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5.

Dich bezaubert der Laut,
Dich betöret der Schein.
Entzücken fasst Dich und Graus.


Auf dem Heimweg knurrt Köhler einige unzarte Bemerkungen über ungebührliches Herumschnuppern an anderer Leuten Privatverhältnissen, und nach dem Mittagessen zieht er sich unauffällig auf sein Zimmer zurück und geht bald nachher allein fort, ohne einen der Zimmernachbarn zum Ausgange einzuladen, wie es sonst sein Brauch ist.

Maier und Ritter begeben sich in Maiers Zimmer, lassen sich einen Krug Bieres holen und schmauchen ihre Pfeifen. Ritter streckt sich der Länge nach auf das bei jeder Bewegung ächzende und in den Federn und Fugen knackende Sofa hin, zieht ein Knie an und streckt darüber hinaus das andere Bein der ganzen Länge nach in die Luft und bläst dichte Rauchwolken gen die Decke empor, und Maier schlendert behaglich vor dem Tische auf und ab.

»Diese akademische Zeit ist doch eine kannibalisch schöne Zeit«, urteilt Ritter. »Melcher, wahrhaftig, mir graut, wenn ich daran denke, dass sie auch einmal und zwar in ganz absehbarer Zeit zu Ende geht und zu Ende gehen muss. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie abscheulich ledern es sein wird, wenn man sich als wohlbestellter Professor gehaben und den armen Studentlein als erstrebenswertes Muster zeigen soll.«

»Habe sich alle andern vor Dir in diese veränderten Verhältnisse gefunden, wird es Dir wohl auch gelingen, Dich in sie zu schicken«, meint Maier gleichmütig.

»Ich weiß nicht«, zweifelt Ritter. »Geld wenn ich hätte, weißt Du, so viel Geld, dass ich nicht auf das Erstreben einer Stellung angewiesen wäre, ich setzte mich aber ordentlich fest im Bannkreise der Alma mater und studierte immer darauf los.«

»Es würde Dir schließlich auch zu dumm«, mutmaßte Maier. »Der Mensch soll naturgemäß irgendetwas Nützliches und für die ganze menschliche Gesellschaft Ersprießliches schaffen, und entzieht er sich diesem Zwecke, so wird er auf die Dauer nie rechte Befriedigung finden können, triebe er auch, was er zu seinem Vergnügen treiben wollte. Das ist meine Ansicht, und ich sage es offen: So gerne ich Student bin und so schön wir uns das Leben in der Asgardia einrichten, ich sehne mich doch schon, einmal fertig zu sein und den ersten Patienten auf Leben und Tod ausgeliefert zu bekommen.«

»Unsinn! … Weißt Du übrigens schon, welche Gegend Du als Medizinmann wirst beglücken wollen?«

»Kommt Zeit, kommt Rat. Vielleicht lasse ich mich in meiner Heimat nieder, bis sich ein besserer Platz findet.«

»Danach dürfte also Deine Heimat nicht der beste Platz sein«, folgert Ritter. »Siehst Du: Noch schwimmst Du mitten im Strome der goldenen Jugend und des akademischen Lebens, und schon trübt Dir die Aussicht auf kommende Zeiten das bisschen Poesie, das …«

»Herein!« ruft Maier, als draußen jemand an die Türe klopft.

Es ist Hacker, der angefahren kommt. Er wirft nach kurzer Begrüßung Mantel, Hut und Stock nur so über Maiers Bett und macht es sich am Tische bequem. Man redet, plaudert, lacht und scherzt eine Weile, und dann rät Hacker einmal, einen kleinen Spaziergang zu machen, zumal man sich die ganze Woche über genug herumhocken könne in den dumpfen Buden und heute der Tag so schön und lockend wäre.

Man rüstet sich und schlendert aufs Geratewohl dahin, gen die Moldau hinab und den Quai entlang zurück gen die Altstadt. Die schmutzigfarbigen Wasser der Moldau gleiten in ihrem Bette dahin, manchmal still und geräuschlos, manchmal leise glucksend und stellenweise sogar rauschend und brausend, und Vergnügungsdampfer ziehen darauf hin und her und tragen die Stadtmenschen hinaus aufs Land oder wieder zurück, und Schwatzen, Schreien und Lachen hallt von ihnen her an die Ufer.

