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14.

Bin ein flotter Bursch dann worden,
Streifte viel durch Wald und Felder;
Streifte nächtlings durch die Straßen
Serenadend, sporenklirrend,
Und so einer schief wollt' blicken,
Fuhr die Hand mir an die Wehre. -
Auf Mensur! Die Klingen bindet!
Los! Das schwirrte durch die Lüfte;
Und in manche glatte Wange
Hat mein Schläger flott und schneidig
Sich ein Stammbuchblatt geschrieben.

Scheffel.


Ein Sonntag im Lenze, da alles grünt und blühet! Wen duldete es da zwischen seinen vier vom Rauche berußten Wänden, zwischen den leblosen Büchern und den ledernen Kollegienheften? Wen duldete es auf der Bude und wen im Straßengewirre der Stadt? Hinaus in das Grünen und Blühen, in die Schöne des Frühlings, und Herz und Körper gestärket in Luft und Sonnenglast!

»Heute pilgern wir zum Schipkapasse und lassen uns wieder man von Osman Pascha, dem Hospodar des Gasthäusels Balkanräuber und ähnliches Gelichter schimpfen«, schlägt Ritter vor. »Der Kerl ist zu köstlich in seiner Grobheit.«

»Wird einem mit der Zeit zu fade«, knurrt Köhler. »Man merkt die Absicht und wird verstimmt. Übrigens: Wenn Ihr zu Osman und seiner Suleika pilgern wollt, gut. Ich habe nichts dagegen. Ich treibe mich halt derweilen irgendwo anders herum.«

»Ah! Wir bleiben schon beisammen«, rät Maier. »Was hättest Du im Sinne?«

»Ich schlüge eine Wanderung nach Transmoldavien vor, Kleinseite, Hradschin, Laurenziberg und alles, was drum und dran liegt.«

»Gut. So machen wir die Partie …«

In der Nähe des Landesmuseums treffen sie Schröder lässig und allem Anscheine nach ziellos herumpendeln.

»Quo vadis?« fragt Ritter nach berühmten Mustern, aber Schröder schupft gleichmütig und schier anristekratisch-hochmütig die Schultern.

»Ich trage mich mit Mordgedanken«, bescheidet er.

»Nicht übel«, lacht Maier. »Bist Du etwa in letzter Zeit ein Anarch- oder sonstiger Iste geworden? Planst Du Attentate oder nur ganz privaten Mord?«

»Ganz privaten; ich beabsichtige, den Nachmittag elendig totzuschlagen.«

»Heil Deiner Absicht! Wir tragen uns mit ungefähr demselben Vorsatze. Komm daher mit uns!«

»Wohin?«

»Hasenburg, Laurenziberg, nötigenfalls noch weiter.«

»Gut.«

Und sie wandern selbviert hinunter ans Ufer der als blau besungenen, zumeist aber abscheulich schlammfarben gefärbten Moldau und drüben durch einige Gassen der Kleinseite zu den schattenspendenden Wandelgängen der Hasenburg.

In schweren Trauben hängen die Blüten des Flieders im dunklen Blattwerke, auf dem Erdboden blüht und prangt alles in buntem Flore, und wie unsichtbare Schwaden ziehen die Duftwolken über die steilen Hänge und die Luftwandler … Höher und höher hinauf schlängeln sich die Pfade, und drunten breitet sich Prag, das turmgespickte Häusermeer der schöne, ungastlichen Stadt, und das breite Band der Moldau windet sich dazwischen durch.

Man scherzt, schwatzt und lacht, und dazwischen zieht es doch die Blicke zu dem fesselnden Bilde hinunter.

»Ich möchte Bismarck sein!« wünscht Ritter einmal, da sie auf einem der Bänkchen sitzen und so schauen an der Schöne der Stadt.

»Du wirst mit der Zeit riesig bescheiden«, neckt Schröder. »Nur Bismarck.«

»Warum?« fragt Köhler.

