Ossip Schubin
Der Rosenkavalier
Ossip Schubin

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Obwohl die Meistersinger bekanntlich um eine halbe Stunde früher anfangen als die meisten Opern, ging ich schon lange wie eine Schildwache vor der Fachbergschen Loge auf und ab, ehe der Professor mit Hilda erschien. Alle drei freuten wir uns sichtlich an unserm Wiedersehen. Der Professor schüttelte mir kräftig die Hand. Hilda lächelte mir zu. Da wir uns mit den Lippen nicht küssen durften, küßten wir uns mit den Augen. Als wir drei vor der Logenbrüstung saßen, betrachtete Hilda meinen Abendanzug mit naiv-zärtlicher Bewunderung: »Du siehst aus wie ein junger Fürst,« flüsterte sie mir zu. »Wenn du nicht ein armer Schlucker wärst, würde ich dir's natürlich nicht sagen, aber so ...« Und sie drückte mir unter der Logenbrüstung die Hand.

Auch die Augen des Professors, der Hildas Worte gehört hatte, hefteten sich auf mich, aber anstatt der naiven Bewunderung seines Töchterchens begann der Schatten eines aufkeimenden Mißtrauens in sein bis dahin von Wohlwollen strahlendes Antlitz hineinzudämmern. »Der Frack sitzt allerdings ausgezeichnet,« äußerte er sich trocken, »von welchem Schneider stammt er denn?«

»Von Frank,« murmelte ich, indem ich mich glühend rot werden fühlte.

»So!« Das Mißtrauen dunkelte stärker, aber da hob schon der Kapellmeister den Taktstock. Die Ouvertüre begann. Sie sind musikalisch, gnädige Frau, und Sie kennen die Meistersinger. Wie eine volle warme Woge von holdem Frühlingsduft und reiner, doch starker Lebenslust schwebte das Vorspiel über mich hin. So köstlich klang es mit meinem Empfinden zusammen, daß ich nicht mehr wußte, was mich mehr beglückte, ob die Musik, ob die Nähe des geliebten Mädchens. Den ganzen ersten Akt hindurch hielt die Stimmung an. Das Theater war selbstverständlich in Dämmerung gehüllt, aber bei jeder besonders schönen Stelle suchten sich unsre Blicke, und wir konnten uns gegenseitig an dem Aufschimmern unsrer Augen erfreuen.

Dann fiel der Vorhang, der Beifall brauste los, ein Meer von Licht durchflutete den Saal. Wir waren noch dabei, uns unsre Eindrücke zuzuflüstern, ob wir es denn bemerkt, wie schön gerade diese oder jene Stelle gewesen sei, als der Professor brummte: »Ich möchte doch wissen, was so Besonderes an uns ist, daß uns die Leute in der Loge drüben nicht aus den Augen lassen!«

Ich blickte auf. Drüben saß meine Wohltäterin, mit einem großartigen Perlenkollier um den Hals und einer blauen Fuchsboa um die bloßen Schultern, in der andern Logenecke in sehr anständiger Aufmachung die Dombrowska, zwischen beiden Dazinsky.

Eine Welle von Zorn stieg in mir auf. Ich erriet, daß die Selvaggini, nachdem sie ausgekundschaftet, wo sich die Fachbergsche Loge befand, sich eine gegenüber verschafft hatte, um mich und meine Freunde beobachten zu können.

»Die beiden Damen sehen beide exotisch aus, so wie Rumäninnen oder Russinnen,« bemerkte altklug Hilda, »der Herr ist entschieden Jockey-Klub.«

Der Professor nickte. Er hielt sein Opernglas vor die Augen.

»Die in der linken Ecke, die mit der blauen Fuchsboa ist sehr schön,« fuhr Hilda fort.

»Ja,« murmelte der Professor. »Schön ist sie, aber's ist was kurios Theatralisches an ihr. Hm, sapperment, ist das nicht am Ende die Selvaggini?«

»Die Selvaggini! Die große Künstlerin!« rief ganz aufgeregt Hilda.

»Eine große Künstlerin war sie allerdings, aber auch ein großes Luder,« murmelte der Professor. »Doch, was zum Teufel hat sie immerfort herüberzustarren? Ich hab' sie allerdings vor zwanzig Jahren in München behandelt, aber ich kann doch nicht annehmen, daß dieses auffallende Interesse meiner alten Visage gilt.«

Ich saß wie auf Dornen. Es klopfte an die Tür.

»Das ist der Diener, der das Eis anbietet,« meinte Hilda. »Sie haben immer so ausgezeichnetes Eis in der Oper.«

Aber es war nicht der Diener, sondern ein schlanker, geschniegelter und gebügelter, nach der neuesten Mode frisierter junger Mann. Der Professor stellte uns vor: »Doktor Schmieden – Baron Chladnigg.«

»Ah, Doktor Schmieden,« sagte der junge Mensch, indem er, einer Aufforderung des Professors nachkommend, auf dem vierten, bisher leergebliebenen Sitz Platz nahm. Er musterte mich aufmerksam. »Wenn ich nicht irre, kennen wir uns vom Sehen!«

»In Wien kennen sich alle Leute vom Sehen – aus dem Kaffeehaus,« lachte Hilda.

