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Vor dem etwas versteckt liegenden hinteren Tore der Distriktsfeste stand Herr Lerse mit seinen drei Leuten zum Abmarsch bereit.
»Habt ihr auch genug Patronen bei euch? Wir werden sie gebrauchen!« sagte er leise.
»Zu Befehl, Herr Unteroffizier!« klang es zurück, so fest, so freudig, daß er sich unwillkürlich die Leute noch einmal ansah. Sie machten einen vortrefflichen Eindruck. Auf Anraten des Sergeanten Schauseil hatte er Lehmann, den Berliner, Neumann, den Sachsen, und Könnecke, einen der ortsansässigen Reservisten, ausgewählt.
»Es sind jerissene Jungens,« hatte der Sergeant gemeint. »Der Lehmann ist zwar ein Schlingel, und der Neumann hat so krumme Knochen, daß man ihm bei Stilljestanden ein Kommißbrot zwischen die Beine durchschmeißen könnte. Aber als Patrouille – – nich dran zu tippen! Einfach jroßartig! … Und nu machen Sie's gut, Herr Kamerad. – Es jibt im Leben zwei Töppe, in die der Mensch reinfaßt, in dem einen ist Schlampagner – und in dem anderen ist Essig. – Sie haben in den Schlampagnertopp reinjejriffen, denn Sie können jetzt raus, während wir anderen hier in dem Essigtopp sitzen und versauern müssen. – Aber was befohlen ist, ist befohlen. – Also leben Sie wohl – und denken Sie mal an mir!«
Damit hatte er, Tränen in den Augen, Herrn Lerse die Hand geschüttelt und war zu seinen Leuten gegangen, die auch alle am liebsten mit auf Patrouille gezogen wären, hinaus in den Kampf, nach dem sie alle brannten.
Der Distriktschef selbst kam jetzt, um Herrn Lerse das Schriftstück zu übergeben, in dem er dem Gouvernement über die Lage in der Feste berichtete. Er reichte Herrn Lerse die Hand und sagte: »In Ihrer Hand ruht jetzt vielleicht das Geschick dieser Feste und ihrer Verteidiger. Aber ich verlasse mich auf Sie. – Gott schütze Sie! – Ich hoffe, Sie bald wieder zu sehen.«
Herr Lerse bedankte sich, wandte sich dann zu seinen Leuten und befahl: »Stillgestanden! – Das Gewehr – über! – Ohne Tritt – marsch!«
Leise öffnete der hier stehende Posten das Tor, und vorsichtig ging es nun hinaus und über den schmalen Weg hinweg zunächst in das Dorngestrüpp, das hier den Festungshügel umwucherte.
Am Fuße der Anhöhe, wo das Buschwerk am Rande eines ausgetrockneten Bachbettes endete, wurde halt gemacht. Gegenüber ragten die Klippen auf, von denen aus die Herero noch immer munter nach dem Hofe des Distriktsgebäudes hinüberschossen.
»Sie meinen also wirklich, daß wir hier über den Bach fortkönnen, ohne daß die uns da oben sehen?« wandte sich Herr Lerse an den Reservisten, der schon seit drei Jahren in dem Orte ansässig und infolgedessen am besten unterrichtet war.
»Jawohl, Herr Unteroffizier,« antwortete Könnecke. »Ich bin selbst oft da oben gewesen. Die Klippen springen zu weit vor. Von keiner Stelle aus sieht man den Bach. Außerdem haben wir keinen anderen Weg, wenn wir unbemerkt hinauskommen wollen.«
»Nun dann also: Vorwärts! Sie gehen voran, Könnecke, und zeigen uns den Weg. Sobald wir Feuer bekommen. – marsch-marsch bis zur nächsten Deckung. Verstanden?«
»Jawohl, Herr Unteroffizier!« antwortete Lehmann, dem das Unternehmen riesigen Spaß zu machen schien; denn er sah so vergnügt aus, als solle es nach dem Grunewald zur Landpartie gehen.
