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Marienhof.

Daheim wurde Kaspar schon sehnsüchtig erwartet. Therese oder Röschen, wie sie von den Ihrigen genannt wurde, seine einzige, um drei Jahre ältere Schwester, war schon mehrmals nach dem kleinen Wartturm gelaufen, den Vater Lerse an der äußersten oberen Ecke des ausgedehnten Gartens auf einem steil in das Flußbett abfallenden Felsen aufgerichtet hatte, um nach dem Bruder auszuschauen.

Er hatte doch gesagt, daß er nur einmal den Fluß hinaufgehen wolle, um zu baden und zu sehen, was weiter oben von dem »abgekommenen« Flusse noch übrig geblieben sei. Die Büchse hatte er zwar, wie gewöhnlich, mitgenommen, nicht aber die Hunde. Auf die Jagd würde er also wahrscheinlich nicht gegangen sein. Und doch blieb er so lange aus, der Schlingel! – während der Vater so dringend seiner bedurfte!

Vater Lerse hatte nämlich während des regenlosen Winters am unteren Rande des Gartens mit großer Mühe ein ziemlich umfangreiches Sammelbecken angelegt, um die Wassermassen aufzufangen und zur Bewässerung des Gartens zu verwenden, die bei den vereinzelten, aber dann gewöhnlich sehr heftigen Gewitterregen der Sommermonate niedergingen und meist ungenutzt verrieselten. Das war eine gewaltige Errungenschaft; denn der Garten war bisher allein auf die Brunnen und auf die Flüssigkeit angewiesen gewesen, die man kübelweise von den Wasserstellen unten im Flußbett hatte herauftragen müssen.

Um den Boden dicht zu machen, hatte er mit ansehnlichen Kosten sogar Zement kommen lassen und keine Ausgabe gescheut, die Anlage so haltbar und so zweckmäßig als möglich werden zu lassen; denn Herr Lerse war immer für das Solide und Zweckmäßige, und wenn es wirklich gelang, auf diese Weise einen größeren Vorrat an Wasser aufzuspeichern, ja dann! Dann konnte man daran denken, den Garten zu vergrößern und vielleicht auch für den Eigenbedarf etwas Brotfrucht und Kartoffeln zu bauen, die in den meisten Gegenden unseres südwestafrikanischen Koloniallandes so kostbar sind, daß nur der Wohlhabende sie sich zuweilen als besondere Leckerbissen leisten kann.

War das eine Freude gewesen, als das Wasser gestern nachmittag so munter in das Sammelbecken hineingelaufen war! Fast bis zum Rande war es gestiegen! Und nun heute früh der Schreck, als der aus Steinen zusammengebaute Rand über Nacht an einer Stelle locker geworden war! Schnell hatte man ihn zu stützen versucht, aber da war es auch schon losgegangen. Erst ganz langsam. Aber plötzlich gaben die Steine an der untersten Stelle, wo der Druck am stärksten war, ganz nach, und nun strömte das köstliche Naß in mächtigem Strahl heraus, noch dazu gerade in eine junge Anpflanzung hinein, die dadurch in Gefahr geriet, fortgeschwemmt und vollständig vernichtet zu werden.

Herr Lerse war außer sich. So ein Pech!

Vergebens bemühte er sich, das Loch mit Brettern, Strauchwerk und Steinen zu verstopfen. Kaum war ihm das endlich an dem einen Ende geglückt, klatsch! – brach das Wasser an dem anderen mit umso größerer Macht hervor. Es fehlten eben die Arbeitskräfte, die ihm dabei hätten helfen können. Traugott und Elias, die beiden Hottentotten aus dem Kälberkraale, die er zuweilen auch im Garten beschäftigte, stellten sich bei der ungewohnten Arbeit doch auch gar zu ungeschickt an. Sie schadeten mehr als sie nützten.