»Vom Kaffeehaus kenne ich den Herrn Doktor nicht,« sagte Chladnigg. Er hatte eine unausstehliche Art, zu reden. Die Worte fielen ihm in einer Art affektiertem Getrippel von den Lippen. »Ich ... eh ... ich kann mich ja irren, aber ich glaube, daß wir uns an der Riviera begegnet sind.«

»Richtig ... ich glaube mich zu erinnern,« murmelte ich.

»Ich wohnte in der Villa Flamingo, knapp neben der Villa Paradiso, in der, wenn ich nicht irre, der Herr Doktor seinen Wohnsitz hatte.«

»Hm! Und wie kommt's, daß Sie beiden jungen Leuten aus derselben Gesellschaftsschicht so aneinander vorbeigekommen sind, ohne sich persönlich kennenzulernen?« fragte mit einer unheimlichen Schärfe in der Stimme der Professor. Wir schwiegen, ich sehr verlegen, Chladnigg boshaft. Nach einer Weile begann er: »Es gibt so Umstände. Ich reiste mit Mutter und Schwester, und der Herr Doktor befand sich in der Gesellschaft einer berühmten Künstlerin. Meine Mutter hat ein wenig kleinstädtische Ansichten, sie bewundert Künstlerinnen auf der Bühne, aber im täglichen, sagen wir meinetwegen alltäglichen Leben ...«

»So. – Wer war die Künstlerin?« fragte der Professor herb.

Chladnigg schwieg. Ich nahm das Wort. »Es war die Selvaggini!« sagte ich. »Sie ist eine treue, mütterliche Freundin von mir, ich verdanke ihr unendlich viel.«

Ein bleiernes Schweigen folgte, so ein schweres, drückendes Schweigen, das man sozusagen mit aufdringlicher Plötzlichkeit in ein Gespräch hineinfallen hört. Endlich begann Chladnigg, und seine Sprechweise klang noch lispelnder, trippelnder: »Wenn ich nicht irre, reiste der Herr Doktor mit der Diva in der Eigenschaft eines Sekretärs?« »Nein! Damals an der Riviera war ich nur Wohltätigkeitsobjekt. Sie hat mich aus einer schweren Krankheit herausgepflegt. Später bin ich allerdings ihr Sekretär geworden.«

»So, später sind Sie allerdings ihr Sekretär geworden! Warum haben Sie mir das alles nicht mitgeteilt, Herr Doktor?« fragte der Professor. Dabei stach sein Blick geradezu in mich hinein.

»Ich hatte bis jetzt weder Veranlassung noch Gelegenheit dazu,« erwiderte ich mit so viel Haltung und Gelassenheit, als ich mir abzuzwingen vermochte.

»So! Hm! Jedenfalls begreife ich jetzt die ungewöhnliche Aufmerksamkeit, die die Diva unsrer Loge widmet,« sagte der Professor.

Um uns herum war die Luft plötzlich wie geladen mit Elektrizität. Ich fühlte deutlich, daß ein Gewitter herannahte. Auch Chladnigg hatte offenbar das Gefühl. Er erhob sich. Nach den üblichen Abschiedsförmlichkeiten, bei denen er es übrigens vermied, mir die Hand zu reichen, verließ er die Loge.

Ich wartete atemlos. Ich wußte genau, daß sich jetzt etwas Schreckliches ereignen, daß der Schlag fallen würde. Der Professor verharrte in eisigem Schweigen, Hilda, die von dem ganzen Auftritt nichts verstanden hatte, blickte beklommen bald ihn an, bald mich.

Als der Vorhang von neuem in die Höhe gegangen, das Licht abgedreht worden war, erhob sich der Professor: »Komm, Hilda, nimm deinen Mantel!«

»Aber, Papa, bist du krank?« Hilda war außer sich.

Ich war aufgesprungen, den beiden in das Vorzimmer der Loge zu folgen, er winkte mir ab. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Wenn Sie Lust haben, das Stück zu Ende zu hören, können Sie die Loge benutzen. Wir gehen nach Haus.«

Nach einer gänzlich schlaflosen Nacht ging ich im Garten von Monplaisir spazieren. Spazieren? ... Ich schlenderte bald diesen, bald jenen Weg entlang und kam immer wieder an irgendeine Stelle, vor der ich zurückschauderte, weil sie mich an etwas Schönes erinnerte, für das ich hätte dankbar sein sollen und nicht mehr dankbar sein konnte. Nicht daß ich an jenem Morgen auch nur annähernd vermutete, in welcher fürchterlichen Lage ich mich tatsächlich befand, noch in welchem erniedrigenden Lichte die Welt mich sah, aber das Bild meiner Wohltäterin stand fast bis zum Abstoßenden verzerrt in meiner Seele.

Meine Begeisterung, ja Vergötterung ihrer Persönlichkeit hatte einer geradezu peinlichen Empfindung Platz gemacht, einem Gemisch von Mitleid und Scham.

Ich konnte mich nicht darüber täuschen, daß ihr Gefühl für mich eine unlautere Wandlung erfahren und diese Wandlung sich schon seit unsrer Rückkehr von der Riviera langsam vorzubereiten begonnen hatte.