»Zu Befähl!« echote der Sachse, der ebenfalls sehr unternehmungslustig dreinschaute.
Wenige Minuten darauf hatten sie die so gefährlich scheinende Stelle hinter sich. Könnecke hatte recht gehabt: niemand hatte sie von der Klippe aus gesehen.
Aber jetzt klang ganz nahe von rechts her, wo die nächsten Gehöfte des Orts lagen, das Schießen des Feindes. Keine dreißig Schritte weit davon mußten die ersten Herero im Versteck liegen. Glücklicherweise war eine Mauer dazwischen. In ihrem Schutze schlich sich die Patrouille weiter und gelangte so endlich in den Rücken der feindlichen Schützen an den Rand eines Buschwaldes, der sich weit nach Norden hin zu erstrecken schien. Hier wurde halt gemacht und Kriegsrat gehalten.
»Es gibt zwei Wege, um nach Süden an den Swakop heranzukommen, wo die Windhuker liegen,« erklärte Könnecke auf Herrn Lerses Befragen. »Entweder wir halten uns jetzt links und gehen über die Berge –«
»Eiweih! Die Kletterpartie!« warf Lehmann dazwischen, zog sich dafür aber einen sehr ernsthaften Verweis zu.
»Warten Sie, bis Sie gefragt werden, Reiter Lehmann!« fuhr ihn Herr Lerse an, um von vornherein die Disziplin zu wahren; er fragte dann den Reservisten nach dem anderen Wege, um an den Swakop zu gelangen.
»Der andere Weg führt nach Osten, Herr Unteroffizier,« antwortete Könnecke. »Er ist aber gefährlich; denn das Gelände ist meist offen, und wir müssen um die Werft herum.«
»Sie halten ihn aber für näher?« fragte Herr Lerse weiter.
»Jawohl, Herr Unteroffizier, er ist viel näher, aber auch viel gefährlicher.«
»Was tut das? Nach Osten also! Rechts um! Marsch!«
Lehmann, dem der kleine Rüffel nicht weiter nahe gegangen war, schmunzelte. Er schluckte zwar das »Bravo!«, das ihm auf der Zunge schwebte, pflichtschuldigst hinunter. Sobald aber Herr Lerse mit Könnecke so weit vorausgegangen war, daß er nicht mehr hören konnte, was hinten gesprochen wurde, ließ es ihm doch keine Ruhe, bis er dem Kameraden sein Herz ausgeschüttet hatte.
»Is doch mächtig schneidig von dem ollen Unteroffizier, was?« begann er, dem Kameraden ein Stückchen Kautabak reichend. »Wenn es nach dem schlappen Zivilisten jejangen wäre, hätt' er uns doch in die Berge jeschleppt. Immer ruff und runter. Der Soldat ist doch jewissermaßen keene Jemse nich!«
»Nu äben!« fiel der Sachse ein. »Und von den Hereros hätten mer da oben doch weeß Knebbchen nicht die Bohne zu sähen gekriegt. Wozu hat mer denn die olle Gnarre uff'm Buckel, wenn mer nich mal damit schießen soll?«
»Janz meine Meinung!« sagte der Berliner wieder. »Aber laß man jut sein; der Unteroffizier wird schon dafür sorgen, daß wir nich verschimmeln; der jeht ran! Ich müßte mir sehr irren, wenn das heute nicht noch ein sehr verjnügter Vormittag würde.«
In diesem Augenblick sauste eine Kugel dicht an Neumanns Nase vorbei.
»Neumann! Mach dir dünne!« rief er, sich selbst zwischen die Büsche niederduckend. »Hier schmeißt einer mit Kirschkerne! … Die Bande scheint uns doch jesehen zu haben.«
Und wirklich hörte man gleich darauf von der rechts unten liegenden Werft her wildes Geschrei. Ringsumher raschelte es in den Büschen von einschlagenden Kugeln, und eine Schar von Hererokriegern kam, Spieße und Keulen schwingend, auf den Buschwald losgestürmt.
