Ossip Schubin
Der Rosenkavalier
Ossip Schubin

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ich aber wurde schwer krank. Mehr als einen Monat schwebte ich zwischen Leben und Tod, meist gänzlich bewußtlos. Meine Seele hing mir nur noch locker im Leibe. Manchmal flog sie ganz weg und taumelte in Gefilden herum, die ich nie gesehen, und überall, wohin sie sich verirrte, war es schwül und düster, überall schleppte ich dasslbe ratlose Angstgefühl mit mir herum, den Drang, zu fliehen, und die gänzliche Unfähigkeit, mich zu bewegen.

Endlich eines Tags war mir's, als ob ich mich langsam aus der Tiefe einer heißen roten Flut hinaufgearbeitet hätte in freie Luft. Ich öffnete die Augen. Neben mir saß meine Mutter. Die liebe Überraschung! Das Gefühl warmen Geborgenseins und reiner Luft, das mich umfing!

»Mama,« murmelte ich und sah mich befremdet um, »wie kommst du her... was ist denn eigentlich vorgefallen?«

»Reg' dich nicht auf, mein armer Bub. Du warst sehr krank, du hast uns Sorgen gemacht, aber jetzt geht's besser. Gottlob!« Und sie strich mir leise die Haare aus der Stirn.

»Aber wie kommst du her?«

»Frau Selvaggini hat mir geschrieben. Ich konnte nicht gleich von zu Hause fort, weil Fritzi (das war meine jüngste Schwester) gerade am Scharlach erkrankt war. Das war eine böse Zeit. Meine Angst pendelte zwischen euch beiden!«

»Wann bist du angekommen?« fragte ich.

»Vor einer Woche ... und jetzt sei still! Sonst schickt mich der Doktor fort.«

Mein Blick fiel auf meine Hand, die müde auf der Bettdecke lag. Sie sah welk und faltig aus, wie die einer siebzigjährigen Frau. Ich erschrak davor. Dann schweifte mein Blick weiter. Mein Zimmer war durch einen eisernen Ofen verunstaltet, dessen Rohr durch eine Fensterscheibe hinausgeleitet war. Das andre Fenster stand offen. Aus feucht verschleiertem Sonnenschein leuchteten die Wälder rot und gelb zwischen dem schwärzlichen Grün der Nadelbäume. Es war Herbst geworden.

Als ich mein Bett verlassen und mich in einen bequemen Ruhestuhl zurechtlehnen konnte, ließ die Selvaggini anfragen, ob sie uns besuchen dürfe, und obwohl meine Mutter die Künstlerin bereits kennen und im Laufe meiner Krankheit schätzen gelernt hatte, sah ich doch dem vertrauteren Beisammensein der beiden Frauen nicht ohne Beklommenheit entgegen. Ich fürchtete, daß sich bei meiner lieben, verehrten, aber kleinstädtischen Mutter die Vorurteile gegen die Künstlerin doch melden möchten, sobald die Dankbarkeit, die sie um meinetwillen der Primadonna schuldete, in den Hintergrund getreten sein würde. Und ebenso fürchtete ich, daß die große Künstlerin mit ihrem stark ausgebildeten Denk- und Urteilsvermögen, ihrer weiten interessanten Lebens- und Erfahrungssphäre mein zärtlich geliebtes Mütterchen nicht zu schätzen wissen würde.

Ich irrte mich. Die beiden Frauen vertrugen sich ausgezeichnet. Vielleicht hielt sich mein Mütterchen ein wenig gerader als gewöhnlich, als die Selvaggini eintrat, aber die innige Verehrung, die rührende Bescheidenheit der Primadonna verscheuchten die Steifheit bald. Ehe Mutter es verhindern konnte, hatte ihr die Selvaggini die Hand geküßt – dann, sich zu mir wendend: »Können Sie mir verzeihen, mein armer junger Freund?«

Und da ich nicht mehr wußte, was ich ihr zu verzeihen hätte, erzählte sie meiner Mutter von unserm letzten Spaziergang, wobei sie ein übertriebenes Aufheben machte von meiner Ritterlichkeit und Selbstlosigkeit. »Den Rock hat er sich vom Leibe gerissen, als der kalte Regen losprasselte, um mich damit zu schützen, wo er den Schutz so viel nötiger hatte als ich!« rief sie.

Worauf meine Mutter: »So, so, das hat er mir gar nicht gesagt!«

Und die Selvaggini: »Das sieht ihm ähnlich, gnädige Frau, so ist er!«

»Ich hatte es einfach vergessen!« sagte ich.

»Vergessen! Einfach vergessen,« rief die Selvaggini, »daß ich ihm fast das Leben gekostet habe. Da sehen Sie, was für einen Sohn Sie haben, gnädige Frau! Ich hoffe, Sie sind gebührend stolz auf ihn.«

»Ja, das bin ich,« versicherte meine Mutter. Im Leben war ihr's noch nicht eingefallen, stolz auf mich zu sein, nur liebgehabt hatte sie mich bis dahin. Aber unwillkürlich hingerissen von dem Feuer der Selvaggini, ging sie auf diese dramatische Steigerung der Rührszene ein.

Erst jetzt, wenn ich an die unendlich traurige Episode zurückdenke, werde ich mir ganz klar darüber, wieviel zärtlich heimtückische Klugheit die Selvaggini darangewendet hat, sich das Vertrauen meiner Mutter zu gewinnen.