»Ich möchte dieses Prag wieder deutsch machen.«

»Nimmer möglich«, bedeutet Maier. »Heute schon gar nicht mehr …«

Ein Trupp jungen Gevölkes kommt nachgezogen, Männlein und Weiblein, und man hebt sich und schlendert weiter, hinauf zu den 1249 unter König Wenzel I. gegründeten Templerkloster St. Laurenz, vorüber gen das Kloster Strachov und das sogenannte Reichstor und hinaus nach der Richtung, wo der »Weiße Berg« liegt, wohn die Tschechen fast alljährlich am Gedenktage der Schlacht am Weißen Berge – 8. November 1620 – ziehen und dort ihr Klagelied vom Untergange der tschechischen Nation und vom Grabe der nationalen Freiheit heulen.

Aber wie so vieles andere ist auch dieses eitel Geflunker und berechnete Absicht. Die Schlacht am Weißen Berge hat mit der Volksfreiheit oder gar mit dem Untergangen derselben ebenso wenig zu tun wie Herzog Wenzel, genannt der Heilige, mit der St. Wenzelskrone, dem Symbol des tschechischen Nationalstaates. Gerade das Volk hat diese Schlacht am allerwenigsten zu beklagen, denn nur der Adel hat dadurch verloren, weil einige Habsburgische Könige nachher den Kampf gegen de zu üppig gewordenen »Adel« aufnahmen und aufnehmen musste und damit dem Volke ein halbwegs erträgliches Los schufen.

Man redet und schwatzt von dem und jenem, erörtert ernste Sachen und Studienangelegenheiten, disputiert wissenschaftliche Themata und erzählt schnurrige Anekdoten in buntem Durcheinander, wie es sich halt gerade im Gespräche schickt.

Plötzlich bleibt Köhler stehen und greift nach seinem Halse.

»Kinder, ich verschmachte«, jammert er. »Alle … Hochachtung vor einem wunniglichen Gange im Lenze, aber … die Sache darf nicht mit Lebensgefahr verbunden sein.«

»Wasser! Gerade vorhin sind wir an einem Brunnen vorbeigekommen.« So Maier.

»Gehst mir nicht vom Leibe mit … Deinem Rate!« entsetzt sich Köhler. »Wasser! Was glaubst Du denn eigentlich, Du … Du … Medizinmann? Wasser! dass ich mir die chronische Prager Cholera antränke? Schrecklich, was einem alles zugemutet wird …

Cerevisam bibunt homines,
Animalia cetera fontes;
Absit ab humano guttare potus aquae …”

»Es ist noch nicht so schlimm mit Deinem Verdursten”, schmunzelt Schröder. »Es ist das Rezitieren noch nicht einmal eingetrocknet.«

»Soll ich vielleicht schon vollständig weg sein? Weißt Du vielleicht hier herum eine halbwegs reputble Bude?«

»Nein, nicht eine.«

»Dann müssen wir umkehren …«

Sie kehren also um und schlendern gemächlich zurück auf die Kleinseite und suchen Maschels Gasthaus auf, den Sammelpunkt der Deutschen in dieser Region »Transmoldaviens«.

Der deutsche Soldat trinkt dort seine Halbe, der deutsche Kleinstädter und Landbewohner vornehmlich des Böhmerwaldes, der nach Prag kommt, die umwohnenden Finken, Mittelschüler und wenigen deutschen Beamten verkehren dort. Was deutsch ist und davon in dieser Gegend wohnt und deutsche Unterhaltung sucht, sammelt sich allda.

Sie treten in die rauchgefüllte Gaststube und suchen nach einem bequemen Plätzchen, und es gelingt, dass sie an einen Tisch kommen, wo einige Finken eine »Mathematische« spielen. Natürlich hört das Spiel auf, und man redet, scherzt und lacht und singt zuletzt, und man sitzt noch beisammen, als das Tageslicht schon geschwunden und der dienstbare Geist »aufgedreht« hat.

Was beirrt aber solches den jungfrohen Sinn eines Studenten? Was bedeuten ihm das Schwinden des Tageslichtes und der Anbruch der Nacht?