Aber nun zeigte es sich, das Sergeant Schauseil nicht zu viel gesagt hatte: »Als Patrouille – nich dran zu tippen!« Im Nu hatten die beiden Reiter Herrn Lerse verständigt und ihm die Richtung angegeben, in der sie entkommen könnten, und als die Herero die Stelle erreicht hatten, wo sie die verdächtigen Gestalten zu sehen glaubten, war unsere Patrouille längst in Sicherheit.
Der Feind war nun jedoch aufmerksam geworden. Es hieß also eilen, wenn man nicht bald den Weg verlegt finden wollte. Herr Lerse entschloß sich deshalb, gleich hinter der Werft nach Süden abzubiegen, trotz der Warnungen des Reservisten, der erklärte, man werde auf diese Weise den Feinden geradezu in die Arme laufen.
»Dann werden wir sie eben über den Haufen rennen!« rief Herr Lerse. »Durch müssen wir, und jede Minute ist kostbar. Vorwärts! Richt' euch! Marsch! Marsch!«
Im Laufschritt ging es nun, die Körper so weit als möglich zusammengeduckt, über den offenen Weideplan hinweg in eine kleine Talsenkung, die hinter die, Dornenhecke des großen Kraals führte. – Und wirklich schien das kühne Unternehmen geglückt zu sein; dem Mutigen gehört die Welt! Offenbar waren die als Viehhüter auf der Werft zurückgebliebenen Feinde alle mit in den Buschwald gelaufen und so sehr in die ergebnislose Jagd vertieft, daß niemand sich draußen nach den Flüchtlingen umgesehen hatte.
Hinter dem Kraal, in dem Tausende von Ochsen zusammengetrieben waren, erwies sich der Weg ziemlich sicher, und so kam die Patrouille glücklich so weit nach Süden herum, daß sie schon die Uferberge des Swakop erkennen konnte, hinter die sie gelangen mußte, um an die Windhuker heranzukommen.
»Reiter Lehmann! Nun zeigen Sie mal, was Sie können,« befahl Herr Lerse, nachdem sie hinter einem mit Kaktusgestrüpp bewachsenen Hügel halt gemacht hatten. »Gehen Sie voraus, suchen Sie die Stellung des Feindes und die der Windhuker Abteilung zu erkunden und kommen Sie so bald als möglich zurück. Vorsicht brauche ich Ihnen wohl nicht erst anzuraten, und das Gelände kennen Sie doch wohl auch?«
»Zu Befehl, Herr Unteroffizier,« antwortete der Berliner mit freudigem Stolz, daß ihm dieser Auftrag zu teil geworden war. Der Boden dröhnte ordentlich, so kräftig trat er beim Kehrtmachen auf. Dann nahm er das Gewehr unter den Arm und schlich sich hinter dem Hügel davon.
Neumann und Könnecke wurden nun an verschiedenen Stellen als Beobachtungsposten ausgestellt und Herr Lerse selbst kroch hinter einen Akazienbusch auf der Höhe des Hügels, um von dort aus Umschau zu halten.
Man konnte von dieser Stelle aus bis zur Feste hinübersehen, aber keine Einzelheiten erkennen. Wie es schien, hatte sich an der Lage inzwischen nichts verändert. Die Herero feuerten noch immer von allen Seiten auf die Distriktsgebäude, und noch immer knatterte aus derselben Richtung und Entfernung von Süden her das Maschinengewehr. Auch die Windhuker waren also offenbar noch nicht weiter gekommen.
Mit Ungeduld wartete Herr Lerse auf die Rückkehr des Berliners. Aber eine halbe Stunde verging, und nichts war von ihm zu sehen oder zu hören.