»Lauf schnell zu meiner Frau, Traugott, sie soll sofort herüberkommen und meine Tochter auch!« befahl Herr Lerse. Und Frau und Tochter kamen und packten zu, wo sie konnten. Aber sie waren zu schwach, um die Bretter gegen den Druck des Wassers so lange festzuhalten, bis Herr Lerse sie mit Steinen und Erde befestigt hatte. Das hätte nur Kaspar fertig gebracht, und der bummelte herum, statt hier seine Schuldigkeit zu tun.

»Wozu hat man nun den Bengel großgezogen, wenn er nicht da ist, wo man ihn braucht?« schalt Vater Lerse. »Hierher die Steine, Traugott! Mensch, stelle dich doch nicht so unglaublich dumm an! – – So halte doch fester, Röschen, das ganze schöne Wasser läuft uns ja fort. – So ein Taugenichts! – – Na warte! – – – Wo fährst denn du hin mit deiner Karre, Elias? – Hierher mit der Erde! Es ist zum Verzweifeln mit dieser Gesellschaft!«

So wetterte er weiter, daß den Frauen ganz angst und bange wurde, bis er schließlich Therese, die hier doch nicht viel helfen konnte, wieder nach dem Wartturm schickte, um nachzusehen, ob Kaspar noch immer nicht käme, und um ihm gegebenenfalls entgegenzulaufen.

Aber auch diesmal war von dem Jungen nichts zu sehen, und Röschen war schon beklommenen Herzens im Begriff, mit der unwillkommenen Botschaft zum Vater zurückzukehren, als sie in der Ferne einen Reiter bemerkte, der langsam über den gegenüberliegenden Weideplan daherkam, gerade auf Marienhof zu.

Sie hatte ihn sofort erkannt, den stattlichen Reitersmann, und eine leichte Röte färbte ihr hübsches Gesicht, dessen weiße, zarte Haut trotz der Sonnenglut und der vielen Arbeit im Freien nie besonders stark verbrannte.

Unter gewöhnlichen Umständen wäre Röschen jetzt schnell in das Haus gegangen, um an der Seite der Mutter den Besucher zu erwarten, von dem sie wohl wußte, daß er nur ihretwegen kam, wenn er es ihr auch bis jetzt noch nicht ausdrücklich gesagt hatte.

Heute aber dachte sie anders. »Herr Körner?« dachte sie, »der kommt ja wie gerufen. Der ist stark. Der wird dem Vater schon besser helfen können!«

Rasch lehnte sie sich über den Rand des Gemäuers und winkte mit dem Taschentuche nach dem Reiter hinüber, der das Zeichen dann auch sogleich bemerkt zu haben schien, denn er trieb sein Pferd zu schnellerer Gangart an, setzte sogar über das sandige Flußbett im Galopp hinweg und war bald so nahe herangekommen, daß Röschen ihm zurufen konnte: »Kommen Sie schnell, Herr Körner! Sie können uns einen großen Dienst erweisen. Bitte, bitte, so schnell als möglich!«

Das spornte den Ankömmling, den der ungewöhnlich lebhafte Empfang von Seiten des verehrten Mädchens mit besonderer Genugtuung erfüllt hatte, nur noch mehr an. Im Nu war er den kleinen Abhang hinaufgesprengt und in den Vorplatz eingebogen, in den der vom Gehöft nach dem Garten führende Fußweg einmündete. Hier sprang er vom Pferd, band die Zügel, ohne das Tier erst nach dem etwas abseits liegenden Gehöft zu führen, am nächsten besten Akazienstamm fest und eilte in den Garten.

An der kleinen Pforte, die durch die sauber gehaltene Dornhecke führte, kam Röschen ihm schon entgegen, reichte ihm die Hand und sagte: »Wie schön, daß Sie da sind, Herr Körner. Vater ist in so großer Verlegenheit. Aber Sie werden ihm helfen. Kommen Sie!«

Herr Körner war zwar anfangs ein bißchen enttäuscht, daß die Eile, zu der er angefeuert worden war, ihren Grund nur in einer Verlegenheit, die Vater Lerse betraf, gehabt hatte. Aber im nächsten Augenblick hatte er das überwunden und eilte hilfsbereit hinter dem Mädchen her, das schon vorangelaufen war, um dem Vater die glückliche Kunde von der Ankunft des Freundes zu überbringen.