Plötzlich kommt Ritter ein Gedanke: dem Rodensteiner eine solenne Bierkarte nach seiner stillen Klosterzelle senden!

Angenommen.

Man sucht nach einer Karte, wo recht viel Platz für Ulk und Unterschriften ist, schreibt manches Scherzwort darauf, aber als alles zu Ende gebracht und jedes leere Fleckchen beschrieben, reißt Schröder die Karte entzwei. »Es ist doch nichts Rechtes«, meint er. »Wozu dem armen Kerl das Herz schwer machen und in ihm gewaltsam die Sehnsucht nach aufgegebenen Verhältnissen wecken?«

»Im Grunde genommen ist's wahr«, pflichtet Maier bei. »Er soll sich zuerst einmal gründlich an seine neue Lage finden und gewöhnen, dann: Wir gedenken Deiner noch allweg, alter Freund!«

Man singt weiter, und als man sich auf den Heimweg macht, ist es so gegen Torsperrzeit. Lachens und plaudernd strebt man der nun doch schon etwas altersschwach gewordenen Karlsbrücke zu. Köhler und Maier gehen voraus, und die beiden andern folgen einige Schritte weiter rückwärts nach.

Der Schein der Lichter flimmert und zittert über den rastlos dahingleitenden Wellen der Moldau, von der Schützeninsel herab hallt Stimmengewirr und dazwischen Musik, und dann einmal schwingen und schweben die wehmütigen Weisen des »Kde domov muj« über die Wellen und durch die Lüfte, und gleich darauf kommt es rückwärts zu einem kurzen Wortwechsel.

»Da geht was los«, mutmaßt Maier.

»Hart im Raume stoßen sich die Körper oder so ähnlich«, zitiert Köhler gleichmütig. »Ich weiß den Urtext augenblicklich selbst nicht genau … Zum Teufel!« fährt er gleich hernach auf. »Ob nicht die zwei andern …«

»Komm zurück!«

Maier fasst den Dicken hastig unter dem Arme und zieht ihn zurück.

»Was da?«

»Eine Frechheit sondergleichen«, schimpft und zetert Ritter. »Da könnte man doch gleich …«

»Was ist's? Was hat's gegeben?«

»Den Kerl hau' ich zu Krenfleischa ein. Und vor die Klinge muss er mir, wenn's Graz gilt.«

»Da hört wirklich Verschiedenes auf«, greint auch Schröder. »Der Kerl stößt mich ganz herausfordernd über den Bürgersteig hinab, und als ich …«

»Wer?«

»Der Korwot oder was er ist, der Kolarsch.«

»Schröder ist vorläufig ein patentdeutscher Hund, und ich habe mir den andern ausgeborgt«, erzählt Ritter. »Er hat geschlagen und ich auch …«

»Bist Du verwundet?«

»Mir scheint. Ich spüre etwas Warmes neben dem Ohre herunter rinnen … Aber wartet nur!«

»Kommt! Hier ist nicht der Platz zu weitschweifigen Erörterungen, ohne mutwillig Aufsehen zu erregen, und wenn Kunz verwundet ist … Man kann nicht wissen …«

Und unter Schimpfen und Schelten setzen sie ihren Weg fort, da die beiden Anrempler der Tapferkeit besseres Teil ergriffen. Bei der ersten Laterne wird Ritter einer eingehenden Voruntersuchung unterzogen, und es ist wirklich Blut, das über seine Schläfen und über sein Gesicht herunterfließt.

»Zum Schwapper! Dort reden wir mal gründlich über die Sache.«

Beim Schwapper sitzen ein paar Studenten bei einem Quodlibet, das aber sofort unterbrochen wierd, als die vier auf die Bude rücken.

Was ist da los? Eine Schlägerei, eine Prügelei, wie sie in Prag keine allzu große Seltenheit ist? Hat man einem der verhassten Deutschen wieder einmal handgreiflich vordemonstriert, dass er sich in Prag befindet?

Die Frau bringt eine Schüssel mit Wasser, und Ritter wäscht sich das Blut aus dem Gesichte.