»Hätte ich ihn doch nur nicht ausgesandt!« dachte Herr Lerse. »Wenn ich gleich selbst mit der ganzen Patrouille mein Heil versucht hätte, wären wir vielleicht schon drüben!«
Dazu kam noch, daß die feindlichen Krieger, die bisher vergeblich im Buschwald nach ihnen gesucht hatten, jetzt zurückgekehrt waren und überall in der Umgebung des nahen Kraals herumwimmelten. Wie leicht konnten sie nicht auch nach dem Hügel kommen, die Patrouille entdecken und sie dann unfehlbar zu einem Gefechte zwingen.
Herr Lerse verließ also den Hügel wieder, zog seine beiden Beobachtungsposten ein, die nicht mehr zu berichten wußten, als er selbst gesehen hatte, und, wollte eben in der Richtung weiter marschieren, in der Lehmann davongegangen war, als der Sachse plötzlich dahergelaufen kam und ihm zuflüsterte: »Herr Unteroffizier! Der Lähmann! Sähen Sie, da drüben uff'm Hügel, wo der große Gaktus steht. Dichte danäben, da ist er!«
»Ich sehe nichts als einen Stein, der neben dem Kaktus liegt,« entgegnete Herr Lerse, vergeblich bemüht, auf der bezeichneten Anhöhe den sehnsüchtig erwarteten Reiter zu entdecken.
»Nu äben! Der Stein! Das ist ja der Lähmann, Herr Unteroffizier!« rief Neumann, mit großer Lebhaftigkeit hinüberzeigend, »'s ist doch ein Pfiff von dem Lähmann! Der Stein ist sein Hut, und dahinter steckt er selber. Es muß was nicht richtig sind hierherum! Nähmen's der Herr Unteroffizier nicht vor übel; aber wenn der Herr Unteroffizier entschuldigen wollen, so müssen mer alleweile warten, bis der Lähmann zurück ist.«
»Ich nehme es Ihnen gar nicht übel,« antwortete Herr Lerse. »Sie kennen die Gegend besser als ich; wenn Sie also meinen, daß es zweckmäßiger ist, so wollen wir hier halt machen.«
Und bald zeigte es sich in der Tat, daß der Sachse recht gehabt hatte. Keine zwanzig Schritt von ihnen hinter der Höhe ließ sich das charakteristische Getrappel barfüßig laufender Eingeborener vernehmen. Gleich darauf hörte man sie auch sprechen.
»Dumme Schufte seid ihr! Faule Hunde!« schalt der eine. »Der Ziegenjunge hat sie doch hinter dem Kraale fortschleichen sehen. Geschlafen habt ihr. Hättet sie sonst gefaßt, wie der Tiger die Hühner!«
In atemloser Spannung lauschte Herr Lerse. Er hatte sich hinter einen Dornbusch geduckt, während Neumann und der Reservist bemüht waren, sich zwischen einer Kaktusgruppe unsichtbar zu machen.
Das Getrappel dauerte noch eine Weile, und auch das Sprechen hörte man noch eine Zeitlang.
Dann aber wurde es wieder still. Wie es schien, war die Gefahr vorüber, und nun begann auch der vermeintliche Stein drüben auf der Höhe lebendig zu werden. Langsam zog er sich hinter die Kuppe zurück und war plötzlich verschwunden.
Wenige Minuten später stand der Reiter Lehmann, wie aus der Erde gestampft, vor seinem Unteroffizier und meldete in vorschriftsmäßiger Haltung: »Reiter Lehmann von Erkundung zurück. Windhuker stehen vor den Bergen am Swakop. Maschinengewehr diesseits vor Eisenbahnbrücke. Feind hält janzes Jelände bis an Fluß besetzt. Hat überall Erdbefestigungen ausjehoben. Durchkommen ohne Kampf unmöglich.«
»Nun dann also in Gottes Namen!« rief Herr Lerse. »Durch müssen wir, Kameraden! Wollt ihr mir folgen?«
»Jawohl, Herr Unteroffizier!« schallte es freudig zurück.