Das war nun allerdings eine sehr erfreuliche Nachricht. Herr Körner, der war hier gerade der rechte Mann! Weit und breit war man in der Gegend des Lobes voll über die Tatkraft und Umsicht, mit der er in wenigen Jahren seine Ansiedlung aus einer Wüstenei in eine vortreffliche Wirtschaft umgewandelt hatte. Sogar Weizen konnte er schon bauen, und keine Ochsen standen bei den Fuhrleuten höher im Preise als die seinigen. Wenn Herr Körner jetzt mit zugreifen würde, dann konnte man beruhigt sein.

Und Herr Körner täuschte die auf ihn gesetzten Erwartungen nicht. Mit scharfem Blick hatte er sofort überschaut, was hier vor allem nottat, und mit starkem Arm half er den schnell entworfenen Plan ausführen.

Nach kurzer Zeit war das Loch so weit und so sicher verstopft, daß man es ohne Besorgnis sich selbst überlassen konnte, bis es möglich sein würde, das beschädigte Mauerwerk wiederherzustellen und dauernd zu befestigen.

Mit herzlichem Dank klopfte Vater Lerse dem jungen Mann auf die Schulter und sagte: »Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen, Körner. Ihre Hilfe hat mich vor großen Verlusten bewahrt. Aber das ist nicht das einzige, was mich jetzt freut. Mehr noch erfreut mich das Bewußtsein, daß man im Falle der Not doch nicht ganz verlassen ist in diesem einsamen Lande, daß man Freunde in der Nachbarschaft hat, und daß man sich aufeinander verlassen kann, wenn es einmal Ernst werden sollte. Denn man kann nie wissen, was für schwere Tage einem in unserer Lage bevorstehen.«

»Ja, das sage ich auch, Herr Lerse,« antwortete der junge Mann, dem älteren Freunde mit festem Druck die Hand reichend. »Und das ist auch mit die Veranlassung, die mich heute zu Ihnen geführt hat. Ich möchte mich einmal mit Ihnen darüber aussprechen.«

»Das ist recht, und ich habe auch mancherlei auf dem Herzen,« entgegnete Herr Lerse. »Aber erst wollen wir uns mal ein bißchen stärken nach der schweren Arbeit und es uns in der kühlen Stube bequem machen. Du hast doch hoffentlich einen guten Happen, Frau? Und du, Röschen, gehst hinüber in den Keller und bringst uns einen frischen Trunk. Wenn auch der Wein bei uns noch nicht so gut gedeiht, wie bei Ihnen in Neu-Schafstädt, so kann sich die Marienhofer Auslese doch auch immerhin schon sehen und trinken lassen.«

Während die beiden Frauen nach dem Gehöfte davongingen, um das Frühstück zu bereiten, begaben sich die Männer nach einer kurzen Wanderung durch den Garten, in dem neben Gemüse aller Art, neben Tabak, Weinstöcken, Orangen und Feigen auch eine Gruppe von jungen Dattelpalmen munter gedieh, nach dem Vorplatz, um zunächst Herrn Körners Pferd, eine prächtige junge Rappstute, die er selbst aufgezogen hatte, nach dem Hofe in den Stall zu führen. Dieser Stall pflegte allerdings meist nur die Tiere der Gäste aufzunehmen, denn Herrn Lerses eigene Reitpferde tummelten sich fast immer im Freien, drüben jenseits des Flußbettes im Fohlenkraale herum, während er die übrigen Rosse überhaupt in vollkommener Freiheit auf den riesigen Weideplänen herumlaufen ließ.