»Fünfzehn Nadeln«, kalkuliert ein dicker, bausbackiger Armine.

»Lächerlich! Vier im ungünstigsten Falle«, widerredet Maier. »Und wenn der Schlitz gar nicht genäht wird, ist's ebenso gut.«

»Der andere hat aber bedeutend mehr erwischt«, renommiert Ritter.

»Wer war das?«

»Was weiß ich? Er hat auch ein Barett getragen wie Kolarsch. Ein Tscheche wahrscheinlich. Aber ich bin ihm mit meinem Zimmerschlüssel anständig über die Visage gefahren.«

»Du hast ihn ja gar nicht getroffen«, widerredet Schröder. »Ich hab' es ganz genau gesehen. Geschlagen hast Du wohl, aber viel zu kurz.«

»Und der andere war Kolarsch?«

»Der mich weggestoßen und nachher geschimpft hat, ja. Ich kenne den Kerl doch ganz genau.«

»Dann … sst!« Und Köhler macht es mit der leeren Faust, als führe er den Hieber und schlüge eine gutsitzende Terz. »Wart', Landsmann unsriges! Du … du Schlitzkrowot!« Er muss erst eine Weile nach diesem ihm nicht gerade geläufigen, aber doch seine ganze Missachtung ausdrückenden Worte suchen. »Morgen fragt man sein Bude aus, und dann schickt man ihm einfach die Vertreter. Vor die Klinge muss der Kerl.«

»Und der meine auch«, fordert Ritter energisch.

»Selbstverständlich. Er wird ja wohl auch zu eruieren sein, dieweilen wir den andern fest in Händen haben.«

Die Schramme in Ritters Stirnecke, die mit einem augenscheinlich nicht besonders scharfen Instrumente gemacht sein mag, will nicht aufhören zu bluten, und Maier rät daher, einen Baumwollbauschen in recht warmes Wasser zu tauchen und überzubinden. Das hilft, aber Ritter macht in diesem Verbande einen so komischen Eindruck, dass sich Köhler fast nicht aus dem Lachen bringen kann.

»Der Kauz der Atene! Wunderbar! Wenn nur so ein Marodeur von einem Photographen hier wäre! … Herr Hotel! Sind Sie nicht Photograph?« Er hat schon einen Strich über seine Eichung und sieht sonach die ganze Welt für ein Pimperltheater an.

Das Quodlibet wird selbstverständlich nimmer aufgenommen und ausgelöffelt, aber man geht doch erst auseinander, als der junge Tag nimmer recht weit ist. So eine Sache will reichlich begossen sein. Schröder schlägt sonst recht stramm, und er wird dem Frechdachse den »patentdeutschen Hund« schon nach Gebühr einbrennen. Nur Ritter ist beständig im Zweifel, ob er seinen Partner werde ausfindig machen können und ob der Kerl überhaupt ein satisfaktionsfähiger Mensch ist.

Der folgende Vormittag wird ausnahmsweise einmal verschlafen, aber am Nachmittag fragen Köhler und Ritter schon nach der Wohnung Bohumil Kolarschs.

Am nächsten Tage ersucht Schröder einige Kommilitonen, unauffällig zu Besuche kommen zu wollen, so von ungefähr die Sacher erzählen und seiner Mutter und Schwester die Notwendigkeit und auch die Ungefährlichkeit einer Kontrahage auseinander zu setzen, da es ihm schwer fiele, den bieden davon Mitteilung zu machen. Er kennte die Ansichten und die Ängstlichkeit der beiden und brächte es nicht übers Herz, sie mit der nun einmal notwendigen Mitteilung aufzuregen. Erfahren müssten sie schließlich doch einmal davon, und wenn andere redeten und Vernunftsgründe aufführen, käme es schicklicher heraus, und er wäre des ihm Unangenehmen enthoben. Übrigens wäre es am schicklichsten, wenn Ritter mit dem Verbande erschiene und sich über die Angelegenheit ausfragen ließe.