»Das Gewehr über! – Gehen Sie voran, Reiter Lehmann! Wo am meisten Aussicht ist, durchzukommen, da führen Sie uns hin. – Wenn ich fallen sollte – hier zwischen dem zweiten und dritten Knopf steckt die Meldung. Durch muß sie! – Alles andere ist gleichgültig! Habt ihr verstanden, Kameraden?«
»Jawohl, Herr Unteroffizier!«
»Vorwärts also! Ohne Tritt marsch!«
Schweigend zog die Patrouille weiter, bis sie an den Rand eines kleinen Gebüsches gekommen war.
Rechts drüben tobte noch immer der Kampf.
Plötzlich machte Lehmann, der voraus war, halt, ließ die anderen herankommen und sagte leise zu Herrn Lerse: »Wir sind 'ran, Herr Unteroffizier! Da vor den Büschen liefen sie. Das vorhin waren nur ein paar Männekens zur Seitendeckung. Vielleicht können wir uns hier durchschlängeln.«
Herr Lerse nickte nur, winkte den anderen und vorwärts ging es.
Unbehelligt kamen sie über die verhängnisvollen Büsche hinweg. Nichts ließ erkennen, daß dort die Feinde verborgen seien.
Aber Herr Lerse kannte die heimtückische Fechtart der Herero. Er wußte, daß sie immer den sie aufsuchenden Gegner an sich vorbeiließen, um dann aus dem Hinterhalt über ihn her zu fallen. Diesen Spaß wollte er ihnen versalzen. Sobald sie also etwa zwanzig Schritte über die Büsche hinausgelangt waren, befahl er plötzlich ganz schnell: »Halt! Front! Nieder!«
Die Leute, die den Zweck dieses Befehls sofort eingesehen hatten, führten ihn so rasch aus, daß sie im nächsten Augenblicke hinter Deckung lagen.
Es war aber auch die höchste Zeit gewesen; denn in demselben Augenblicke krachten aus dem Gebüsch die Schüsse, während an einer anderen Stelle eine ziemlich große Abteilung mit Keulen und Spießen bewaffneter Herero im Begriff war, hervorzubrechen.
»Achtung! Legt an! – Feuer!« befahl Herr Lerse.
Krachend fuhr die Salve zwischen die braunen Krieger. Mit wildem Geschrei stoben sie auseinander, bis auf vier, die tot oder schwer verwundet zusammenbrachen, aber gleich darauf von ihren Genossen in die Büsche gezogen wurden.
»Nicht weiter schießen!« befahl Herr Lerse. »Sie werden jetzt wohl für eine Weile genug haben. Diese Zeit müssen wir benützen, um weiter zu kommen. Auf! Kehrt! Marsch! Marsch!«
Sie liefen nun, soweit als möglich gebückt, vorwärts, und obgleich das Feld ziemlich frei war, wurde nicht hinter ihnen hergeschossen. Dagegen hörte Herr Lerse aus dem Gebüsch den Anruf einer bekannten Stimme: »Hei! Hei! Bruder Lerse! Was tust du? – Hier sind gute Freunde, und du läßt schießen? Willst du deinen besten Freund Isaak totschießen, der sich so sehr freut, dich wiederzusehen und mit dir zu reden hat?«
»Der auch schon hier? Wie mag es dann in Marienhof aussehen!« dachte Herr Lerse, ließ sich aber durch die schönen Worte des schlauen Unterkapitäns nicht irre machen, der ihn sicher doch nur in eine Falle locken und so auf gefahrlosere Weise unschädlich machen wollte.
Erst nach einer ganzen Weile, als der Atem ihm auszugehen begann, ließ er wieder halt machen und die Leute in derselben Weise wie vorhin in Deckung gehen.
Aber als sie sich jetzt dabei umdrehten, sahen sie, daß auch die Herero mitgelaufen waren und ihnen alle Bewegungen nachzumachen schienen.