Mir gegenüber war sie hier und da aus der Rolle der mütterlichen Freundin, der älteren Frau herausgefallen, durch einen schelmisch herausfordernden Blick, eine kokette Neckerei. Auch in ihrem Anzug hatte sie manches Mal unnötige Gefallsüchtigkeiten verraten.

Ich habe vergessen, Ihnen davon zu erzählen, weil es schließlich Geringfügigkeiten waren, die sich noch obendrein bei einer Primadonna von selbst verstehen. Jetzt erwähne ich sie nur, um die feine Vorsicht zu betonen, mit der die Selvaggini, sobald sie sich der Beobachtung meiner Mutter gegenübersah, alles Derartige unterdrückte.

In ihrem Anzug zeigte sie immer dieselbe vornehme Einfachheit und Nettigkeit, in der Unterhaltung wich sie mit ängstlicher Vorsicht allen starken Pointen aus. Mir gegenüber hielt sie streng an einem gutmütig wohlwollenden, etwas überlegen jovialen Ton fest, während sie meiner Mutter eine geradezu rührende Verehrung bewies.

Ich hatte es gut zwischen den beiden mich verhätschelnden Frauen; mit meiner Gesundheit aber wollte es nicht recht vorwärtsgehen. Der Arzt machte ein bedenkliches Gesicht – natürlich nicht in meiner Gegenwart, meine Mutter hat es mir später erzählt. Wenn ich den Winter nicht im Süden verbringen könne, stünde er für nichts.

Eines Tags (das erfuhr ich auch erst später), als meine Mutter, ratlos vor sich hinweinend, in den herbstlich fröstelnden Wäldern herumirrte, kam die Selvaggini auf sie zu und sagte: »Gnädige Frau! Sie wissen, daß ich allein die Schuld an Ihrer Sorge trage. Wollen Sie es mir gönnen, mein Unrecht so weit zu sühnen, als es überhaupt in meiner Macht steht? – Ich bin eine alte Frau« – sie nannte ihr Alter, das allerdings um zehn Jahre mehr als das meiner Mutter betrug –, »Sie können mir ruhig Ihren Sohn anvertrauen. Ich will mit ihm nach dem Süden reisen. Es würde mir ein unaussprechlicher Trost sein, wenn ich Ihnen Ihr Kind im Frühjahr gänzlich geheilt zurückgeben könnte. Natürlich nehme ich einen Diener mit, der die Pflege besorgt. Ich will sie nur überwachen. Ihr Sohn soll ganz ungeniert sein. Zu danken haben Sie mir nichts – im Gegenteil danke ich Ihnen, wenn Sie mir die Gelegenheit gönnen, mein Gewissen von der Last, die es seit der Erkrankung des Ärmsten bedrückt, zu befreien.«

Meine welt- und lebensunkundige Mutter ging auf den Vorschlag ein.

Ich bin es der Selvaggini schuldig, Ihnen zu sagen, was sie damals für mich gewesen ist. Ein Schutzengel, eine barmherzige Schwester und, ich darf es behaupten, ohne die mystische Schönheit des Wortes zu entheiligen, eine Mutter.

Sie hatte natürlich nicht nur zu meiner besonderen Bequemlichkeit, sondern weil sie es überhaupt gewohnt war, einen Diener mitgenommen, dessen Wartung sie mich in normalen Zeiten überließ. Wenn ich aber, was anfangs häufig vorkam, einen Rückfall hatte, saß sie die Nächte neben meinem Bett, wurde nicht müde, mich in ihren starken Armen aufzustützen, wenn mich der Krampfhusten überfiel; sie reichte mir die Medizin mit der Pünktlichkeit einer Wärterin und richtete mir meine Polster zehn-, zwanzigmal in einer Nacht.

Anfangs hatte es mich sehr verlegen gemacht, mich von ihr bedienen zu lassen, aber ich war zu schwach und elend, um mich ernstlich zu wehren, und bald nahm ich ihre Aufopferung als etwas Selbstverständliches hin.

Ende Januar trat eine auffallende Besserung ein. Da kam etwas, das mich beunruhigte, nicht auf lange, aber doch. Mit einem Gespräch über meine Mutter fing's an. Ihrem Versprechen gemäß schrieb ihr die Selvaggini alle Tage zum mindesten auf einer Postkarte, wie's mir ging. Meine Mutter antwortete nur jede Woche einmal, aber immer in einem längeren Brief. Es mag ihr sauer genug gefallen sein, und ihre Briefe waren gewiß oft steif und lahm. Genau weiß ich's nicht, denn die Selvaggini hat mir die Briefe nie gezeigt, aber das eine weiß ich, daß das Gesicht der Diva jedesmal aufgeleuchtet hat, wenn wieder einmal eine Epistel aus St. Pölten kam, und daß sie diese Dokumente wie Reliquien in einem Kästchen aus Sandelholz zwischen Lavendel und trockenen Rosenblättern aufbewahrt hat.

Der Februar hatte begonnen. Die Mandelbäume blühten in den Gärten von San Remo. In einen warmen Mantel gehüllt, saß ich in der Loggia unsrer Villa, die mit vollem Recht den Namen Paradiso trug. Sie saß mir gegenüber, einen der Briefe meiner Mutter auf den Knien und Tränen in den Augen.