Auch jetzt noch trachtete ich, mir meinen quälenden Verdacht als etwas ganz Unstatthaftes, ja Empörendes auszureden; im Grunde aber wußte ich doch, daß die Bemühungen, die Augen gegen etwas zu schließen, was so offen zutage lag, nur ein glattes Sich-in-die-Tasche-lügen bedeuteten. Ich empfand etwas wie Grauen und zugleich etwas wie Furcht vor meiner letzten Auseinandersetzung mit ihr, so etwas, wie ich es später vor einer schwierigen und gefährlichen Operation empfunden habe, wenn ich sie für unvermeidlich hielt, ohne mit Sicherheit auf einen günstigen Ausgang zählen zu dürfen. Da, über das Knistern und Zischeln der Bäume glitten andre Laute eintönig, unendlich traurig, die murmelnde Begleitung von Schuberts unsterblichem Gretchen am Spinnrad – und manchmal, nur ab und zu, in abgerissenen Takten, ohne Worte, nur in müden Seufzern tauchte die Melodie über der Begleitung auf. Fast wie eine Art Gespenstermusik klang's. Die Fenster des Musiksalons standen offen. Die Selvaggini hatte begonnen, zu musizieren. Es packte mich an der Kehle und am Herzen. Der Moment zu meiner Auseinandersetzung war gekommen. Ein Zögern oder ein Aufschieben hätte eine Albernheit und Feigheit bedeutet. So ging ich denn hinauf.

Mein Fuß haftete am Boden. Unwillkürlich horchte ich. So schön, so ergreifend hatte ich das Lied nie gehört, wie mit dieser kaum hörbaren, eine unerträgliche innere Unrast ausmalenden Begleitung und den nicht in Worte gegliederten, summenden, stöhnenden Seufzern, in denen die Melodie hinklagte.

Plötzlich wurde die Künstlerin meine Anwesenheit gewahr. Sie zog die Hände vom Klavier und erhob sich. »Ah, du bist's, mein Kind! Wie übernächtig und bleich du aussiehst!« Sie legte mir beide Hände auf die Schultern und durchforschte meine Züge mit unendlich zärtlicher Teilnahme. Ehemals hätte mich das tief gerührt, jetzt aber graute mir geradezu vor der Gewalt ihres Gefühls. Als sie nun gar immer noch wiederholte: »Mein armer, blasser Bub!«, und eine meiner Hände erst an ihren Hals, dann an ihre Lippen drückte, machte ich mich ziemlich schroff von ihr los.

»Marie,« setzte ich ein, »ich bin gekommen, den amerikanischen Vertrag mit Ihnen durchzusehen, wir sind gerade ungestört und könnten die Sache in aller Ruhe erledigen.«

»Ach, den Vertrag!« Sie fuhr sich über die Stirn. »Ja, richtig, aber ich bin heute so gar nicht zu etwas Geschäftlichem aufgelegt, ich kann meine Gedanken nicht sammeln. Ich habe nicht geschlafen, die ganze Nacht nicht, und auch du hast nicht geschlafen.« Sie sah mir ernst und prüfend in die Augen, fast als ob sie eine Anklage gegen mich erheben wollte.

»Woher wissen Sie das?« fragte ich kurz.

»Bin da draußen gestanden auf dem Balkon, von da aus kann ich in deine Fenster hinunterschauen. Beständig habe ich deinen Schatten sich vor den Stores hin und her bewegen sehen. Ach, und das alles wegen dieser Puppe!«

Das Blut stieg mir in die Wangen. »Lassen Sie das, Marie, ich bitte Sie!« sagte ich. »Das sind doch meine Angelegenheiten.«

»Und seit wann sind deine Angelegenheiten nicht mehr die meinen?« fuhr sie auf. »Seit wann hab' ich denn dir gegenüber das heilige Freundschaftsrecht verwirkt, Anteil zu nehmen an allem, was dich freut und kränkt? Was hat's denn überhaupt gestern gegeben? Warum hat der alte Griesgram – ich habe das Unglück, ihn persönlich zu kennen – sich schon nach dem ersten Akt aus dem Staub gemacht? Es war ja zu dumm, wahrscheinlich, weil du hübscher und vornehmer bist als der reiche Stutzer, den er sich offenbar zum Schwiegersohn auserkoren hat, und weil er merkte, daß du der Kleinen besser gefällst. Glaubt er wirklich, daß man ein Mädel mit solchen Gewaltmitteln von einem Menschen losreißen kann, in den sie so verliebt ist wie die Kleine ich dich? Sie verhindern dich, zu heiraten, aber euch verhindern, euch zu lieben, nie ... wann hätte ein Mädel nicht den Weg zu ihrem Liebsten gefunden, wenn sie das Herz zu ihm zog?« Jetzt quoll ich über vor Zorn, »Um Gottes willen, schweigen Sie,« rief ich heftig, »Sie haben ja gar keine Ahnung von der Reinheit ... « Ich unterbrach mich.

Das Wort hatte sie getroffen wie ein Schlag, aber sie nahm sich zusammen, war mit einem Gegenhieb bereit. »Ach so eine ist sie! So, so! Hab' sie überschätzt. Eine von den ganz Temperamentlosen, eine von den Puppen, die Sägespäne bluten, wenn man in sie hineinsticht. Reinheit nennt man das, mein Armer, dann bedaure ich dich von Herzen. So eine tut, was der Papa will, da hast du keine Chance ... «

»Marie, ich bitte Sie! Legen Sie mir doch endlich den Vertrag vor! Sie haben mich ja ausdrücklich nach Wien zitiert, um ihn mit Ihnen zu prüfen,« rief ich ungeduldig.