Über die Wasserverhältnisse und den gestrigen Gewitterregen plaudernd, schritten die beiden Männer langsam auf dem sauberen Fahrweg hin, den Herr Lerse angelegt hatte, um das Gehöft mit dem tiefergelegenen Garten zu verbinden. Dieser bedeckte, weitab von den bewohnten Gebäuden, ganz für sich ein Grundstück, das in der Tiefe von dem Grundwasser des benachbarten Flusses berieselt wurde, und deshalb vortrefflich zum Beackern, aber gar nicht zum Bewohnen taugte; denn aus dem frisch umgepflügten Boden stiegen zuweilen Fieberdünste auf, und in der warmen feuchten Erde gediehen unzählige Mücken und andere lästige und zum Teil auch sehr giftige Infekten.

Das Gehöft selbst lag abgeschlossen für sich auf einer vollständig trockenen und ziemlich weit aus der steinigen Hochebene aufragenden Anhöhe, die an der einen Seite schroff in die Tiefe abfiel, und nahm sich mit der Steinmauer, von der es rings umgeben war, von weitem wie eine kleine Festung aus.

Mit Stolz blickte Herr Lerse denn auch jetzt auf sein Besitztum und sagte: »Was hat es doch für Mühe gekostet, bis man soweit gekommen ist. Wenn ich denken müßte, daß das einmal alles umsonst gewesen sein sollte!«

»Nu, nu!« antwortete Herr Körner, seinem Pferd den glänzenden schlanken Hals streichelnd. »Soweit wird es ja wohl nicht kommen. Mir erscheint es zwar auch ein bißchen verdächtig, daß Samuel, der Oberhäuptling in Okahandja, jetzt einen so merkwürdig entgegenkommenden Ton anschlägt. Ich bin in dieser Hinsicht derselben Meinung, wie die Leute vom Bastardstamme, die zu sagen pflegen: Solange der Herero droht und schilt, so lange ist keine Gefahr: wird er aber freundlich, so hütet euch vor ihm. Aber deshalb braucht man doch noch nicht an das Schlimmste zu denken. Seit die Schutztruppe verstärkt worden ist, haben sie doch gehörigen Respekt vor der Obrigkeit.«

»Sicherlich,« entgegnete Herr Lerse, »aber sie wissen nur allzugut, daß ihnen die Schutztruppe gegenwärtig nicht allzuviel anhaben kann. Glauben Sie, Körner, die Gesellschaft wüßte nicht ebensogut als wir, daß unten in Warmbad die Bondelzwarts aufständig sind? Ich werde die Sorge nicht los, daß sie diese Gelegenheit benützen werden, um uns ebenfalls etwas am Zeug zu flicken. Im Bösen ist aber mit den Herero nicht gut Kirschen essen. Sobald ihre Leidenschaften entfesselt sind, sind sie schlimmer als die blutdürstigsten Tiere, und daran vermag die Taufe und keine Kultur etwas zu ändern. Sie hassen uns nun einmal, und ich kann ihnen das schließlich nicht mal gar so übelnehmen. Wir sind doch gewissermaßen der Kuckuck, der sich in ihr Nest gesetzt hat.«

»Aber wir haben sie aus ihrem Nest doch nicht vertrieben. Wir wollen es ihnen doch nur behaglicher darin machen und dann friedlich mit ihnen darin wohnen; Platz genug ist doch wahrlich!« warf Herr Körner ein.

Aber Vater Lerse schüttelte den Kopf und meinte: »Ja, das ist gewiß von unserer Seite ganz schön und gut. Aber sie sind doch eben nicht mehr allein darin, und das paßt ihnen nicht. Vielleicht gewöhnen sie sich später einmal daran, und wir dürfen jedenfalls nichts versäumen, um ihnen das so leicht als möglich zu machen. Gegenwärtig aber haben sie nur den einen Wunsch: uns wieder hinaus zu bekommen; und daraus machen sie auch gar kein Hehl. Unser Freund Isaak hat mir einmal in meinem eigenen Hause, während er meinen eigenen Korn trank, geradezu ins Gesicht gesagt: ›Weißt du, daß wir euch und allen Weißen nächstens den Hals abschneiden werden?‹« –