»Deine Mutter ist eine Heilige!« sagte sie andächtig. Im Laufe meiner Krankheit hatte sie sich gewöhnt, mich zu duzen, während ich mir das Sie nie abgewöhnen konnte, obwohl ich sie bei ihrem Vornamen Marie nannte. »Daß es wirklich solche Frauen gibt!«

Ich sah sie groß an. Ich liebte meine Mutter zärtlich. Daß sie aber eine so hervorragende Ausnahme bilde, war mir nie aufgefallen. Sie war, wie sie fast alle waren, die meine Kindheit umgeben hatten, nur anmutiger, liebenswürdiger; war eben meine Mutter und mir infolgedessen tausendmal teurer und wertvoller als die andern.

Die Selvaggini sah ein Weilchen stumm vor sich hin. Zwischen den dünnen Riviera-Palmen starrte sie in die dunkelblaue Unruhe des Meeres. »Wie sich das herumschlägt!« murmelte sie. »Wie sich die Wellen eine nach der andern untergraben oder überstürzen; wie eine die andre zugrunde richtet, eine jede sich abquält in rastloser Unruhe wie ein Rätsel, das nach seiner Lösung ringt! Ein jedes Leben ist so ein Rätsel. Und darüber wölbt sich der weite stille blaue Himmel!«

»Nun, immer ist er auch nicht blau, der Himmel.«

»Du hast ganz recht,« erwiderte sie. »Wolken ziehen drüber hin; aber man weiß doch immer, daß hinter den Wolken das Blau steht. Vom Meer weiß man nichts; nichts, als daß es schön und grausam ist. Manches Mal denke ich, die Erde ist einfach die Hölle oder das Fegefeuer, und das Leben ist die uns auferlegte Strafe und Qual.«

»Ist es denn immer eine Qual?« fragte ich.

Sie schauderte und faßte sich an beiden Händen so krampfhaft fest, daß ich sah, wie sie sich die Nägel ins Fleisch grub.

»Meine arme Mutter hat sich vor mir öfters über ein Unglück, über eine Mühsal beklagt,« bemerkte ich, »nie über das Leben selbst, und sie ist eine arme Witwe, die mit Müh und Not drei Töchter in der Provinz großzieht und ihren einzigen Sohn von einer fremden Wohltäterin gesundpflegen lassen muß, weil ihr die Mittel fehlen, es selber zu tun. Und Sie sind eine geniale Künstlerin, eine der Königinnen der Erde! Sie haben alles genossen, was die Welt zu bieten hat, und erklären das Leben für eine Qual?«

»Ich hab' dir's schon einmal gesagt, deine Mutter ist eine Heilige, ein Engel. Sie gehört nicht unter uns. Ich begreife gar nicht, wie sie sich mit dem Leben abfinden kann, das sie führt.«

Später hab' ich's verstanden, damals begriff ich nicht, begriff durchaus nicht, was gerade »Wunderbares« an meiner Mutter sein sollte.

Mit einer bösen Falte zwischen den Brauen und einem trotzigen sich zur Wehr setzenden Ausdruck um den Mund fuhr sie fort: »Aber eine solche Frau kann keine Künstlerin sein, mit einer solchen Lebensführung ist es unmöglich – und doch vielleicht ... wäre es möglich, Inspiration zu schöpfen aus der Askese... man berauscht sich nicht nur am Genuß – man berauscht sich auch am Hunger. Niemand hat eine lebhaftere, eine extravagantere Phantasie gehabt als der heilige Antonius.«

Da erschien der alte Diener und brachte ihr auf silberner Platte (es ging vornehm bei ihr zu) eine Visitenkarte. Ich sah, daß sie die Farbe wechselte und ihr der Besuch mißliebig war, aber ehe sie sein Erscheinen verhindern konnte, was offenbar ihre Absicht gewesen, stand er schon vor ihr auf der Loggia.

Es war ein sehr schöner Mann, in reifen Jahren, aber entschieden jünger als meine Beschützerin, Pole bis in die Fingerspitzen, der polnische Aristokrat a la sauce parisienne. Er hatte volles graues Haar, das er an der Stirn etwas zurückgestrichen und an den Schläfen mit kühnem Schwung hinaufgebürstet trug, hübsche, regelmäßige, etwas weichliche Züge und einen grauen, keineswegs übertriebenen Schnurrbart mit leicht aufgekräuselten Enden. Seinen Jahren gemäß war er ziemlich breit in den Schultern und überhaupt stämmig. Was mir am meisten an ihm auffiel, das waren seine hellblauen Augen, die, meistens mit einem schmachtenden Ausdruck behaftet, manchmal ganz unerwartet aufblitzten, worauf sie plötzlich die Farbe einer scharfgeschliffenen, heimtückischen Waffe annahmen.

So gut mir seine Erscheinung anfangs gefiel, so sehr verdrossen mich seine Manieren, die voll von unnötigen Überschwenglichkeiten und Faxen waren.

Beim Betreten der Loggia rief er: »Marie!« und streckte wie in Ekstase oder Entrüstung seine beiden sehr gepflegten weichlichen, weißen Hände in die Luft. Es war damals Mode geworden für Männer, keine Handschuhe zu tragen. » En voilà une façon de traiter ses amis!«

Gleich darauf ließ er sich auf ein Knie vor ihr nieder und küßte ihr nicht nur die Handrücken, sondern auch die Handflächen. Es bereitete mir eine boshafte Genugtuung, zu konstatieren, daß es ihm schwerfiel, sich wieder aufzurichten. Dabei merkte ich, daß er, wie nur ein sehr guter Bekannter, Hut und Stock unaufgefordert weggelegt hatte.