»Ja, richtig, ich will ihn holen.« Die Worte waren schleppend, wie der Gang, mit dem sie das Zimmer verließ.

Es dauerte eins geraume Weile, bis sie wiederkam. Sie war verweint und stark gepudert, das Haar nur lose zusammengesteckt. Ich sehe sie noch vor mir, in ihrem dunkelgrünen, mit dunklem Pelz verbrämten Samtschlafrock, in dessen weite Ärmel sie, nachdem sie mir das Dokument gereicht, frierend die schönen schlanken, rosig gespitzten Hände barg. Sie hatte sich in einen Lehnsessel gleiten lassen, während ich, ihr gegenüber Platz nehmend, den Vertrag Absatz für Absatz langsam mit vernehmlicher Stimme vorlas. Hier und da zupfte sie an dem Pelz um ihre Ärmel. Dann versteckte sie von neuem ihre Hände darin und streckte ihren kleinen schmalen feingebogenen Fuß vor, um damit den Kopf eines weißen Bärenfells, das vor ihr ausgebreitet lag, zu streicheln. Keine ihrer Bewegungen entging mir, weil jede auf ihren überreizten Nervenzustand Bezug hatte.

»Ich kann Ihnen nur gratulieren, die Bedingungen sind glänzend,« versicherte ich, als ich an den Schluß des Schriftstücks gelangt war.

»Lies nur weiter!« murmelte sie heiser.

»Der Privatsekretär des Fräulein Marinja Dembitzka, genannt die Selvaggini, Herr Doktor Raimund Schmieden, erhält ein monatliches Honorar von dreihundert Dollar, außerdem freie Verpflegung zu Wasser und zu Land, volle Vergütung sämtlicher Reisekosten und eine eigne Kabine auf dem Schiff.« Ich unterbrach mich. »Diesen Passus müssen Sie streichen, Marie,« sagte ich mit so ruhiger und fester Stimme, als ich konnte.

»Du kommst nicht mit?« fragte sie langsam, wobei sie sich mit beiden Händen das volle Haar von den Schläfen zurückstrich. Sie sah plötzlich aschfahl, beinahe wie eine Leiche aus, mit verfallenen Augen und gespitzten, geschärften Zügen.

»Es ist unmöglich!«

»Und seit wann ist es unmöglich? Im vergangenen Frühjahr, im Sommer noch war es so gut wie ausgemacht, und jetzt unmöglich ... « Sie starrte vor sich hin, sie tat, was sie konnte, um ihre Haltung zu bewahren, aber ihr Mund hing schlaff, und in ihrer rechten Wange zuckte es wie ein Krampf. »Ich hab' es gewußt, als du mir gestern den Abend nicht mehr gönnen konntest oder wolltest. Da hab' ich's gewußt, daß es zu Ende ist – alles. Ach, wenn ich nur noch einmal wieder ein paar Stunden gehabt hätte, allein mit dir, wenn ich mich dir ins Herz hätte hineinsingen können, so recht tief hinein – aber so ... unmöglich ... unmöglich ...« Und auffahrend: »Du hast mir ein Messer ins Herz gestoßen. Vielleicht weißt du gar nicht, was du getan hast.« »Marie, übertreiben Sie doch nicht so! Ein unbedeutender Mensch wie ich wird doch leicht zu ersetzen sein.«

»Ein unbedeutender Mensch,« wiederholte sie langsam wie aus einem Traum. »In den Augen der Welt vielleicht. Aber ein Mensch voll Poesie, voll hoher, edler Lebensauffassung, und ein Mensch, der mich eine Zeitlang vergöttert hat.«

Den Blick, den suchenden, flehenden, ängstlich hoffenden, mich unbewußt zu einer Lüge auffordernden Blick, mit dem sie bei diesen Worten mein Gesicht durchforschte, kann ich Ihnen nicht beschreiben.

Es war eine der größten Versuchungen meines Lebens, ihr diese Lüge zu schenken, ihr zu versichern, daß ich sie trotz der Umstände, die mich zu einer Trennung zwangen, tatsächlich weiter vergöttere. Ich überwand die Versuchung, ich hatte das deutliche Gefühl, daß die Auseinandersetzung ausschlaggebend war für den ganzen Rest meines Lebens, und auch das Gefühl, auf einem schmalen Pfad zwischen zwei Abgründen zu wandeln: auf der einen Seite harsche Brutalität, auf der andern schwächliche, sentimentale Nachgiebigkeit. Zur letzten neigte ich stark, und wenn mir nicht das liebe Gesichtchen Hildas vor Augen gestanden, hätte ich mich nicht dagegen behauptet. »Ich versichere Sie, daß es mir schwerfällt, Ihnen meine Dienste nicht weiter zur Verfügung stellen zu können,« sagte ich lahm, »aber es ist mir leider nicht möglich. Sie werden gut daran tun, sich sofort nach einem neuen Sekretär umzusehen, damit er sich einarbeitet, ehe Sie Ihre Reise nach Amerika antreten.«

»Meine Reise ... ich habe keine Lust mehr zu der Reise,« murmelte sie tonlos.