»Na, das hat nun nicht viel auf sich!« entgegnete Körner lachend. »Hunde, die bellen, beißen nicht. Solange sie es sagen, tun sie es nicht. Aber auf der Hut müssen wir natürlich immer vor ihnen sein, und wer vor Überraschungen sicher sein will, tut gut vorzusorgen und sich auf alles einzurichten. – Sie haben es ja in dieser Beziehung gut, Herr Lerse. Eine Weile können Sie es hier in Ihrer Ritterburg schon aushalten.«

»Ja, ja!« sagte Herr Lerse schmunzelnd, während er die Flügel des schweren Tores öffnete, das durch die hohe, rings mit spitzen Glasscherben verwahrte Steinmauer auf den stattlichen Hof führte. »So ohne weiteres werden wir uns schon nicht in die Töpfe gucken lassen. Aber wenn man in die Jahre kommt, hat man doch das Verlangen, endlich seine Ruhe zu haben und die Seinen sicher und versorgt zu wissen.«

Herr Körner räusperte sich ein wenig.

»Jawohl, die Seinen versorgt zu wissen,« sagte er dann nach einer Weile, während er seine Stute in den kleinen Stall führte, der an die rechte Seite des Wohnhauses angebaut war. Er beherbergte zugleich das Hühnervolk und ein paar Schweine, die Frau Lerse trotz der beträchtlichen Unkosten hielt, um die gewohnten heimischen Schinken und Speckseiten in der Fremde nicht ganz entbehren zu müssen.

Dann, nachdem er sein Pferd an die Krippe gelegt hatte, in die Herr Lerse ihm als besondere Gastkost eine Schwinge voll selbstgeernteter Maiskörner schüttete, fuhr er etwas zögernd fort: »Ja, Herr Lerse – wegen der Versorgung – da wollte ich auch schon immer mal mit Ihnen reden. Ihre Kinder sind ja nun herangewachsen. Der Kaspar – na, mit dem hat's ja keine Not. Der weiß, wo er hingehört.«

»Ja, man sollt's wenigstens meinen,« unterbrach ihn Lerse, mit erhobener Faust nach der Richtung des Flusses hinüberblickend. »So ein Schlingel! Sich den ganzen Morgen draußen am Fluß und im Busch herumzutreiben, während man ihn so nötig gebraucht hätte!«

Herr Körner ließ sich durch diesen Zwischenwurf aber nicht stören und fuhr in dem Thema fort, das ihm so sehr am Herzen zu liegen schien: »Ja, der Kaspar, der ist gut unter. – Mit den Söhnen hat man's ja immer leichter, wie mit den Töchtern.«

Hier räusperte er sich wieder, während Herr Lerse ihn lachend von der Seite ansah und sich sein Teil dabei dachte.

Diese Gedanken waren gewiß nicht schlecht; denn Herr Lerse konnte überhaupt nichts Böses denken und bei Herrn Körner, den er längst fast wie einen Sohn ins Herz geschlossen hatte, erst recht nicht.

Aber Herrn Körner war die augenblickliche Situation doch recht unbequem. Er hatte den Faden verloren und wußte nicht, wie er ihn wieder anknüpfen sollte.

Wie oft er auch die langen, weichen, pechschwarzen Schweifhaare seines Rosses durch die Finger gleiten ließ, die Worte, nach denen er mit klopfendem Herzen suchte, wollten sich nicht einstellen, bis Herr Lerse ihn unter dem Arm nahm und, mit ihm den Stall verlassend, sagte: »Nun, lieber Körner, ich denke, in diesem Punkte werden wir auch noch Rat schaffen. – Aber so etwas bespricht sich wirklich besser, wenn man etwas Ordentliches im Magen hat. – Und die Frau hat da schließlich doch auch ein Wörtchen mitzureden. – Kommen Sie!«

Sie traten wieder auf den Hof und gingen im Schatten der mächtigen Akazien, die Herr Lerse wohlweislich beim Hausbau hatte stehen lassen, zu der großen Scheune, auf deren offener Tenne die beiden schweren Ochsenwagen standen, und dann nach der Hauptpforte des Wohnhauses herum, einem langgestreckten, ansehnlichen Gebäude, das mit seinen festen Steinmauern, seinen sauberen Fenstern, seinem weit vorgebauten flachen Dache und den grünen Ruhebänken neben der Haustür einen sehr behaglichen Eindruck machte.