»In diesem Neste ist einer aber gerade wie vom Himmel gefallen«, brummt Hacker, als sie an einem Trupp junger Leute vorbeikommen und kein Wort der Reden zu verstehen vermögen. »Da kannst deine Löffel nach rechts oder nach links halten, verstehen tust einmal nichts, kein Wort.«

»Hat's auch gar nicht not«, meint Ritter. »Man braucht eben gar nicht alles zu verstehen, und der Reiz, von den breiten Massen unverstanden zu sein, ist hier auch für jeden von uns vorhanden, wie anderwärts nur für große Geister«, scherzt er.

Sie kommen auf den Franzens-Quai, und knapp vor ihnen biegt ein über die Franzensbrücke kommendes Pärchen auf den Quai ein und geht vor ihnen her: ein Infanterie-Zugführer und ein ländlich gekleidetes Mädchen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der Marssohn Besuch bekommen, und es ist seine Schwester oder gar seine Herzallerliebste, die er da herumführt.

Man kümmert sich jedoch nicht weiter, denn wenn sich einer in der Großstadt um fremde Leute kümmern wollte, der hätte gar viel zu tun. Man redet und schwatzt weiter, und als man durch ein Durchhaus zum Altstädter Brückenturm kommt, wo auf einem Plätzchen davor das Standbild Karls IV. steht und das Klementinum seine wuchtige Front herüber zeigt, fällt Hackers Blick unwillkürlich auf ein aus dem Klementinum aufragendes, anscheinend zu einer Kirche gehöriges Türmlein, und er fängt zu greinen an.

»Schau sich einmal jemand diesen Krempel an!« ereiferte er sich. »Das soll eine Sternwarte sein! Galerie, Armillarsphäre tragender Atlas, nahezu tychonische Einrichtung und … durch diesen Rauch und Dunst und das, was hier alles zum Himmel stinkt, sollst du in den Sternen lesen. Scheußlich sage ich.«

»Was schert man sich in – Dänemark um Sterndeuterei?« lacht Ritter hart auf. »Bei uns braucht man Geld für Kanonentuben und dies und jenes, und die Herrn Astronomen, beziehungsweise die angehenden Sterndeuter mögen froh sein, wenn sie lernen, wie man, sagen wir, die Verfinsterung der Jupitermonde berechnen können, die man übrigens hier kaum wird sehen können, ohne erst ein Loch in diesen Qualm und Dunst zu bohren. Loben wir Gott, dass wir doch wenigstens noch Professoren haben, die sich sehen lassen können.«

»Wie schaut denn nachher bei euch in München der Sternguckkasten aus?« fragt Ritter.

»Ah, da fehlt sich nichts«, bescheidet Hacker in patriotischem Eifer. »Ganz auf der Höhe der Zeit, und die Luft in München, speziell in Bogenhausen draußen, wo die Sternwarte ist, lässt nichts zu wünschen übrig. München liegt ohnehin auf der bekannten Hochebene, und dann sind er Fabriken und qualmenden Schornsteine …«

»Mir schein, das Pärchen hat sich nun veruneinigt?« unterbricht ihn Ritter und deutet nach dem Mädchen, das allem Anscheine nach eigensinnig geworden und dem Herrn Soldaten nimmer folgen will.«

»Ja, die Sache scheint etwas kritische zu werden«, schmunzelt Maier und schaut nach dem Pärchen. »Kommt, wir gehen unauffällig vorbei; vielleicht erlauschen wir, was sich durch die Eintracht der lieben Leutchen gezwängt.«

»Da kannst was erlauschen!« lacht Hacker spöttisch heraus. »Da müsste man aus Tschaslau sein.«

»Sie redet deutsch …«

»Kommt!« Und Maier schreitet voran, aber als er in die Nähe kommt, schnurrt ein Wagen der Elektrischen daher, und das Mädchen tut in seinem Weigern und Widersetzen hastig ein paar Schritte zurück und tritt in das Geleise der Straßenbahn. »Meinen Sie, ich bin wirklich so dumm, wie Sie mich anschauen?« schreit es mit vor Zorn überschnappender Stimme gegen den Soldaten. »Ich mag jetzt einmal nicht mehr, und ich werde selbst auch hinfinden …«

In dem nächsten Augenblick muss es der heran schnurrende Wagen niedergestoßen haben und vor sich herschieben.

Maier tut einen Sprung hinzu, packt es beim Arme und reißt es kurzerhand aus dem Geleise, aber noch stoßt der allerdings schon etwas langsamer fahrende Wagen ziemlich unsanft an es.