» Vous me saviez pourtant à Nice«, fuhr er, immer französisch plappernd fort, und ich muß sagen, er plapperte es mit einem famosen Akzent, genau wie ein mir bekannter Papagei, der sich lange in einer Pariser Familie aufgehalten hatte. »Warum haben Sie mir denn kein Zeichen gegeben? Sofort wäre ich zu Ihnen gestürzt, vielleicht hätte ich Ihnen nützlich sein können.«

»Ich war momentan viel zu sehr mit meinem Kranken beschäftigt, um mich Ihrer überhaupt zu erinnern,« gab sie zurück. Die Worte klangen unliebenswürdig, aber sie waren von einem Lächeln begleitet, und zugleich hob sie beide Hände an die Ohren, um nach ihren Boutons zu greifen. Diese Geste war charakteristisch für sie. Bis dahin hatte ich einfach geglaubt, sie wolle sich damit versichern, ob die kostbaren Steine sich an ihrem Platz befänden, jetzt zum erstenmal kam mir der Gedanke, daß die Geste, die sich so sehr dazu eignete, ihre ungewöhnlich schönen Hände zu zeigen, mit einer gewissen Koketterie verbunden war.

»Wie Sie sehen, hab' ich einen Pflegesohn!« Sie lachte etwas gezwungen.

»Ach so! Cela explique!« Immer wieder fiel er ins Französische. Wie viele Polen hatte er so lange in Paris und Nizza gewohnt, daß ihm die französische Sprache geläufiger war als die polnische. Das soll durchaus nicht bedeuten, daß er das Polnische vergessen hatte. Sobald er es bei irgendeiner ernstlichen Gelegenheit – das ist bei den Polen immer eine politische – benötigte, fand er es sofort wieder.

»Wollen Sie uns bekannt machen, Marie?«

»Herr Raimund Schmieden – Graf Dazinsky« sagte sie.

Er reichte mir die Hand und versicherte mir, daß er sich sehr freue, mich kennenzulernen. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, ihm eine Gegenversicherung zu bieten. Er war mir vom ersten Augenblick an antipathisch trotz seiner Schönheit, seiner Vornehmheit und seinen verbindlichen Manieren; vielleicht sogar ein wenig infolge von alledem.

Sie fetzten sich nun beide auf die Loggia in einiger Entfernung von mir. Meine Wohltäterin ließ Tee bringen und allerhand köstliches Beiwerk. Sie servierte mit einer mir an ihr ganz neuen pikanten Anmut, wobei sie Wert darauf legte, mich zuerst, und zwar aufs reichlichste und aufmerksamste, zu versorgen, ehe sie sich ganz ihrem alten Verehrer widmete.

Als er seinen Imbiß beendet halte, zog er ein goldenes Zigarettenetui mit einem Saphir in der einen Ecke aus der Brusttasche und bot ihr eine »Papiros«, wie er es nannte. Obzwar sie sonst nie rauchte, nahm sie das feine weiße Röhrchen zwischen ihre Finger und fing an, feingekräuselte Wölkchen vor sich hinzublasen. Ich hatte noch nie eine Frau mit solcher Grazie rauchen sehen. Eine leichte Röte färbte ihr die Wangen, ihre blaugrünen Augen glänzten und funkelten unter den dunklen Wimpern wie noch nie. Wie deutlich ich sie vor mir sehe! Sie war ganz einfach gekleidet: ein dunkelblauer Sergerock von Redfern (Sie sehen, ich fing an, in ihre Schneidergeheimnisse eingeweiht zu sein) und eine allerdings ziemlich komplizierte weiße Batistbluse, über die sie lose – sie bald höher ziehend, bald ganz zurückgleiten lassend – ihre beliebte Boa aus dunklem Zobel trug. Dazu das noch immer reiche, in losem Geringel zurückgestrichene, hochauf frisierte Haar – ein paar Löschen in der Stirn, blitzende Steine in den Ohren und blitzende Steine an ihren schlanken, weißen, rosig gespitzten Fingern.

Herr Gott, muß sie schön gewesen sein! sagte ich mir, und gleich darauf kam mit der Gedanke: Wie schwer muß es einer so schön gewesenen Frau werden, sich in den Verfall ihres Äußeren zu finden. Zum ersten Male begriff ich, was es für die Selvaggini heißen mußte, »alt« zu werden.

Das Alter, das für so viele andre Frauen nur eine sanfte Beruhigung bedeutet, eine freundliche Brücke zu der Resignation, die uns so vieles im Leben erleichtert und uns die Freude an einer Menge kleiner Genüsse lehrt, an denen wir in unsrer stürmischen, der Zukunft und all ihren Wahnbildern entgegenrasenden Jugend blind oder überlegen vorüberzustreifen pflegen – dieses Alter mußte für Frauen wie die Selvaggini ein Gefängnis bedeuten, in dem ihre Schönheit und ihre Kunst wie zwei zum Tode Verurteilte in einer sich gegen den unerbittlichen Richtspruch der Zeit auflehnenden Verzweiflung herumschlugen. Das Alter beständig abwehrend, immer wieder um Aufschub flehend, verfallen solche Frauen schließlich einer Art halb lächerlichen, halb schauerlichen Wunderglaubens, der ihnen vorlügt, daß für sie die Zeit stehengeblieben ist, die Naturgesetze umgestoßen worden sind, daß vor dem herrlichen Meisterwerk Gottes, als das sie sich fühlen, das Alter in scheuer Ehrfurcht zögert und nicht wagt, an seine Vernichtung zu schreiten.