In der geräumigen Diele, in der zwischen den breiten Wandschränken allerlei Jagdgerät, Büchsen, die landesüblichen Patronengurte, Fangeisen für das Raubzeug und so weiter an den Wänden hing, erwartete sie Frau Lerse, reichte dem Gast die Hand und sagte: »In der Aufregung bin ich vorhin gar nicht dazu gekommen, Sie ordentlich zu begrüßen, Herr Körner. Sein Sie uns herzlich willkommen.«

Herr Körner drückte ihr mit einem innigen Blick die Hand, sagte aber nichts und trat in die große Wohnstube, die Lerses sich mit den freundlichen Blumen an den Fenstern, den Bildern an den Wänden und den derben altväterischen Möbeln genau so hergerichtet hatten, wie daheim auf dem thüringischen Bauernhofe, auf dem sie die ersten fünf Jahre ihrer Ehe verbrachten. Nur ein paar Felle waren hinzugekommen, zwei von Springböcken und eines von dem Karakal, dem südafrikanischen Luchs, den Herr Lerse auf dem Hofe selbst erlegt hatte, als der Räuber eben dabei gewesen war, dem Hühnerstall einen Besuch abzustatten.

Es war eine ganz seltsame Jagd gewesen, und Herr Lerse mußte immer daran denken, wenn er das schöne, rotgelbe Fell sah.

Eines Abends war es im Stall ungewöhnlich lebhaft zugegangen. Die Hunde bellten, die Schweine grunzten, die Hühner gackerten, die Hähne schrieen und selbst die Truthähne, die sonst viel zu stolz sind, um sich in die Unterhaltung des gemeinen Hühnervolkes einzumischen, ließen ihre aufgeregten Stimmen erschallen.

»Sieh doch mal nach, was dort los ist,« hatte er zu Kaspar gesagt, und dieser war gegangen, aber gleich darauf in großer Hast mit der Kunde zurückgekommen, ein Raubtier sei da, es habe die kleine Hühnertür mit seinen Pranken eingeschlagen und sei durch sie in den Stall gekrochen.

»Nimm eine Büchse und komm!« hatte Vater Lerse gesagt und war, sich selbst mit einer guten Jagdflinte bewaffnend und die Hunde losmachend, hinausgeeilt.

Richtig! An dem Hin- und Herlaufen und Flattern drin im Stalle ließ sich unzweifelhaft erkennen, daß in der Tat ein räuberischer Besucher eingedrungen sei. Wie aber war ihm beizukommen in der Dunkelheit? Man konnte sich zwar vor der Hühnerpforte aufstellen und warten, bis er wieder herauskommen würde. Aber inzwischen konnte er den halben Stall ausgeplündert haben, und vielleicht fand er schließlich doch noch irgend einen anderen Ausweg.

Herr Lerse beschloß deshalb, ihm sogleich unmittelbar auf den Pelz zu rücken.

»Hole ein Windlicht, stelle dich mit den Hunden schußbereit vor der Hühnerpforte auf und verlege der Bestie dort den Weg!« befahl er Kaspar.

Er selbst nahm das Licht, öffnete die Tür und trat, sie rasch wieder hinter sich schließend, entschlossen in den Stall, mitten hinein zwischen die ängstlich durcheinanderjagenden Tiere.

Sogleich hatte er das Raubtier bemerkt. Es war eben dabei gewesen, einen Truthahn zu verspeisen, versuchte jetzt aber, von dem Licht geblendet, scheu und den Leib dicht an die Wand gedrückt, leise nach der Hühnerpforte zu schleichen.

»Na wart!« dachte Herr Lerse, stellte rasch das Licht aus der Hand und riß die Büchse an die Backe.

Aber als er eben losdrücken wollte – bums! – wurde das Licht von einem der herumflatternden Hühner umgeworfen, so daß es verlöschte.