»Wie weit ist es noch bis zur Stellung der Windhuker?« fragte Herr Lerse den Berliner.
»Vorhin lagen sie hier keine zweihundert Schritt weit drüben hinter dem Hügel. Aber sie scheinen sich jetzt nach Westen jezogen zu haben,« antwortete Lehmann.
»Und wer feuert denn dort hinter den Akazien?« fragte Herr Lerse weiter.
»Das sind ja die Akazien, die beim Kirchhof stehen, und dann werden es wohl sicher Hereros sind,« entgegnete Lehmann.
»Na allemal sind das Hereros!« bestätigte der Sachse, und auch Könnecke war derselben Überzeugung.
»Dann müssen wir uns also mehr nach links halten, weil wir sonst leicht zwischen zwei Feuer kommen könnten,« meinte Herr Lerse.
Das erklärte Lehmann aber für unmöglich. Links nach dem Swakop zu läge eine sehr starke feindliche Abteilung und hier wäre die Linie der Herero nur so weit zurückgebogen, um die Windhuker in eine Falle zu locken. Die hätten aber den Braten wohl rechtzeitig gerochen und sich wieder zurückgezogen. Die einzige Möglichkeit wäre, weiter geradeaus zu gehen und es darauf ankommen zu lassen, daß auch die vom Kirchhofe auf sie schießen würden.
Herr Lerse entschloß sich also, einen zweiten Sprung in der bisherigen Richtung zu wagen, und war eben im Begriff, den Befehl zu geben, als wieder Isaaks Stimme hörbar wurde, ohne daß von ihm selbst irgend etwas zu sehen gewesen wäre.
»Heda! Bruder Lerse!« rief er. »Warum hörst du nicht auf die Stimme deines Freundes? Lege doch die Büchse aus der Hand und komm herüber. Ich bringe dir Kunde vom Buschläufer und von deinem Weibe!«
Herrn Lerse fuhren diese Worte ins Herz. Nachrichten von den Seinen? O, wer ihm die jetzt geben könnte! – Aber er bezwang sich. Es war unmöglich, daß der schurkische Herero etwas anderes im Sinne haben konnte, als ihn ins Verderben zu locken. Nur einen Augenblick zögerte er, dann befahl er, wie vorhin: Auf! Kehrt! Marsch! Marsch!«
Sie gelangten diesmal bis hinter den Hügel, den vorhin nach Lehmanns Aussage die Windhuker besetzt gehalten hatten, und obwohl die Herero diesmal wie toll hinter ihnen herschossen, war niemand verwundet. Hier waren sie wenigstens für den Augenblick gedeckt; sie konnten sich aufrichten und umschauen, ohne fürchten zu müssen, getroffen zu werden.
Schnell hatte Herr Lerse sich unterrichtet. Dicht hinter ihnen lag ein ausgetrocknetes Bachbett. Ziemlich steil stieg am jenseitigen Ufer eine Felswand empor. An ihr mußte man also rechts vorbei, obwohl man dann gerade in die Feuerlinie der vom Kirchhof her schießenden Herero geriet. Aber gleich dahinter mußten die Windhuker liegen; das hörte man an dem Geknalle. Lange war hier hinter dem Hügel ihres Bleibens auch nicht; denn schon rückte Isaak mit seiner Abteilung von allen Seiten heran.
»Jetzt am Bachbett entlang bis nach dem Gebüsch da unten! Von dort aus müssen wir die Windhuker schon sehen können!« befahl Herr Lerse.
Sie gelangten glücklich dort hin, und richtig: da drüben auf der Höhe bewegte es sich zwischen den Büschen. Das konnten doch nur die Windhuker Truppen sein. – Aber jetzt drohte ihnen eine neue Gefahr, an die wohl keiner von ihnen bisher gedacht hatte: Sie bekamen plötzlich von den eigenen Landsleuten Feuer. Auch die Windhuker hatten sie offenbar bemerkt, hielten sie für vordringende Feinde und schossen deshalb auf sie.
