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Anfang Oktober wurden alle der Verunstaltung preisgegebenen Mauern und Wände mit riesigen gelben Anschlagzetteln beklebt, die das Abschiedskonzert der Selvaggini verkündeten. Die Preise waren hoch. Ich dachte gar nicht daran, das Konzert zu besuchen. Da, eines Tags fand ich beim Nachhausekommen auf meinem Tisch ein Kuvert, das, offenbar direkt von Gutmann gesandt, ein Billett enthielt. Ich zuckte nur ärgerlich mit den Schultern. Aus Angst, der Versuchung zu unterliegen, schenkte ich das Billett sofort dem musikalischen Leutnant. Er lächelte mich verschmitzt an und zerfloß in Dankbarkeit. – Jetzt aber ereignete sich etwas Sonderbares. Kaum hatte ich das Billett verschenkt, so meldete sich in mir eine rasende, eine peinigende Sehnsucht, die Selvaggini noch einmal zu hören.
Das öde Gekreisch, das mein Ohr so empfindlich beleidigt hatte, als sie das Duett der Valentine mit Marcel probiert, hatte ich vergessen, ich erinnerte mich nur noch an die Stimme, mit der sie sich damals in mein Herz hineingesungen hatte in Wartenberg – die Stimme, die an alte Kirchenglocken mahnte, in deren Erz Gold gemischt ist, oder an die G-Saite einer Amatigeige.
Ich schlief schlecht und träumte dreimal hintereinander gegen Morgen denselben Traum. Ich war in Wartenberg, und die Selvaggini wollte mir etwas vorsingen, aber jedesmal, wenn sie im Begriff war, anzufangen, erwachte ich.
Meine Sehnsucht steigerte sich bis zu einer Art fixen Idee. Unglücklicherweise war ich ganz auf mich allein angewiesen, da der Professor um jene Zeit nicht in Wien weilte. Er war an das Krankenbett eines russischen Großfürsten berufen worden.
Den Tag vor dem Konzert gab ich meiner Sehnsucht nach. Ich entschloß mich, ein Billett zu kaufen. Es war keins mehr zu haben. Der Andrang war fabelhaft gewesen.
Nun geriet ich ganz außer Rand und Band. Nur ein durch und durch musikalischer Mensch kann sich einen Begriff von meiner Sehnsucht machen. In Augenblicken, die an Wahnsinn grenzten, wollte ich den Artillerieleutnant auffordern, mir das ihm geschenkte Billett zurückzuerstatten. Aber so weit habe ich mich doch nicht vergessen.
Am Tage des Konzerts fieberte ich, fühlte mich elend, ebenso müde wie rastlos. Am Abend begab ich mich zum Musikvereinssaal, um an der Kasse zu fragen, ob nicht vielleicht ein Billett zurückgebracht worden sei. Die Kasse war nicht einmal geöffnet; »Ausverkauft!« stand in großen Lettern über den geschlossenen Fensterläden.
Nun blieb mir nur eins übrig, der Appell an das »Wiener Herz«. Für ein gutes Trinkgeld, gepaart mit einem guten Wort, ist das fast immer zu haben. Vielleicht würde mich eine von den Türsteherinnen hereinlassen oder mir wenigstens gestatten, an der Tür zu horchen. Da ereignete sich etwas Sonderbares. Die Türsteherin, an die ich mich wendete, hatte ein Billett auf der Straße gefunden. Sie stellte es mir zur Verfügung. Ich betrat den Saal gerade noch, ehe die Türen geschlossen wurden.
Sie stand bereits auf dem Podium. Im ersten Moment überraschte mich ihr Anblick. Ich fand, daß sie prachtvoll aussah. Als mein Blick aufmerksamer in ihren Zügen herumforschte, merkte ich die geschickte Nachhilfe und sah, wie stark das Antlitz seit unsrer letzten Begegnung verfallen war. Immerhin blieb sie eine herrliche Erscheinung von imponierender Vornehmheit. Ihre Aufmachung war großartig. Sie trug ein silberdurchschimmertes weißes Kleid, Perlenketten bis an den Gürtel, und in dem außerordentlich kleidsam frisierten Haar Lorbeerzweige, die, aus Brillanten und Smaragden zusammengesetzt, sich diademartig über ihrer Stirn kreuzten.
Ihr Blick irrte unruhig. Ich merkte, daß er sich öfters auf den Platz richtete, wo der Artillerieleutnant sich befand. Offenbar hatte sie mich dort erwartet. Ein ungeduldiges Jucken durchlief ihre Augenbrauen, ihre Mundwinkel hingen schlaff. Sie seufzte fast gelangweilt, nachdem sie mit ihrem Begleiter, dem mir wohlbekannten Korrepetitor, ein paar Worte gewechselt und ihre Hände und Ellbogen in die für die Stimmentfaltung günstigste Haltung gebracht hatte.
Das Programm war leider fast ausschließlich aus Opernarien zusammengesetzt. Obgleich die meisten transponiert waren, lagen sie ihr doch nicht. Die hohen Töne klangen scharf. Eine fast kümmerliche Vorsicht meldete sich bei ihrer Stimmverwendung.