Dabei war der Schuß aber infolge der unwillkürlichen Bewegung, die Herr Lerse gemacht hatte, losgegangen. – Eine schöne Geschichte! – Waffenlos mit dem vielleicht angeschossenen Ungeheuer allein in dem stockfinsteren Stall!

»Ich kann euch versichern, daß mir nicht sehr wohl zu Mute war in diesem Augenblick,« pflegte Herr Lerse zu sagen, wenn er auf diese Geschichte zu sprechen kam. »Aber bald fiel es mir auf, daß der Räuber gar nichts von sich hören ließ und daß die Tiere im Stalle ruhiger geworden waren. Gleich darauf kam auch Kaspar, es gelang uns, das Licht wieder zu finden und anzuzünden, und nun sahen wir, daß das Raubtier tot an der Wand, dicht neben der Hühnerpforte lag. Die Kugel hatte es durch einen glücklichen Zufall hinter dem Ohr getroffen und sofort niedergestreckt.«

Das Fell dieses auf so ungewöhnliche Weise erbeuteten Luchses schmückte nun also das Wohnzimmer. Es lag vor dem Großvaterstuhl am Fenster und lenkte sofort die Aufmerksamkeit des Herrn Körner auf sich; denn hier stand Röschen und machte sich, wie es schien, mit den Blumen zu schaffen.

»Ach! Wenn dir doch jetzt auch der Zufall zu Hilfe käme, wie damals Herrn Lerse,« dachte Herr Körner und ließ wieder ein längeres Räuspern vernehmen, während er mit der rechten Hand so eifrig an seinem schwarzen Schnurrbart drehte, daß dessen Enden bald, drohend wie Hererospieße, über den kurzgeschnittenen Backenbart hinwegstarrten.

Glücklicherweise brach gleich darauf Frau Lerse die etwas beklommene Stille, zeigte auf den gedeckten Tisch und forderte den Gast auf, Platz zu nehmen und es sich gut schmecken zu lassen.

Herr Körner folgte dieser freundlichen Aufforderung, während Herr Lerse die Gläser füllte und gleich darauf das seinige erhob und sagte: »Na, also nochmals herzlich willkommen in Marienhof, Freund Körner. – Prosit! Was wir lieben.«

Dabei warf er schmunzelnd einen Blick auf Röschen, die über und über rot geworden war, und gleich darauf schweigend das Zimmer verließ.

Etwas enttäuscht blickte Herr Körner ihr nach, stieß aber doch mit Herrn Lerse an, indem er leise wiederholte: »Was wir lieben!« und leerte sein Glas mit einem Zuge.

Frau Lerse hatte etwas verwundert diesen Vorgang beobachtet und schickte sich dann ebenfalls an, das Zimmer zu verlassen, als ihr Gatte sie zurückrief.

»Du, Mariechen! Lauf mal jetzt nicht davon. Herr Körner hat uns etwas zu sagen, da mußt du auch dabei sein. Nicht wahr, lieber Körner, wir haben uns doch verstanden?«

Herr Körner nickte lebhaft, froh, daß Herr Lerse ihm die Sache so leicht machte und selbst für ihn das Wort führte.

»Na also!« fuhr Herr Lerse fort. »Es handelt sich darum, daß eine geordnete Wirtschaft nicht ohne eine tüchtige Wirtin gedeihen kann, und daß …«

»Um Himmels willen!« rief Frau Lerse plötzlich, in großer Aufregung zum Fenster eilend.

Herrn Körner, der nicht anders denken konnte, als dieser Ausruf des Entsetzens gelte ihm und seiner Angelegenheit, fuhr es durch alle Glieder, während Herr Lerse, ebenfalls etwas geärgert, sich heftig umdrehte und sagte: »Na, was ist denn los?«

»Was ist?« entgegnete Frau Lerse, mit entsetzten Gebärden zum Fenster hinauszeigend. »So kommt doch nur her! Ein Leopard ist auf dem Hofe. Da, hinter der Akazie liegt er, als ob er gerade zum Sprunge ansetzen wollte!«

»Was? Ein Leopard?« rief Herr Lerse, jetzt ebenfalls zum Fenster eilend. »Wahrhaftig! Solche Frechheit! Am hellen lichten Tage! Na warte, Bursche! … Kommen Sie, Körner!«

Damit eilten die beiden Männer hinaus auf die Diele, um sich zu bewaffnen.