Einen gellenden Schrei stößt es aus, und dann steigt fahle Blässe in sein Gesicht.

»Ist Ihnen doch noch etwas geschehen?« erkundigt sich Maier, da er nicht wissen kann, ob der Wagen nicht etwa doch noch so unsanft angestoßen, dass eine ernstliche Verletzung entstanden.

»Geschehen?« wiederholt das Mädchen und schüttelt sich über und über vor Schreck und Gruseln.

»Ich meine nicht, aber wenn Sie nicht sind … Meiner Treu! Sie sind ja doch der Herr Maier aus Ödwald, der Buchengütlerin ihr Student.«

»Ganz gewiss«, bestätigte er. »Mit wem hätte ich die Ehre?«

»Was hat Ihnen denn der freche Kerl in den Weg gelegt?« erkundige sich Hacker mit der ihm eigenen Ritterlichkeit hastig bei dem Mädchen.

»Irreführen hat er mich wollen«, bescheidet das Mädchen. »Wer weiß denn …«

Mehr hört Hacker nimmer, und nach mehr fragt er nimmer, da sich der Soldat eiligst aus dem Staube machen will. »Sie werden schon zu finden sein«, droht er. »Warten Sie, man wird Ihnen Ihre Privatsonntagsvergnügen zu verleiden wissen, Sie … Sie …«

»Sie auch … Sie werden auch zu finden sein, lacht der Soldat in holprigem Deutsch heraus und drückt sich in die erstbeste Seitengasse.

»So ein Frechdachs!« schimpft Hacker. »Selbstverständlich ist aber auch gar kein Polyp zu sehen, der in einspänne.«

»Sie kennen mich wirklich nicht?« staunt das Mädchen, dessen Gesicht nun dunkle Röte zu decken beginnt.

»Ganz gewiss nicht«, versichert Maier. »Der Mundart nach müssen Sie aus meiner Heimat sein und auch nach dem Umstande, dass Sie mich kennen und unsern Hausnamen wissen … Übrigens: Ich bin schon so und so lange fort von daheim, und die paar Wochen, die einer grade während der Ferienzeit daheim ist, hat er nicht Zeit, sich nach allen Leuten umzuschauen.«

»Sel ist schon wahr«, gibt ihm das Mädchen Recht. »Aber meinen täte man halt … Mein Vater ist der Hagsteiner vom Gesenke.«

»Vom Gesenke?« staunt Maier. »Ja, das ist ja gleich überm Bergrücken drüben, kaum eine halbe Stunde Weges. Na, an solches wenn einem aber ein Gedanke käme! Und … was führt Sie denn nach Prag und in diese Situation, wenn … man fragen darf?« setzt er nachher hinzu.

»Meinen Bruder wollt ich besuchen«, erzählt das Mädchen, »und Prag wollt ich mir auch ein bisschen anschauen. Und weil man an einem fremden Ort fragen muss, wo das und jenes ist, so hab ich halt den Soldaten dort auch gefragt, wo die Josefskaserne ist, weil mich der Bruder nicht erwartet und abgeholt hat, wie er im Briefe versprochen hat. Und dieser Lump hat sich angetragen, er führt mich hin bis zur Kaserne und hat wahrscheinlich gemeint, ich bin so dumm, wie ich vielleicht auschau' und ich kenn' nicht doch mit der Zeit, wo er hinaus will. Und in dem Ärger und Zorn über den grundschlechten Menschen renn ich dem Wagen in den Weg, und wenn Sie nicht sind …«

»Gerade ist's noch der Zeit gewesen«, sagt Ritter. »Einen zehntel Augenblick später, und Sie liegen jetzt als leb- und formlose Masse hier auf dem Pflaster.« Er schneidet absichtlich etwas auf, um die Tat des Freundes in recht grelles Licht zu rücken.

»So … arg …«

»Das will ich meinen. Denken Sie: Die Sache wird mit Elektrizität getrieben! Das ist eine Kraft, und so ein Wagen hat keinen Verstand; der knüllt eins zusammen wie eine Nudel Brotteig. Kein Knochen bleibt ganz.«

»Du lieber Gott! Und in der Gefahr … Herr Maier, das kann ich Ihnen mein Lebtag nicht abzahlen. Sie haben mir da wirklich das Leben gerettet.«

»Steht gar nicht dafür, dass eins redet davon«, lehnt er das Gerede und den Dank ab. »Das versteht sich nämlich ganz von selbst … In die Josefskaserne wollen Sie?«

»Ja.«

»Warum sind Sie aber nicht bis zum Hauptbahnhof, zum Franz-Josefsbahnhof gefahren? Sie sind doch allem Anscheine nach in Smichow drüben ausgestiegen?«

»Ja, das war noch nicht Prag?« dehnt das Mädchen heraus.

