit ihm zu musizieren; ich glaube, er spielt Cello.«

Ob ich meine Tante blamierte oder auch nicht, daran lag mir nichts, aber der Name Fachberg interessierte mich. »Fachberg,« wiederholte ich. »Fachberg! Ist das nicht der berühmte Gynäkologe, der unlängst an die Wiener Universität berufen worden ist?«

»Ja, derselbe. Er wohnt im ,Johann'. Morgen nachmittag ist er zu Haus. Ich bitte dich, Raimund, tu's mir zulieb!« –

Der Tante zulieb tat ich's nicht. Aber den nächsten Nachmittag fand ich mich richtig im Hotel zum Erzherzog Johann ein, das am ganzen Semmering und in der Gegend weit und breit einfach »Der Johann« heißt. Der Professor, der, wenn ich nicht irrte, von München zu uns berufen und ein geborener Bayer war, empfing mich in einem der altmodischen, mit roten Wollvorhängen und falsch orientalischen Eselstaschen möblierten Wohnzimmer, die typisch für die damaligen Semmering-Hotels waren, in einer dicken Wolke von blauem Tabaksqualm, aus der ich erst langsam die Konturen seiner ziemlich umfangreichen Person erkennen konnte. Er trug einen grauen Rock mit grünem Kragen und Hirschhornknöpfen (ich weiß nicht, warum alle Bayern auf dem Land immer im Jägerkostüm herummarschieren, aber es ist einmal so), hatte einen langen, graudurchschimmerten braunen Vollbart und eigentümlich helle durchdringende blaue Augen, in denen die Gutmütigkeit mit ein klein wenig Zynismus gewürzt war.

»Also Sie sind der junge Rubinstein, den mir Ihre Frau Tante so sehr gerühmt hat?« rief er aus, indem er seine Pfeife weglegte und mir die Hand reichte.

»Um Gottes willen, Herr Professor, ich bin ein ganz bescheidener Dilettant.«

Er zwinkerte humoristisch. »Ich auch,« gab er mir zur Antwort. »Aber ich fiedle für mein Leben gern. Es ist das einzige, was mir das Gehirn ausruht außer Patiencelegen ... Hm! Hm! Wenn es Ihnen nicht zuwider ist und Sie Zeit haben, könnten wir gleich probieren, wie wir uns vertragen.«

Eh ich mich's versah, saß ich am Pianino und half ihm die G-Moll-Sonate von Beethoven zu massakrieren. Wir haben später oft über diese energische »Entrée en matière« gelacht, später, als wir gute Freunde waren.


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