Natürlich hätte ich damals mein Gefühl in dieser Sache nicht so bestimmt auszudrücken gewußt wie jetzt, aber es war doch ganz deutlich in mir erwacht.

Obwohl beide französisch redeten, fing ich hie und da einen Satz auf.

Er versicherte ihr, daß sie schöner als je sei, »d'un charme plus capiteux«, und sie lächelte übermütig, den Kopf zurücklehnend, mit schelmisch zwinkernden Augen. Sie hatte die Beine übereinandergekreuzt. Zum erstenmal bemerkte ich, wie schön der Fuß, wie fein der Knöchel war, ein leichtdurchbrochener schwarzer Seidenstrumpf, ein schmaler schwarzer Glanzlederschuh mit diskreter Schnalle kleideten ihn vortrefflich.

Der Blick des Grafen richtete sich darauf. »Noch immer der schönste Fuß der Welt!« sagte er.

Sie zuckte die Achseln und erwiderte irgend etwas, wobei ihre Stimme um wenigstens eine Terz höher war, als wenn sie mit mir sprach. Sie war mit einemmal ganz Polin.

Ich verstand, daß er sie aufforderte, nach Nizza zu kommen, um mit ihm und einer Dame, die er Juja (das Jot wie das französische Je ausgesprochen) nannte, zu frühstücken.

» Nous ferons le déjeuner aux huitres et au champagne!« setzte er hinzu. »Und wir werden uns an alte Zeiten erinnern, Marie!«

Da wurde sie mit einemmal ernst. »Wer sagt Ihnen, daß ich mich gern an alte Zeiten erinnere?« erwiderte sie.

»Ich urteile nach mir!« versicherte er mit einem leidenschaftlichen Blick.

»Ich liebe es nicht, Gräber aufzuwühlen – je crains les revenants«, sagte sie und schauderte.

Ein Schweigen fiel zwischen sie und ihn.

»Nun, dann wollen wir von der Zukunft reden,« rief er herausfordernd aus.

Sie aber runzelte die Brauen: »Die fürchte ich noch mehr!« erwiderte sie.

» Décidément, je n'ai pas de chance!« lachte er. »Aber zwischen Vergangenheit und Zukunft können wir uns doch an der Gegenwart freuen. Sagen Sie, Marie, wann kommen Sie zu mir? Bestimmen Sie den Tag!«

Sie zögerte. Ihr Blick schweifte zu mir herüber. »Vorläufig kann ich meinen Kranken nicht verlassen, er ist sehr ungeduldig und unvorsichtig!« Mir freundlich zulächelnd, drohte sie mir mit dem Finger.

»Er scheint Sie sehr in Anspruch zu nehmen, der Kranke,« bemerkte er trocken, wobei er nicht die Selvaggini, sondern die Spitzen seiner hellen Halbschuhe ansah.

»Da ich ihm fast das Leben gekostet habe, bin ich ihm schuldig, es ihm zurückzuerstatten,« sagte sie.

»Ich verstehe nicht. Das müssen Sie mir ein andermal erzählen, jetzt ist, fürchte ich, keine Zeit mehr dazu.« Er zog seine Uhr, die er ohne Kette in der Westentasche trug, ließ den goldenen Doppeldeckel aufspringen und stellte fest, daß es Zeit sei, sich auf die Bahn zu begeben.

Sie setzte ihren Hut auf, der in einer Ecke der Loggia lag, wobei sie, was mir auffiel, ein Spiegelchen aus der Handtasche nahm und ihre Stirnlöckchen zurechtzupfte. Das hatte sie bisher nie getan. Bildschön sah sie aus, unwahrscheinlich schön für eine Frau Mitte der Fünfzig.

»Ich will Sie auf die Bahn begleiten, Kasimir,« sagte sie, indem sie ihre langen schwedischen Handschuhe über die Finger streifte. Damals trugen Damen auch bei Tag Ärmel, die nur über den Ellenbogen reichten. Hingegen knöpften sie ihre Kragen am Halse bis unter das Kinn zu.

»Wir sind ja en villégiature, ich brauche keine Jacke anzuziehen. J'ai trop chaud! – Hast du alles, was du brauchst, mein Kind? Da ist die Glocke, noch eine Decke ... nein ... es ist heiß wie im Sommer. – Ich bin gleich zurück.«

Unterhalb der Loggia hörte ich die beiden reden. Er war mürrisch und unzufrieden, seine Worte verstand ich nicht, aber die ihren: »Kasimir,« wandte sie ein, »'s ist ja ein Kind, ein armes krankes Kind!« Ihre Stimme hatte alle Affektation verloren, es war wieder die goldene Stimme voll mütterlicher Güte, die ich anbetete.