»Hallo! Hört doch auf zu schießen! Sind ja Freunde! Laßt uns doch hinüber!« schrie Herr Lerse.
Aber bei der starken Schießerei verhallte seine Stimme, und da auch viele Herero Deutsch sprachen, hätten sich die Windhuker auch schwerlich darauf eingelassen, selbst wenn sie es verstanden hätten.
Und dabei rückte Isaak mit seinen Leuten näher und näher heran, während gleichzeitig die vom Kirchhofe aufmerksam zu werden anfingen. Es war eine fürchterliche Lage. Liegen bleiben konnten sie nicht, hervorbrechen aber ebensowenig; denn bei dem beiderseitigen starken Feuer würde keiner lebend auch nur bis in das Bachbett hinunter gekommen sein.
»Herr Unteroffizier! Wir müssen was singen, damit sie uns erkennen,« rief Lehmann plötzlich. »Die ›Holzauktion‹, oder ›Komm, Karlineken!‹«
Herr Lerse war damit einverstanden. Aber die Anregung des Berliners hatte den Sachsen auf einen noch besseren Gedanken gebracht.
Noch ehe die anderen mit der Singerei in Gang kommen konnten, hatte er eine kleine Querpfeife aus der Tasche gezogen, mit der er sich in den Mußestunden die Zeit zu vertreiben pflegte, und mitten in das Geknatter der von allen Seiten auf sie gerichteten Gewehre hinein erklang plötzlich in hohen grellen Tönen der Lockruf des Parademarsches: »Ti–tidaridarititi–ti–tidaridaridarititi – – –«
Gleich darauf verstummte drüben auf der Höhe das Feuer. Es beugte sich etwas in den Gebüschen nach vorwärts. Dann erklang eine Stimme: »Wer da?«
»Patrouille – mit Meldung aus der Feste!« rief Herr Lerse.
»Schockschwerenot, das war aber die höchste Zeit!« klang es zurück. »Warten Sie noch einen Augenblick. Ich werde eine Aufnahmestellung für Sie nehmen lassen. Sobald ich zu schießen anfange, kommen Sie herüber. Haben Sie verstanden?«
»Zu Befehl!« rief Herr Lerse.
Noch ein paar furchtbare Minuten vergingen. Man sah, wie drüben in den Büschen stärkere Abteilungen vorgeschoben wurden. Aber man hörte auch ringsumher die Herero herankommen. Nur um Augenblicke noch konnte es sich handeln. Dann war es zu spät! Dann waren sie abgeschnitten!
Da – endlich – krachte von drüben her die erste Salve. Mit wildem Wutgeheul antworteten die jetzt von allen Seiten hervorstürmenden Feinde.
»Auf! Marsch! Marsch!« schrie Herr Lerse.
Im nächsten Augenblick waren sie unten im Bachbett. Schon hatten sie die Mitte erreicht, da brach Lehmann zusammen.
»Au!« stöhnte er, sich nach der Brust fassend. »Mir jeht die Puste aus. – Die Bande! – Weeß Jott, Sie haben mir nur zu jut jetroffen!«
Der Sachse wollte dem Kameraden zu Hilfe eilen – ein Kopfschuß hatte aber gleich darauf auch ihn niedergestreckt. Lautlos war er vornüber gesunken. – Kurz darauf fiel auch Könnecke.
Nur Herr Lerse gelangte über das Bachbett hinweg bis an den Rand der Anhöhe.
Er hatte das Schreiben mit der Meldung hervorgezogen und hielt es hoch in der Hand. Noch wenige Schritte, und er wäre am Ziele gewesen. – Da traf auch ihn eine Kugel in das Bein, als er eben im Begriff war, sich hinaufzuschwingen.
Er verlor den Halt an den abschüssigen Felsen und rutschte in das Bachbett zurück, während die Herero mit furchtbarem Gebrüll herangestürmt kamen.