»Das ist nun geradezu kindisch von Ihnen,« verwies ich ihr, indem ich einen altklug ermahnenden Ton annahm. »Und Ihre Verstimmung ist gottlob vorübergehend. Nach dem ersten Abend im Metropolitan, sobald Sie wieder den großen Donner gehört haben, werden Sie mich vergessen.«

»So – vielleicht – über dem großen Donner vergess' ich alles,« gestand sie mit schmerzlich zuckenden Lippen, »aber ... ich werde ihn nicht mehr hören. Ja« – ihre Stimme klang matt und träumerisch –, »wenn ich meine Inspiration noch hätte entzünden können an deiner Begeisterung, mich hätte wärmen können an deiner Jugend, dann ... so aber –«

Wir standen einander gegenüber, Auge in Auge.

»Raimund!« flüsterte sie.

Ich blieb stumm. Da nahm sie den Vertrag, zerriß ihn mit einer langsam zögernden Bewegung und ließ die beiden Fetzen auf den Boden fallen. »Vorbei!« murmelte sie.

Ich senkte die Augen. Als ich sie wieder hob, hatte sie das Zimmer verlassen.– –

Das Schwerste liegt hinter mir, sagte ich mir, indem ich nun der Straßenbahn zuschritt, die mich nach Wien befördern sollte. Ich wollte in mir das Gefühl wachrufen, als ob ich eine große und drückende Last abgestreift habe. Tatsächlich drückte die Last mich peinlicher als zuvor. Zu meinem eignen Mißbehagen, das hinwegzuräumen mir nicht gelungen war, trug ich den ganzen Schmerz der Selvaggini auf meinen Schultern. Mein Gott, wäre es denn nicht zu vermeiden gewesen, ihr wehe zu tun?

Vor allem eilte ich nun, den Professor aufzusuchen, um mich mit ihm über den eigentlichen Grund seines gestrigen Betragens auseinanderzusetzen.

Ich wurde nicht empfangen. Darüber, daß er sich zu Hause befand, konnte ich nicht im Zweifel sein, ich hatte im Vorzimmer seine Stimme gehört. Nun aber bäumte sich mein Zorn auf gegen seine engsinnige Unvernunft. Es mochte ihm ja ärgerlich sein, daß ich mich mit einer Komödiantin herumtrieb, daß ich die Stelle eines Sekretärs bei einer Primadonna bekleidet hatte. Das paßte nicht in die vornehme Harmonie seiner hochbürgerlichen Lebensführung, und besonders ärgerlich mochte es ihm von einem jungen Manne sein, dem er es bereits vergönnt hatte, sich als seinen zukünftigen Schwiegersohn zu bezeichnen.

Das war alles gut und schön oder doch begreiflich, aber daß er mich so rücksichtslos vor den Kopf stieß, war unbegreiflich, damit schoß er meiner Ansicht nach weit über das Ziel und alles Erlaubte hinaus.

Wie ich die nächsten Stunden verbrachte, weiß ich nicht; ich weiß nur, daß ich die ganze Zeit damit beschäftigt war, einen Brief an ihn aufzusetzen, in dem ich ihn sehr energisch und entrüstet aufforderte, sich mir gegenüber zu erklären. Manchmal ließ ich mich auf eine einsame Bank nieder, um auszuruhen. Dann wanderte ich weiter, ohne einen andern Zweck als den, meine innere Unruhe zu beschwichtigen. Aber auch das wollte mir nicht gelingen. Über all den unfruchtbaren Spekulationen und ziellosen Wanderungen war die Dämmerung hereingebrochen. Ich war ganz erstaunt, als ich sah, daß es nahe an sechs geworden war.

Ein matter Südwind, herbstlicher Schirokko wirbelte um die Ecken herum und fegte den Staub auf, ein Blitz durchfuhr die Luft, kurz darauf ertönte ein boshafter, polternder Donnerschlag. Die Luft hatte sich, wie das im Frühherbst geschieht, plötzlich abgekühlt. Große Tropfen fielen. Ich hatte keinen Überzieher an und fröstelte; darüber erinnerte ich mich, daß ich aus lauter Aufregung mein Mittagessen versäumt hatte, und so trat ich denn in das erste Kaffeehaus, das ich auf meinem Wege antraf, verkroch mich mißmutig in eine Ecke und hatte mir soeben einen Schwarzen »extrastark« bestellt, als ich an einer großen, aus mehreren kleinen Tischen mosaikartig zusammengesetzten Tafel zwischen einigen Berühmtheiten, die ich nur vom Sehen kannte, den Korrepetitor der Selvaggini erblickte; außerdem zu meinem großen Erstaunen den Baron Chladnigg und meinen alten Bekannten, den Artillerieleutnant, der mich in dem Kosthause der gutmütigen Majorin so oft mit seinen unausstehlichen Klaviervorträgen gepeinigt hatte. Zwischen den Männern saß ein blondgefärbtes Frauenzimmer mit einem Zwicker auf der Nase, eine Journalistin, die offenbar im Begriff stand, Material für einen Artikel zu sammeln.

Da es mir in meiner gedrückten Stimmung sehr unangenehm gewesen wäre, angesprochen zu werden, griff ich nach einer Zeitung, um mich dahinter zu verstecken.