Er aber antwortete: » Quant, à ça... das Kind wird gesunden, et tu as toujours aimé la jeunesse!«

Ich erinnere mich noch, wie unangenehm mich die Worte berührten, wie mir das Herz zu klopfen begann. Warum duzte er sie plötzlich? Was meinte er nur? Was konnte er meinen?

Ehe ich die Antwort gefunden, war meine Wohltäterin von der Bahn zurückgekehrt, ein wenig außer Atem und offenbar in gehobener Stimmung. Sie setzte sich, zupfte an ihrem Jabot, in das sie einen Veilchenstrauß gesteckt hatte, schwieg eine Weile und fing plötzlich an zu lachen – girrend, perlend, mit zurückgeworfenem Kopf, etwas theatralisch: »Der Narr! Der Narr!« rief sie. »Er ist verliebter in mich als je. Ha, ha, ha, denke dir, er hat mir einen Heiratsantrag gemacht!«

»Nun ... und?« fragte ich gespannt und, wozu ich gar kein Recht hatte, böse.

»Aber ich bitte dich, eine Frau in meinem Alter!« Dabei kniff sie die Augen zusammen und streifte mich mit einem scheuen fragenden Blick. Ich erriet, daß sie tröstenden Widerspruch von mir erwartete. Den aber gönnte ich ihr nicht. Ich war zu verstimmt dazu. Mich auf das hohe Roß meiner jungen Weisheit setzend, erklärte ich ihr: »Das Alter hat damit nichts zu tun. Warum sollten zwei alte Freunde nicht ihre Existenzen vereinigen und sich in Gottes Namen, um unnützem Geschwätz den Faden abzuschneiden, heiraten? – Aber den dürfen Sie nicht heiraten, Marie ... meine angebetete, vergötterte Wohltäterin und Freundin!«

»Warum nicht?«

»Weil er Ihrer nicht würdig ist!« Eine scharfe Falte zeichnete sich zwischen ihren Brauen. Sie antwortete nicht mehr.

Die Sonne hatte sich indessen gesenkt. Ich vergaß alles über dem unvergleichlichen Anblick, der sich mir bot. Die Wolken am Horizont und das Meer verschmolzen in einer wilden, leuchtenden Farbenorgie, die aussah, wie aus Flammen und Blut gemischt. Dann verschwand die Sonne, die Dämmerung zog graue Schleier über die Wolken und streute ihren Aschenregen über das Meer. Es verschwand in dem sich verdichtenden Dunkel, man sah nichts mehr davon als die weißen Kämme der Wellen, wie sie gespenstisch aus tiefem Grau aufschimmerten, und man hörte die Wellen schreien.

Die freundlichen Rosenranken um die Loggia wurden schwarz, der Himmel war blaß und leer.

Der Diener trat heraus, um zu fragen, ob es nicht Zeit sei, daß ich in mein Zimmer zurückkehre. Er war eine Vertrauensperson und ganz berechtigt, sich unaufgefordert in meine gesundheitlichen Angelegenheiten zu mischen.

»Die höchste Zeit! Gute Nacht!« rief die Selvaggini und winkte mir verabschiedend zu, so daß ich ihr nicht einmal die Hand reichen konnte. Mit Genuß streckte ich mich auf meinem weißen frischen Lager zurecht. Da ich nach meiner Krankheit zum erstenmal so lange an der Luft gewesen, fühlte ich mich müde und genoß die Ruhe, doch mischte sich eine innere, immer stärker anwachsende Verstimmung in diesen Genuß.

Der Professor hatte eine Pause gemacht, als wollte er in der Erinnerung jene Tage noch einmal nachkosten. Dann fuhr er fort:

Die Zeit verging. Warum kam sie denn nicht, wie jeden Abend, um nach mir zu sehen? Nun, sie fand es wohl nicht mehr nötig, mich noch weiterhin so wie bisher zu verzärteln und zu verwöhnen. Ich war schon zu gesund dazu.

Bisher war sie jeden Abend gekommen, hatte mir eine Tasse Bouillon gebracht und sich an mein Bett gesetzt. Wenn mich der Husten plagte, las sie mir vor; wenn mir wohler war, plauderten wir miteinander, das heißt, sie plauderte, ich hörte zu, während sie mir allerhand interessante Dinge aus ihrem Leben erzählte. Bald schilderte sie mir die kurzweiligen Eigentümlichkeiten eines der vielen Potentaten, mit denen sie in persönlichem Verkehr gestanden, oder sie klärte mir einen politischen Vorfall auf, den sie durch ihre persönlichen Beziehungen in seinem rechten Licht gesehen und von dem ich mir eine ganz falsche Vorstellung gemacht hatte. Wenn sie ihren guten Tag oder Abend hatte, war ihre Unterhaltung so interessant wie ein geistvolles altes Memoirenwerk, in dem man nicht müde wird zu blättern.

Ich horchte und horchte, sie kam nicht. Es war der alte Luigi, der mir diesmal, eine halbe Stunde später als sonst, die Tasse Bouillon brachte. Übellaunig schob ich sie weg. Immer noch horchte ich, ob sie kommen werde. Ich hörte aber nichts, nichts als die Stimmen der Wellen, die immer trauriger, immer trostloser wurden. Plötzlich vernahm ich etwas, das trauriger, trostloser war als sie. Ihren Schritt, den Schritt meiner Wohltäterin, nach dem ich mich gesehnt. Aber mir näherte er sich nicht, über meinem Zimmer hörte ich ihn, in dem von ihr bewohnten Gemach. Wie er auf und ab hastete – schneller, immer schneller. Er schien etwas zu fliehen. – Was? ... Konnte sie wirklich verliebt sein in den Polen? fragte ich mich. Kämpfte sie mit sich? Arme Frau! Mein Mitleid war nicht tief. Die Sache berührte mich eher verdrießlich als tragisch. Ich drehte das elektrische Licht ab, seufzte ein letztes Mal und schlief ein. Im Traum war mir's, als ob sich jemand über mich gebeugt und mich ganz leise auf die Stirn geküßt hätte.