»Sie werden sich schon überzeugen lassen«, hofft Hacker zuversichtlich. »Es mag vielleicht auch auf die Musik und die Tonart ankommen, aber wir werden schon die richtige Saite zupfen.«

»Ich glaube, es dürfte kaum so leicht gehen.«

»Unsinn!« brummt Kaltenberger. »Unter den gegebenen Verhältnissen gibt es keinen andern Ausweg, als: Vor die Klinge! In diesem Falle bist sogar nicht gerade nur Du allein beleidigt, sondern jeder Deutsche. Dem Rastelbinder soll der Schimpf so teuer als möglich zu stehen kommen. Nur schneidig und schonungslos vom Leder gezogen.«

Am selben Tage noch überbringen Köhler und Träger die Angelegenheit Kolarsch zur Erörterung und ersuchen um Namhaftmachung zweier Vertreter, mit denen das Weitere zu vereinbaren wäre. Kolarsch will anfänglich gar nicht auf der Karlsbrücke gewesen sein, gibt aber nach und nach doch alles so halbwegs zu und verspricht, morgen seine Vertreter ins Café Continental senden zu wollen … Gut …Wer nun der zweite Herr gewesen, der Ritter geschlagen? …Das vermöge er nicht so ganz genau und bestimmt anzugeben, da er doch unmöglich jeden Herrn in Prag kennen könne … Ehrenwort, dass er seinen Begleiter nicht gekannt! … Seinen Begleiter wohl; der sei Hörer der tschechischen Technik und hieße Hynek Krschestan. Ob der aber Ritter geschlagen, könne er nicht angeben.

Gut: So wird auch Herr Hynek Krschestan ausfindig und ersucht, seine Vertreter ins Café Continental zu entsenden.

Unterdes begeben sich Maier, Ritter, Werner und Hacker zu Schröder auf Besuch, und Ritter hüllt sein weises Haupt recht auffällig in dicke Binden.

»Ja, was ist's den mit Ihnen, Herr Ritter?« wundert Frau Schröder und schlägt ein um das andere Mal die Hände zusammen. »Sie haben sich doch nicht etwa geschlagen?«

»Nein, noch nicht; die Sache ist vorerst noch ganz passiv: Ich bin geschlagen worden.«

»Von wem?« fragt Lotte hastig, und leichte Röte steigt in ihr Gesicht.

»Das kann ich augenblicklich noch nicht so klipp und klar vermelden; man ist dem Kerl erst auf den Fersen, um ihn zu stellen.«

»Ja, wie kommt denn das? Sie kennen den Mann nicht und – sind geschlagen worden? Arg?«

»Ein Ritzer in der Haut, weiter nichts«, beruhigt Maier. »Aber zu dumm ist die Sache, einfach zu dumm … Sonntags hat sich die Geschichte zugetragen …«

»Sonntags?« fragt Frau Schröder forschend. »Da waren die Herrn ja alle beisammen und alle etwas unsolide. Von diesem Vorfalle hat Michel aber nichts erzählt. Oder war es früher oder später?«

»Das eben war ja der Grund unserer Unsolidität. Denken Sie: Wenn man nicht einmal unbehelligt seiner Wege gehen kann! Ritter hat eine über den Kopf bekommen, und Herr Schröder ist vom Trottoire gestoßen und ein »patentdeutscher Hund« geschimpft worden.«

»Dass Du aber nichts davon erwähnt hast?« wundert Frau Schröder.

»Erstens dachte ich nicht gleich daran, und dann meinte ich …« Schröder macht eine längere Verlegenheitspause, » … meinte ich, dass Ihr ja noch immer davon erfahren werdet.«

»Die Kerle werden nämlich die Ehre haben, über die Klinge zu hüpfen«, erklärt Werner.

»Du … willst Dich schlagen?« entsetzt sich Frau Schröder. »Michl, Du willst …?«

»Will! Er muss sogar; denn eine derartige Beleidigung darf nicht so ohne Weiteres hingenommen werden, sonst könnte es morgen oder übermorgen dem nächstbesten einfallen, einen oder den andern noch ärger zu insultieren.«

»Du darfst nicht, Michel! Hörst: Du darfst nicht«, presst Lotte mit hörbar zitternder Stimme heraus. »Du … Du musst weiter denken.«

»Mein Sohn wird sich nicht schlagen«, bedeutet Frau Schröder entschieden.