»Und ... das Privatleben der Primadonna?« fragte das blonde Frauenzimmer, indem sie den Bleistift über ihrem Notizbuch schweben ließ.

»Tadellos – eine kurze, unglückliche Ehe, dann, zum Trost, die Kunst, nicht wahr?«

Eine Pause folgte. Die Männer sahen einander an und lächelten. Nur der Korrepetitor runzelte die Stirn. »Was ihr Privatleben anlangt, so können Sie sagen, daß sie, eine Sammlerin von subtilem Geschmack und Unterscheidungsvermögen, beständig damit beschäftigt ist, ihre Kunstschätze zu mehren.«

»Hm!« Die Blonde kritzelte eifrig. »Und?«

»Und daß sich noch nie ein Armer vergeblich um Unterstützung an sie gewendet hat.«

»Das ist wahr!« sagten die Männer, die einen Augenblick aufgehört hatten, zu zischeln.

»Sie war immer eine fabelhafte Verschwenderin,« sagte ein Mensch mit einem klugen, glattrasierten Gesicht und einem sehr dünnen, gefärbten Scheitel, in dem ich den Heldenspieler des Burgtheaters erkannte.

»Wie der Frühling, der auch nicht hintanhalten kann mit seinem Reichtum, sondern ihn über die ganze Welt hinstreuen muß, um sie zu beglücken,« erwiderte der Korrepetitor.

»Das Gleichnis hat viel für sich,« murmelte der Heldenspieler, und Baron Chladnigg fügte mit affektierter Ironie flüsternd hinzu: »In mehr als einer Richtung.«

»Kunstsinnig und wohltätig,« wiederholte die Blonde. »Und die Erotik?« Sie sah sich mit bedächtiger Sachlichkeit im Kreise um. »Nichts?«

»Nichts, was der Mühe wert wäre, erwähnt zu werden,« entschied der Korrepetitor kurz.

»Und ihre Stiefmutter? Ich hab' sie neulich bei Ronacher kennengelernt,« begann die jetzt recht verwirrt dreinschauende Journalistin.

»Sie hat nie eine Stiefmutter gehabt.«

»Da bitte ich um Verzeihung – sie hat sich mir selber vorgestellt, Frau Dombrowska, die Stiefmutter der Selvaggini.«

»Hm! Aus Pflegemutter ist mit der Zeit Stiefmutter geworden,« lachte der Heldenspieler. »Sie meinen natürlich die berüchtigte Juscha. Das war einfach eine verluderte, herabgekommene Person, allerdings ursprünglich aus guter Familie, die unsre Freundin entdeckt hat, als sie, noch nicht fünfzehnjährig, Zündhölzer an den Straßenecken von Krakau verkaufte. Sie hat die junge Schönheit – sie soll fabelhaft schön gewesen sein – an einen alten polnischen Fürsten verkuppelt, der hat sie zum Schluß heiraten wollen, ist dann aber von seiner bigotten Schwester oder einem plötzlichen Schlaganfall – weiß nicht mehr, welches von beiden – daran verhindert worden. Wenn er sie nicht geheiratet hat, so hat er sie erzogen. Er hat aus ihr gemacht, was sie ist – fast eine große Dame und fast das verlottertste Frauenzimmer der Welt.«

»Fast,« murmelte ironisch Chladnigg. »Fast klingt gut! Später hat der schöne Dazinski die Vervollkommnung ihrer Erziehung übernommen.«

»Wer ist dieser Graf Dazinski? Er war neulich mit ihr und der Frau Dombrowska bei Ronacher... ein Hochstapler, nicht wahr?«

»Nicht daß ich wüßte,« erwiderte der Heldenspieler. »Ein echter Aristokrat ist er schon. Gehört einer unsrer ältesten polnischen Familien an.« Der Heldenspieler war Galizier und mußte es wissen. »Er ist sehr musikalisch und hat ab und zu in Beziehungen zu der Selva gestanden. Heiraten hat er sie nicht wollen, und darüber hat's Meinungsverschiedenheiten gegeben zwischen ihr und ihm, abgesehen davon, daß er ihr, als sie zu altern anfing, in der demütigendsten Art untreu war. Vielleicht möchte er jetzt zu Kreuze kriechen, er ist ein wahnsinniger Spieler und soll im vorigen Winter aus dem Jockey-Klub in Paris gestrichen worden sein, weil er seine Spielschulden nicht mehr zahlen konnte.«

»Jetzt nimmt sie ihn nicht mehr,« erklärte ein berühmter Tenor mit zerzausten blonden Locken und einem wackelnden Doppelkinn. Er lächelte selbstzufrieden und blinzelte Andeutungen.

Der Heldenspieler, den ich später als einen grundgescheiten Menschen kennengelernt habe, betrachtete den Tenor prüfend und maß ihn verächtlich. »Bin nicht sicher,« murmelte er. »Von allen ihren Liebhabern hat Dazinski auf sie den größten Einfluß ausgeübt. Sie hat eine Vorliebe für Aristokraten.«

»Ich glaube, sie liebt die Kontraste,« erklärte ein jüdischer Journalist mit einem assyrischen Bart. »Man hat mir gesagt ... «

Dann steckten die Männer die Köpfe zusammen, fingen an zu zischeln, zu lächeln und zu zwinkern. Einer übertrumpfte in seinen Mitteilungen den andern. Die Einzelheiten erspare ich Ihnen, verehrte Freundin. Der armen Journalistin, die nicht neugierig, sondern nur pflichteifrig gewesen war, stieg das Blut in die Stirn, der Bleistift blieb in der Schwebe und sträubte sich, Notizen zu machen.