Als ich aufwachte, war niemand da. Hab' ich wirklich geträumt? fragte ich mich. – –

»Die gnädige Frau läßt fragen, wie der junge Herr geschlafen hat,« meldete der Diener, als er am nächsten Morgen mit meinen Kleidern über dem Arm in mein Schlafzimmer trat. »Zunächst möchte sie wissen, ob der junge Herr wohl genug ist, mit der Gnädigen auf der Loggia zu frühstücken oder heute noch sein Frühstück im Bett zu nehmen wünscht.«

Ich hatte ausgezeichnet geschlafen und eilte auf die Loggia hinaus. Sie kam mir mit ausgestreckten Händen entgegen. Sie war bezaubernd. Keine Spur mehr von der Unruhe, die sie gestern durchfiebert hatte. Ihr Blick, ihr Lächeln, ja jede Falte ihres Kleides, jeder Bug ihrer Frisur atmete gütige Mütterlichkeit. »Ist mein schlimmes Kind wieder gut?« fragte sie.

»Das schlimme Kind schämt sich!« rief ich, indem ich gerührt ihre Hände, eine nach der andern, küßte und sie länger als sonst an die Lippen hielt. »Hat keine Veranlassung dazu. Das Kind hatte recht,« erwiderte sie. »Ach, mein Lieber, du darfst nicht vergessen, daß du es mit einer alten Komödiantin zu tun hast. – Wir haben so manchmal plötzliche Anfälle von Jugendlichkeit, besonders wenn wir mit Leuten zusammenkommen, die uns miterlebt haben.«

»Wie können Sie von sich im Plural sprechen, Marie! – Es gibt keine zweite wie Sie auf der Welt,« entgegnete ich ihr entrüstet.

»Meinst du?« Sie runzelte die Brauen, und um ihre erschlafften Lippen, die nur noch im Lächeln schön waren, zuckte es. »Ich glaube, du irrst. In mancher Beziehung bin ich typisch. Es ist fast ein Trost,« fügte sie sehr leise hinzu, »daß man mit seinen Gebrechen nicht allein steht auf der Welt. Man schämt sich weniger ... Grüble nicht weiter nach über die Dummheiten, die ich sag', und laß dir's schmecken.«

Und ich ließ mir's schmecken. Oh, der exquisite Tee, den sie mir braute, die heißen Röstschnitten mit frischer Butter dazu, das kalte Fleisch in Aspik, der wie zerkrümelte Goldopale glänzte; die weichen Eier, die wie Mandeln schmeckten, und zum Schluß die in Eis gekühlte Pampelmuse! Und alles das an einem Tisch, der von Silber und Glas und feinem Porzellan funkelte, mit einem Rosenstrauß in der Mitte und Rosen ringsherum. An den Säulen der Loggia rankten sie empor, von dem Dach nickten sie herunter, über den Rand der Balustrade guckten sie zu uns herein – rote, rosa, lachsrote und weiße, und zwischen den Rosen der Blick auf den blauen Himmel und das Meer.

Als das Frühstück beendet, nahm sie von einem kleinen Korbtischchen, an dem sie in der Loggia zu schreiben pflegte, einen Brief, der, wie ich von weitem sah, an den Grafen Dazinsky adressiert war.

»Fühlst du dich wohl genug, einen kleinen Gang für mich zu machen?« fragte sie.

»Wohl genug, um zu Fuß nach Mentone zu gehen!« flunkerte ich.

»Nun, eine solche Kraftanstrengung möchte ich dir vorläufig doch nicht zumuten!« erwiderte sie mit einem drolligen Lächeln. »Alles, worum ich dich bitte, ist, diesen Brief in den nächsten Postkasten zu werfen.«

Es handelte sich um zwanzig Schritt. In zwei Minuten hatte ich mich des Auftrags entledigt und war bei ihr zurück.

»Es war lieb von dir, nicht zu fragen, was ich geschrieben,« murmelte sie weich.

»Ich hab's ja erraten – Sie haben ihm abgesagt.«

»Richtig – und zwar energisch. Er wird uns nicht mehr stören.«

»Das ist herrlich. Marie, Sie sind nicht nur die größte Künstlerin, sondern auch die beste, edelste Frau auf der Welt.«

Sie hatte sich von der Loggia entfernt und saß im Wohnzimmer in einem niedrigen englischen Klubsessel.

»Mein Gott, ich wußte, daß dich die Sache verdroß, und wollte dir den Stein so bald als möglich vom Herzen nehmen. » Eh, mon Dieu, ces choses là ne sont plus de mon âge!« versicherte sie und rieb sich ein wenig die Augen. Noch nie hatte sie ihr Alter so sehr betont; noch nie hatte sie mich so zutraulich gemacht. Ich weiß selbst nicht, wie es kam, daß ich plötzlich auf der Seitenlehne des Klubsessels neben ihr saß und den Arm um ihre Schulter legte.