»Hier, nehmen Sie diese, Körner. Es ist eine ganz neue Mauserbüchse; totsicher. Und nun vorwärts! Wenn wir in Kaspars Stube gehen, können wir vom Fenster aus schießen.«

Eben wollte Herr Lerse die Tür öffnen, die auf der anderen Seite der Diele, dem Wohnzimmer gegenüber, zu Kaspars Zimmer führte, als Kaspar, aus der dahinterliegenden Küche kommend, ihm entgegentrat.

»Wo steckst du denn, Junge?« rief er ihn an. »Schnell nimm eine Büchse! Auf dem Hofe ist ein Leopard! – Na, hörst du nicht?« fuhr er ärgerlich fort, als Kaspar keinerlei Anstalten machte, sich dem Jagdzuge anzuschließen, sondern mit halb schuldbewußter, halb lachender Miene dastand und sich hinter dem Ohre kratzte.

»Ja, hören tu ich schon, Vater,« sagte er endlich, sich in schuldiger Ehrfurcht nach Möglichkeit das Lachen verbeißend. »Aber … aber … der Leopard … der ist ja schon tot!«

»Was?« riefen die beiden Männer, ihn überrascht und etwas enttäuscht ansehend. »Tot ist er?«

»Ja! … ich habe ihn ja im Buschwald geschossen und ihn nur draußen unter den Baum gelegt, weil ich die Mutter nicht erschrecken und sie erst ein bißchen vorbereiten wollte.«

»Na, das hast du allerdings sehr geschickt angefangen!« rief Herr Lerse lachend. »Die Mutter hat ihn natürlich zuerst gesehen und ist beinahe in Ohnmacht gefallen vor Schreck. Aber das ist nun einerlei. Freuen tut's mich doch, daß du ihn erwischt hast. Dann hole ihn nur herein, und ein Glas Wein sollst du auch dafür haben, obwohl ich überzeugt bin, daß wir deswegen noch ein Hühnchen werden zu pflücken haben … Na, schon gut. Das wird sich ja später finden … Kommen Sie, Körner! Mit der Leopardenjagd war es ja nun diesmal nichts – aber vielleicht sind wir einem anderen Wild auf der Spur, an dem Ihnen am Ende doch noch mehr gelegen ist.«

Dabei klopfte er ihm lachend auf die Schulter und kehrte mit ihm in die Wohnstube zurück.

Mit Frau Lerse jedoch war zunächst gar nichts anzufangen. Der Gedanke, in welcher Lebensgefahr ihr Junge geschwebt, und mit welchem Leichtsinn und welcher Tollkühnheit er sein Leben auf das Spiel gesetzt hatte, regte sie dermaßen auf, daß sie Kaspar, bald scheltend, bald ihn zärtlich küssend, immer wieder in die Arme schloß und geraume Zeit hindurch für nichts anderes zu sprechen war.

Endlich aber beruhigte sie sich, und nun ging Herr Lerse ohne weiteres zum Sturmangriff vor. Es erfolgte ein erneuter Kampf für Frau Lerses braves Mutterherz. Das Ende vom Liede aber war ein entscheidender Sieg auf der ganzen Linie, und als Herr Körner spät am Nachmittag den Heimweg antrat, sagte er zu Röschen, die ihn bis zu der Gartenecke begleitete, wo sie ihm am Morgen so lebhaft zugewinkt hatte: »Auf Wiedersehen also, am Sonntag.«

An diesem Tage nämlich hatten sie verabredet, nach Groß-Barmen auf die Missionsstation zu fahren, um sich dort in der Kirche als Brautleute aufbieten zu lassen.


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