Ich fieberte. Es drängte mich, aufzuspringen, den Lästermäulern ins Gesicht zu schlagen, meine Wohltäterin zu verteidigen. Verteidigen ... gegen was? Wenn, wie es leider den Anschein hatte, das, was die Tischgenossen einander mitteilten, auf Wahrheit beruhte, wäre meine Verteidigung kläglich ausgefallen, hätte nur eine Steigerung der Anschuldigungen zur Folge gehabt. Als ich noch beklommen, wirr, entschlußunfähig dasaß, schlug der Korrepetitor mit seiner derben Faust auf den Tisch: »Geziemt euch wahrhaftig, über die Selvaggini herzufallen!« schrie er. »Kaum einer von uns ist hier, der nicht Beweise ihrer unerschöpflichen Herzensgüte genossen, keiner, den sie nicht durch ihre herrliche Kunst beglückt hätte – und da wißt ihr nichts Besseres zu tun, als ihren bedauernswürdigen Lebenswandel breitzutreten? – Wißt ihr, wie ihr mir vorkommt? Wie Menschen, die vor einem Rosenbaum stehen, und statt sich an dem Duft und der Schönheit seiner Blüten zu freuen, sich auf den Bauch legen, um nach dem Mist zu schnuppern, aus dem all die Herrlichkeit herausgewachsen ist. Um so trauriger für die Rose, wenn sie den Dünger braucht. Euch geht das nichts an, ihr habt einfach dankbar zu sein dafür, daß die Rose blüht und daß sie euch beglückt hat.«

Ich mußte mir sagen, daß ihr in dem verlumpten Korrepetitor ein besserer Verteidiger erstanden war, als ich je hätte sein können. Nie hätte ich solche Worte zu ihrer Entschuldigung und Verherrlichung gefunden. Der Standpunkt hätte mir gefehlt.

»Hut ab vor dir, Zelenka,« rief der Schauspieler mit dem gescheiten Gesicht und dem gefärbten Scheitel. »Hast recht. Aber du darfst's uns nicht verübeln, wenn wir uns nicht alle zu deinem Standpunkt erhabener Barmherzigkeit aufschwingen können. In ihrer Jugend hat man's verziehen, aber auf ihre alten Tage wirkt die Sache doch komisch und widerlich.«

»Man muß sie nehmen, wie sie ist,« bemerkte der Jude mit dem assyrischen Bart. »Sie konnte nun einmal nicht singen ohne erotische Anregung. Möchte wissen, wen sie sich nach Amerika mitnehmen wird.«

»Es gibt, glaube ich, zwei Anwärter für den Posten,« näselte Chladnigg, »Dazinsky und das Jüngelchen, das sich als ihr Sekretär aufspielt.«

»Ei! Ei! Ist die Orangerie in Monplaisir endlich wieder bewohnt?« fragte der Heldenspieler. »Das ist ja sehr interessant. Wer ist denn der Glückliche?«

»Ein ganz netter Bursch aus gutem Hause. Sie hat schon seit einem Jahr ein Verhältnis mit ihm,« sagte Chladnigg.

Ich horchte wie erstarrt.

»Sie meinen doch nicht den jungen Schmieden?« entgegnete der Artillerieleutnant. »Seine Verehrung ist nur Kunstenthusiasmus. Den kenn' ich, das ist ein anständiger Mensch.«

Der Korrepetitor zuckte die Achseln. »An der Sache ist nichts – bis jetzt wenigstens!«

»Aber ich bitte Sie,« entgegnete Chladnigg. »Die Geschichte weiß ja jetzt schon ganz Wien. Er läßt sich von ihr aushalten wie eine Kokotte.«

Mit einem Sprung stand ich neben ihm und hätte ihn an der Kehle gefaßt, wenn der Artillerieleutnant mich nicht zurückgehalten hätte. »Das ist eine infame Lüge!« schrie ich.

Chladnigg lispelte affektiert: »Was soll eine Lüge sein? Daß Sie bei ihr wohnen, daß Sie sich von ihr füttern und beschenken lassen? Daß Sie den Winter in Saus und Braus an der Riviera mit ihr verlebt haben? Ist das alles erlogen?«

»Sie ist namenlos gut zu mir gewesen,« keuchte ich. »Aber ich bin nur der Freund der genialen Frau. Ich bin's ihr und mir schuldig, Ihnen das zu schwören!« Immer noch hielt mich der Leutnant fest.

»Wenn Sie mich zu Ihrem Zeugen brauchen,« sagte er kaltblütig, »so steh' ich zu Ihrer Disposition. Aber der Tätlichkeiten bitte ich Sie sich zu enthalten.« Damit ließ er mein Handgelenk los.

»Also schlagen wollen Sie sich mit mir ... bitte!« dehnte der Baron, dann fügte er hämisch hinzu: »Tut mir leid, wenn ich mich Ihnen gegenüber einer Verleumdung schuldig gemacht habe. Die Möglichkeit zu Mißverständnissen lag leider sehr nahe.«

Dann forderte ich ihn in aller Form. Der Artillerist übernahm es, meine Sache zu vertreten. –

Ich eilte in meine Wohnung zurück wie ein verwundetes Tier in seine Höhle. Jeder Blutstropfen in mir brannte, jeder Nerv zuckte vor Verzweiflung, Entrüstung und Scham.