Der Korrepetitor machte ein finsteres Gesicht; man merkte, wie sehr ihn die Wahl der vorgetragenen Stücke verdroß.
Das Publikum war geteilt. Die Unmusikalischen schwärmten sich in eine Art Begeisterung hinein, die wirklich Musikalischen konnten ihre Enttäuschung nicht verbergen. Man klatschte wohl, das war man dem Ruf der Künstlerin und dem Preis der Billette schuldig, aber . . . nun, Sie kennen ihn ja, diesen tröpfelnden Applaus, der, plötzlich von irgendeiner bezahlten oder unbezahlten Claque angeregt, immer wieder spärlich von neuem anfängt, nachdem er fast ganz ausgesetzt hat.
Bei den ersten Nummern kam sie heraus, solange sich noch ein paar Hände abmühten, wiederholte auf die geringste Anregung hin, was niemand gewünscht hatte, ein zweites Mal zu hören, lächelte und warf der Menge Kußhändchen zu. Aber bei jeder Nummer wurde sie müder, verstimmter.
»Schade, daß sie sich auf ihre alten Tage so preisgibt!« hörte ich neben mir einen Graukopf murmeln. »Sie war die erste Sängerin der Welt!« – –
Das Konzert war vorüber.
Die Selvaggini verbeugte sich tief und verstimmt, man merkte ihr an, daß sie sich ihres Mißerfolgs ebenso bewußt war wie ihres Ungenügens.
Ein paar Menschen zwangen sich, halb aus Mitleid, halb aus Respekt für ihre große Vergangenheit, zu einer letzten Beifallsdemonstration, aber ohne alle Wärme; offenbar war niemand darum zu tun, sie noch länger zu hören.
Der Saal leerte sich rasch.
Für mich bedeutete das Konzert zugleich eine Enttäuschung und eine Erleichterung.
Da gewahrte sie mich. Sie wurde totenblaß unter der Schminke, die von einem Augenblick zum andern den Eindruck einer aufgepappten Larve annahm. Ihre Augen sanken ein, ihr Blick wurde starr. Aus dem Publikum tönten entsetzte Stimmen: »Sie wird ohnmächtig!«
Ohne auch nur den Ansatz zu einer Verbeugung zu machen, verschwand sie. Der Applaus vertröpfelte.
Ich stand im Begriff, den Saal zu verlassen, als ein erneutes Händeklatschen meldete, daß die Künstlerin sich zu einer Zugabe entschlossen habe.
Und wie sie neuerdings das Podium betrat, hatte sie sich die Schminke von den Wangen gewischt und ihre bloßen Schultern mit der breiten Zobelboa verhüllt, die ich ihr so oft nachgetragen hatte – in Wartenberg. Ich wußte, was kommen würde . . .
»O Nachtigall, dein süßer Schall«, hub sie an. Dann kam »Du junges Grün«, zum Schluß die »Alten Laute«.
Schon in ihre Mäntel gehüllt, eilten die Leute in den Saal zurück. Alles lauschte atemlos. Da war sie endlich, die warme, zum Herzen dringende Üppigkeit, die ihre Stimme von jeder andern unterschied, dabei eine Tiefe der Empfindung, wie sie im Umfang meiner Erfahrungen von keiner Künstlerin mehr erreicht worden ist. – Das war die Selvaggini.
Als sie geendet hatte, schluchzte der ganze Saal. Ein Moment atemlosen Schweigens, dann . . . das Publikum raste, wie nur ein Wiener Publikum rasen kann – stampfte – heulte – klatschte. – Da war er endlich, der große Donner, nach dem sie sich so namenlos gesehnt hatte. Ich konnte keine Hand rühren, ich war zu tief ergriffen. Alles, was mich veranlaßt hatte, mich von ihr loszureißen, hatte ich vergessen. Mochten die Leute von ihr sagen und von mir denken, was sie wollten. Nichts konnte mich mehr daran verhindern, ins Künstlerzimmer zu eilen, um vor ihr niederzuknien und ihr zu danken. Aber der Andrang der Menschen dorthin war so groß, daß eine Stauung eintrat. Da bemerkte ich vor mir einen eleganten Herrn mit stattlichen Schultern, der sich energisch und rücksichtslos einen Weg bahnte.
»Na, der hat's eilig ins Künstlerzimmer. Donnerwetter, ist das ein Kraftmeyer!« bemerkte jemand neben mir.
»Es ist der Dazinsky, der alte Anbeter der Selvaggini. Diesmal macht sie Schluß. Nächsten Montag ist die Hochzeit in der Karlskirche. Zwei Schwestern des Bräutigams kommen aus Warschau, beide russische Fürstinnen.«
»Ich wundre mich!«
»Über wen?«
»Über beide!«
»Was wollen Sie! Er ist total verkracht, und ihr war darum zu tun, sich einen Begleiter für ihre amerikanische Tournee zu sichern.«
Eine spitze, dünne weibliche Stimme, die der blonden Journalistin, bemerkte mit imponierender Sachlichkeit: »Ich höre, daß sie absolut nicht singen kann ohne erotische Anregung. Wie es scheint, hat auch die Schröder-Devrient –«
Aber was es mit der Schröder-Devrient für eine Bewandtnis hatte, erfuhr ich nicht mehr.