»Frau Schröder, Sie verkennen die Sachlage vollständig«, redet ihr nun Maier zu. »Der Herr Sohn hat wohl Pflichten Ihnen gegenüber, und eine der ersten ist, Ihnen zu folgen und zu gehorchen, aber er hat auch solche seiner Ehre und seiner Verbindung gegenüber, und diese heischen in diesem Falle ein energisches Losgehen. Und schließlich ist ja an der ganzen Sache gar nichts so Haarsträubendes daran. Wir haben doch hier bei Ihnen schon von unzähligen Mensuren geredet und erzählt, und Sie werden ganz genau wissen, wie dies alles verläuft. Herr Schröder wird dem Frechdachse einen gehörigen Merks verapplizieren, und das gehört sich von Rechtswegen …«

»Aber genauso gut kann auch er zu einem Merks kommen«, wendet Lotte ein. »Es ist nicht immer der Stänkerer der Geschlagene.«

»Unmöglich, fast unmöglich, Fräulein Lotte. Schräder schlägt sehr gut, das wird Ihnen jedes sagen. Und den schlimmsten Fall angenommen, er zöge wirklich den kürzeren Halm; was ist da weiter daran? Er kriegt eine Schmiss, und die Geschichte hat sich gehoben.«

»Mein Sohn wird sich nicht schlagen«, sagt Frau Schröder nochmals, und zwar in einem Tone, der jeden Zweifel an ihrem baumfesten Willen ausschließt.

»Aber Frau Schröder …!«

»Das nutzt alles nichts, Herr Maier. Ich habe Michel nicht einmal als ganz jungen Buben raufen lassen, und ich dulde dies auch heute nicht, wo er groß ist und ein gebildeter Mensch, der in einigen Monaten Professor sein wird … Nein, meine Herren, mein Sohn hat eine viel zu gute Erziehung genossen, um so auszuarten.«

»Aber beste Frau Schröder!« stellt Ritter eindringlich vor. »Sie scheinen die Sache von Vornherein ganz falsch aufzufassen und die Begriffe zu verwechseln. Wir steigen da in kein gewöhnliches Geraufe, sonder wir schlagen ganz nach genau feststehenden Regeln …«

»Wer: wir?«

Herr Schröder und meine Wenigkeit.«

»Ich erkläre nochmals aufs Bestimmteste, dass sich Michel nicht schlagen wird. Übrigens …«

»Nennen uns die Herrn den Unterschied zwischen einem ganz gewöhnlichen und einem nicht ganz gewöhnlichen Geraufe!« forder Lotte.

»Du bist ein Kamel«, raunt Werner Ritter zu. »Eine derartige Handhabe bieten! … Fräulein Lotte!« wendet er sich dann an diese. »Sie wissen doch ganz gut, wie man unter uns über eine solche Angelegenheit denkt und welche Geringfügigkeit dieselbe ist. Sie wissen, wie harmlos gewöhnlich solche Kontrahagen verlaufen, und es ist in den weitaus meisten Fällen nicht einmal der Rede wert, was einer abbekommt. Maier zum Beispiel merkt man heute kaum mehr an, dass er einen Schmiss bekommen. Und dann dürfen wir uns nicht alles gefallen lassen, sonst ist mit dieser Rasselbande bald nicht mehr auszukommen. Wohin kämen wir in kurzer Zeit, wenn wir den Beleidiger nicht vor die Klinge fordern könnten und dürften?«

»Jeden?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, ob Sie jeden fordern würden, der Sie anrempelt oder irgendwie beleidigt, sagen wir: einen Schuster- oder Schneidergesellen, einen Arbeiter …«

»Aber Fräulein Lotte! Sie wissen doch selbst genau, dass man sich nur mit vollkommen satisfaktionsfähigen Leuten schlägt …«