Verehrte Freundin! Kennen Sie den Moment gegen Morgen nach einer schlaflosen Nacht, wo es plötzlich hell wird? Noch um weniges zuvor hat man sich in das beruhigende, alle Unterschiede aufhebende Dunkel der Nacht als in etwas Selbstverständliches gefügt; dann kurz, ganz kurz umschreibt uns die graue Unruhe der Dämmerung – wird durchsichtig. Mit einem Schlage ist's hell. Man hat das Licht nicht werden sehen, es ist plötzlich da, wie wenn man eine elektrische Lampe aufgedreht hätte. Alle Gegenstände ragen mit unerbittlicher Deutlichkeit in das Tageslicht, alle Träume, die man in die Nacht hinein gedichtet, alle Visionen, die man sich aus der Dämmerung herausgebildet, sterben ab. Man sieht ... man sieht das Gegenständliche, man sieht ohne Phantasie, sieht – wie man in einer hochmütigen Regung des aus langer Betäubung erwachenden Verstandes meint – das einzig Tatsächliche. – Ich sah die Selvaggini!

Vieles von dem, was sie heute zu mir gesprochen und was ich noch immer platonisch gedeutet hatte, gewann für mich eine ganz andre Bedeutung. Ich verstand jetzt alles, glaubte alles zu verstehen. Nicht einen mildernden Umstand ließ ich für sie gelten. –

Bedenken Sie, verehrte Freundin, daß ich noch ganz in einer Zeit wurzelte, in der jeder anständige Mann sich einfach verpflichtet fühlte, an dem Triebleben der Frau vorbeizudenken. Eine Frau sollte und durfte nichts sein als ein möglichst wenig mit Fleisch bekleidetes Ideal, ein Körper, der aus einer Seele entstanden war. Nachsicht in bezug auf sittliche Ausschreitungen existierte damals in meiner Kulturschicht nur für den vierten Stand und die Vogelfreien – für alle die mißachteten Geschöpfe, deren sexuelle Nachgiebigkeiten das Postulat für die von uns verhimmelte Sittenreinheit unsrer Mütter und Schwestern sind. Ich sage, existierte, denn nach dieser Richtung haben sich die Anschauungen vielfach verändert. Ich als Arzt – ja als Arzt, gestehe Ihnen offen, daß man meiner Ansicht nach heutzutage die Toleranz in bezug auf die, nun, wollen wir's meinetwegen weibliche Liebesfreiheit nennen – in den höheren gehüteten Ständen arg übertreibt. Damals war das Gegenteil der Fall. Es war eine der schreiendsten Grausamkeiten der damaligen Kulturanschauung, daß sie der Frau eigentlich überhaupt keinen Körper zugestand.«

Professor Schmieden senkte den Kopf.

Frau Lindenstamm schüttelte den ihren: »Sie übertreiben, übertreiben entsetzlich,« stellte sie phlegmatisch fest. »Das, was Sie eine Ungerechtigkeit nennen, erscheint mir als eine Huldigung, welche die Männer unsrer Natur darbringen, weil sie den tierischen Instinkten nicht so stark wie die männliche unterworfen ist. Und was nun gar die Grausamkeit anlangt, so empfinden wir von Jugend an in ihrem Bann erzogenen Frauen sie sehr wenig! Aber darüber werden wir uns nicht einigen. Erzählen Sie weiter!«

Der Professor fuhr sich über die Stirn und nahm seine Erzählung wieder auf:

»Ich mußte meine Beziehungen zu der Selvaggini sofort abbrechen, durfte keinen Tag länger bei ihr verweilen. Immer wieder tauchte der verächtliche Blick vor mir auf, den der Professor auf mich gerichtet hatte, als Chladnigg mein Beisammensein mit der Diva an der Riviera erwähnte. Meine Wangen wurden heiß, wenn mir die Betrachtungen einfielen, die er an die Eleganz meiner Kleidung geknüpft hatte. Chladnigg hatte gewiß nicht versäumt, in ganz Wien, dem kleinwinzigen Teil von Wien, der damals für mich das Universum bedeutete, die abscheulichsten Gerüchte über mich in Umlauf zu bringen. Daß ihm's darum zu tun war, mich bei Hilda auszustechen, lag auf der Hand. Wahrscheinlich galt ich jetzt schon für den Geliebten der Selvaggini. Nicht etwa einfach für den Liebhaber einer großen Künstlerin – das hätte mir niemand verargt –, nein, für den ausgehaltenen bezahlten Buhlen eines alten Weibes, das Schmutzigste, Ekelhafteste, was es gibt.

Ich mußte fort, und ohne Abschied. Um alle Hemmnisse und Schwierigkeiten zu beseitigen, wollte ich ein paar Zeilen an sie schreiben des Inhalts, daß ich unvorhergesehen und plötzlich nach St. Pölten abberufen worden sei, und ich wollte Luigi bitten, ihr die Mitteilung zu übergeben, nachdem ich mich morgen in aller Frühe aus dem Staube gemacht hatte.


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