»Ich habe es Ihnen schon gestern gesagt,« bemerkte ich leise, »es sind nicht die Jahre, die in diesem Falle eine Verbindung ausschließen, es ist der Unwert des Freiers.«

»Hm!« Sie sah plötzlich zu mir auf. »Wenn du so alt wärst wie Dazinsky – so dürfte ich heiraten ... ich nehme natürlich den Fall an, daß du mich wolltest.« Sie lachte.

Ich aber blieb ernst. »Natürlich würde ich wollen,« erklärte ich. »Aber wert wäre ich Ihrer auch nicht. Nur ... würde ich die Situation doch wohl würdiger auffassen als der polnische Graf, ich würde Ihnen die Achtung und Verehrung entgegenbringen, auf die Sie Anspruch haben, anstatt Ihnen unangebrachte Faxen und geschmacklose Komplimente zu bieten.«

»Hm! Und wenn mir nun die geschmacklosen Komplimente Freude machen, du vorlauter Bub?«

»Das glaube ich Ihnen nicht!«

»So, das sagst du, weil du sie für verlogen hältst; weil es für dich jungen Frechdachs ganz ausgeschlossen ist, daß sich jemand noch in eine alte Frau wie mich verlieben könnte.«

Ich schwieg betroffen, da dies allerdings meine Gedanken gewesen waren. Ein Weilchen blieb auch sie stumm, dann plötzlich: »Und nehmen wir den andern Fall. Wenn, anstatt daß du so alt wärst wie ich, ich so jung wäre wie du – was dann?«

»Dann,« jauchzte ich, »dann wäre ich so rasend verliebt in Sie, Marie, aber so rasend verliebt, daß ich die Welt aus den Fugen heben würde, um Sie zu erringen!«

»Und du würdest mich heiraten?«

»Natürlich, wenn Sie mich wollten. Ich müßte mir doch ein Recht sichern, alle Männer totschlagen zu dürfen, die sich an Sie heranwagen würden.«

Ich hatte, wie Sie sehen, einen scherzhaft übertriebenen Ton angeschlagen. Sie aber war ganz ernst geblieben.

»In was für tolle Faseleien wir uns verirrt haben!« sagte sie. »Die dreißig Jahre, die zwischen uns beiden liegen, kann der liebe Gott selbst nicht hinwegräumen.«

»Warum sollte er auch!« rief ich übermütig. »Es ist ja so herrlich, wie's ist. Es könnte gar nicht schöner sein.«

Sie schloß die Augen, um ungestört zu träumen. »Meinst du?« murmelte sie leise, und plötzlich, ganz unvermittelt fing sie an, krampfhaft zu schluchzen.

»Marie, was haben Sie?« Ich kniete vor ihr nieder und bedeckte ihre Hände mit Küssen. »Sie wissen ja, welchen Anteil ich an allem nehme, was Sie betrifft. Marie, schütten Sie Ihr Herz aus!«

Ich war unglaublich töricht, wie Sie sehen, und hatte von ihrem eigentlichen Gefühlszustand keine Ahnung. Sie schlug die Augen auf, heftete den Blick voll auf mich, prüfend, nachdenklich. Dann, mir ihre Hände entziehend: »Es ist nichts,« sagte sie kalt. »Die Angst vor dem Altwerden, die mich plötzlich überkommen hat. Eigentlich bin ich's ja schon, aber leider vergess' ich's manches Mal. Du warst so freundlich, mich dran zu erinnern. – Ach, wenn wir ein wenig musizierten, um auf andre Gedanken zu kommen?«

Ich setzte mich ans Klavier. Es war das erstemal seit meiner Krankheit, daß sie mir vorsang. Anfangs klang ihre Stimme verschleiert, bald aber entwickelte sie in dem engen Umfang, der ihr verblieben war, ihre ganze magische Pracht. Sie sang die schönsten Lieder von Brahms: »Immer leiser wird mein Schlummer« – »Meine Liebe ist grün«.

»Himmlisch!« murmelte ich leise, trunken vor Begeisterung. »Aber jetzt noch ›O Nachtigall!‹ und ›Du junges Grün‹!« Sie schüttelte den Kopf, wobei sie ganz blaß wurde. »Nein, die Lieder singe ich dir nicht!«

»Und warum?«

»Weil ...« begann sie mit einem traurigen, fast ängstlichen Blick, als der alte Luigi mit einer Karte eintrat.

Kaum aber hatte sie den Namen davon abgelesen, so nahm ihr Gesicht einen triumphierend freudigen Ausdruck an. »Ich lasse bitten!« rief sie und eilte dem Diener nach, dem Gast entgegen.

Es war ein ekliger Kerl mit dickem Schnurrbart, der sich in einen Backenbart mit ausrasiertem Kinn verlief, dazu eine Hakennase, sehr starke weiße Zähne und abstehende rote Ohren. Er trug eine rote Krawatte und roch nach Knoblauch. Am liebsten hätte ich ihn mit einem Fußstoß erledigt.

Die Selvaggini breitete ihm die Arme entgegen. »Jack,« rief sie, » Jack, quel bon vent t'amène!« Und sie ließ sich von ihm auf beide Wangen küssen.

Ich verließ das Zimmer. –


 << zurück weiter >>