»Die so viel gute Erziehung und Bildung habe sollten, sich zu vertragen und anständig zu bleiben«, fällt ihm Frau Schröder hastig in die Rede. »Nein, sagen die Herren, was Sie wollen: Michel darf sich nicht schlagen. Er darf nicht.«

Bei solch hartnäckigem Beharren und Weigern ist jede weitere Rede in den Wind getan, und was man erreichen hat wollen, ist ja so ziemlich erreicht. Die beiden Damen sind von dem Bevorstehenden in Kenntnis gesetzt, und Weiteres haben sie ja eigentlich nichts dreinzureden. Schröder gehört der Asgardia, einer schlagenden Verbindung an und muss in diesem Falle losgehen, ob es den Weiberleuten nun recht ist oder nicht.

Man gibt vor, noch eine Verrichtung zu haben und geht.

Auch Schröder geht mit. Er fürchtet sich, allein daheim bleiben zu müssen bei den beiden Weibern und ihre Reden und ihre Vorstellungen anhören zu müssen. Er weiß wohl, dass ihm diese Zeit des Gejammerns nicht erspart bleiben wird, aber wenn er sich ein paar Stunden noch davon drücken kann, ist ihm leichter.

»Herr Ritter!« ruft Lotte noch, als sie schon zur Türe hinausgehen.

»Bitte!«

»Kommen Sie noch auf einen Augenblick zurück!«

»Mit Vergnügen, Fräulein Lotte.«

»Jetzt wird der ins Gebet genommen«, kichert Hacker und reibt sich die Hände.

»Wahrscheinlich wird man ihn angehen, mir das Losgehen zu verekeln oder auszureden«, mutmaßt Schröder und trifft dabei den Nagel mitten auf den Kopf.

»Gibt's ja gar nicht …«

Fräulein Lotte nimmt Ritter bei der Hand, und ihre Augen starren dabei mit einem unsäglich wehmütigen und traurigen Ausdrucke wie hilfesuchend an ihm vorbei ins Leere.

»Herr Ritter!« bittet sie. »Herr Ritter! Tun Sie einem armen, hilflosen Mädchen den Gefallen und reden Sie dem Bruder zu, dass er diese Dummheit bleiben lässt! Eine schreckliche Ahnung ist über mich ge … gehuscht, wie ich von dem Vorhaben erzählen und reden hörte. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich kann mir nicht anders denken, als dass dem Bruder Schlimmes bevorsteht …«

»Ist ja vollständig ausgeschlossen«, beruhigt Ritter, aber ein Gruseln und Schauern um das andere läuft seinen Rücken hinab, da er das arme Kind so betrachtet und seine Hilflosigkeit bedenkt.

»Nein, ausgeschlossen durchaus nicht. Mir geht etwas vor, und ich fürchte recht Böses …«

»Ich hab's schon gesagt: Michel darf mir diese Dummheit nicht anfangen«, erklärt Frau Schröder nochmals. »Und ich werde doch sehen, ob mein Sohn schon so weit ist, dass er seiner Mutter nimmer folgt.«

»Schauen Sie, Herr Ritter!« stellt Lotte eindringlich vor. »Wenn ihm etwas zustieße! Was wir an Geld hatten, haben wir ihm so ziemlich geopfert, und jetzt, wo er sich bald selbst fortbringen könnte, sollte ihm etwas zustoßen? Und schauen Sie mich an! Auf wen soll ich mich verlassen? …«

»Ich werde reden mit ihm«, verspricht Ritter, um aus dieser peinlichen Situation zu kommen.

»Ja, ich bitte: Haben Sie die Güte! …«

Als er draußen auf der Gasse steht, schüttelt es ihn über und über. So schön, so … so engelgleich und dabei doch so unsäglich arm sein! So arm! … Nein, wenn es halbwegs ginge, sollte Schröder nicht steigen, gerade nur um diesem armen Geschöpfe die Sorge, den Kummer und die Angst zu ersparen … Aber leider geht es nicht … geht nicht.


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