Wenn die Erinnerung an die Scheußlichkeiten, die man ihr vorwarf, bei jener häßlichen Szene vor meiner Flucht von Monplaisir mir zugleich Grauen eingeflößt und mein Blut erhitzt hatten, so hatten mich die gemeinen Anspielungen diesmal von einem Augenblick zum andern vollständig ernüchtert.
Meine bis zur Andacht gesteigerte Begeisterung war verflogen. Ich lachte über mich und meinen sich neuerlich meldenden Idealismus und eilte, so rasch ich konnte, nach Hause. –
Die Tage gingen vorbei, dann kam der Montag, an dem um fünf Uhr nachmittags die Trauung sein sollte. Nicht nur der Artillerieleutnant und seine Mutter, nein, das ganze Kosthaus rückte aus, um der »Vorstellung« – so nannte ich's – in der Karlskirche beizuwohnen. Selbst die arme zerzauste Magd hatte sich einen Ausgang erbeten, um wenigstens vor der Kirche – hinein hätte man sie wahrscheinlich nicht gelassen – den Einzug zu bestaunen.
Ich war soeben aus der Kanzlei zurückgekehrt und breitete die Akten aus, die ich von dort mitgebracht hatte. Denn ich war in jener Zeit sehr fleißig, arbeitete nicht nur in der Kanzlei länger als alle andern, sondern nahm mir regelmäßig ein Pensum mit. Es fing gerade an zu dämmern, in den Fenstern, die den Lichthof umgaben, glommen einzelne Lichter auf. Ich hätte die vorbereitete Petroleumlampe anzünden sollen, zögerte aber damit. Aus einer benachbarten Kirche tönten fünf Schläge. Jetzt war der Moment gekommen, wo die Diva und der verkrachte Spieler sich die Hände reichten. Mir wurde elend zumute. In meinem Herzen bohrte ein abscheulicher Schmerz herum, der gleichermaßen aus schönen und häßlichen Erinnerungen erzeugt war. Ich bemühte mich, mit erkünsteltem Zynismus dagegen anzukämpfen und summte vor mich hin:
»Sie war eine Dirne und er ein Dieb,
Doch hatten sich beide unsäglich lieb –«
Da hörte ich die Türglocke schwirren. Ich ging hinaus, um zu öffnen, sah aber niemanden als, nach aufmerksamem Zwinkern, den Rücken des Postmannes, der gerade in der Drehung der Treppe verschwand. Als ich mich umkehrte, spähte ich nach den Briefen, die er unter die Tür geschoben haben mochte. Ein einziger war da. Er strömte einen eigentümlichen Duft aus – einen Duft, der mir Ekel und Herzklopfen erregte.
Ich trug ihn in mein Zimmer und zündete die Lampe an . . . ja, er war von ihr. Ärgerlich stieß ich ihn von mir und fing an, auf und ab zu gehen. Was hatte sie mir noch zu schreiben, an dem Tage, an dem sie sich mit dem polnischen Abenteurer verband? Nun, vielleicht lud sie mich ein, der Hochzeit beizuwohnen . . .
Wie lange ich in mich hinein grollte, weiß ich nicht. Plötzlich hörte ich draußen Schritte . . . Murmeln . . . Die ganze Gesellschaft kehrte aus der Karlskirche zurück. Ich zog meine Uhr. War denn das möglich? – Es war halb sechs. Die Trauung mit ihrem ganzen Beiwerk von musikalischen Vorträgen, wie sie die Zeitungen bereits gestern verkündet hatten, konnte doch nicht vorüber sein. – Stimmen wurden laut. »Nein, so was!« – »Ist ja unheimlich!« – »Noch nie erlebt!«
Einen Augenblick zögerte ich, dann siegten die Neugierde und ein in mir aufsteigendes rätselhaftes Grauen. Ich trat in den Korridor hinaus. Dort, im Licht der hastig angezündeten Lampe, auf welche die Majorin mit aufgeregt zitternden Händen soeben den Milchglasschirm setzen wollte, stand die ganze feiertäglich geputzte Gesellschaft.
»Was hat's denn gegeben?«
»Nichts hat's geben, aufg'sessen sei m'r,« sagte eine Dame, die heute beim Mittagstisch den Vorschlag gemacht und durchgesetzt hatte, daß man seinen schönen Kleidern zu Ehren, ebenso wie um rascher zur Stelle zu sein, einen Fiaker nehmen solle.
»Die Trauung hat nicht stattgefunden,« ergänzte die Majorin, die indessen mit der Bedienung der Lampe fertig geworden war.
»Warum denn – aus welchem Grunde?«
»Sie ist tot!«
»Tot! . . . Woran ist sie gestorben? Wann? Wie ist's geschehen?«
»Kein Mensch weiß! Man hat uns keine Auskunft gehen können oder . . . wollen.« – –