»Prag, das heißt, Prag auch schon, aber die Aussteigstation für die über der Moldau drüben liegenden Stadtteile. Da werden Sie Ihren Herrn Bruder natürlich nicht haben treffen können, denn der wird beim Franz-Josefsbahnhofe auf Sie gewartet haben.«

»Wenn man halt nirgends hinkommt und nichts weiß …« entschuldigt sich das Mädchen verlegen und geschämig. »Hab ich da viel verfehlt?«

»Gar so viel wird nicht verfehlt sein. Ich führe Sie zur Josefskaserne und helfe Ihnen den Herrn Bruder suche …«

»Ja, seien Sie so gut!«

»Geht Ihr Zweit auch mit?« fragt Maier seine zwei Kommilitonen, doch die lehnen ab.

»Wir treiben uns noch eine Weile in der Stadt herum, und dann steigen wir auf die Bude«, bescheidet Ritter. »Gute Unterhaltung!«

»Danke, ebenfalls!«

»Empfehle mich, Fräulein!«

Sie schlendern über die Karlsbrücke hinüber auf die Kleinseite, und Maier geleitet die Landsmännin durch das Straßengewinkel der Altstadt dahin in der Richtung gegen die Josefskaserne.

»Halten sich Fräulein länger auf?« fragt er in währendem Gehen. »So drei oder vier Tage«, gibt sie zur Antwort und bleibt nachher nach einigem unschlüssigen Zögern stehen. »Lassen Sie das Fräulein und das dalkige Sie weg, Herr Maier! Ich bin sel nicht gewohnt, und es kommt mir von einem Bekannten so dumm vor«, redet sie. »Nennen Sie mich einfach Liesel, wie mich die Leute daheim heißen, und … wenn zwei aus einer Gegend sind, aus einem Orte, könnte man schier sagen, denselben steht das Herumtiteln gar nicht schön an. Gerad, wie wenn eins das andere zum Narren halten wollte.«

»Im Grunde genommen ist's auch so«, gibt er zu. »Wo willst Du bleiben? In der Kaserne kannst Du nicht bleiben.«

»In einem Wirtshause halt. Vielleicht weißt Du eins, wo es rechtschaffen zugeht.«

»Das werden wir schon zuwege bringen«, verspricht er. »Übrigens, weil ich gerade daran denke: Es ist noch ein Bekannter hier, den Du sicher auch kennen wirst …«

»Der Straßwirt Karl, meinst etwa.«

»Ja. Karl Barth.«

»Geh! Lass mir mit dem hochnasigen, langweiligen Menschen meinen Fried'!« sagt sie und maht mit der Hand eine abwehrende Bewegung. »Alles, was recht ist: Den Stand, den eins hat, den soll es halten, aber die übertriebene Sachen haben keinen Wert. Und der übertreibt zu viel. Als ob er der einzige studierte Mensch wäre auf der ganzen Welt … Kommst Du öfter zusammen mit ihm?«

»Hie und da«, gesteht er. »Er ist bei einer andern Verbindung und hat ein anderes Fach, da ist es selbstverständlich, dass wir nicht alle Tage zusammen kommen.« Dass er ihm auch etwas zu hochfahrend und geschraubt ist, verschweigt er.

»Und mit dem Andres, meinem Bruder, kommst wohl auch nicht zusammen?«

»Nein. Erstens kenne ich ihn nicht, und zweitens habe ich keine Ahnung gehabt, dass er hier ist.«

»Das wird schon sein. Aber mit dem könnt' einer schon auskommen; der verdirbt kein Spiel. Wirst ihn ja kennenlernen. Und … Du: Zu Weihnachten kommt er heim, wenn ihm nichts dazwischen kommt, hat er geschrieben, und da kommst fein zu uns hinüber! Gelt? Meinetwegen am Steffelstage.«

»Kann sein.«

»Nicht gerad nur: Kann sein! Das muss gewiss sein. Dass meine Leut' auch den Menschen sehen, der mir in der Pragerstadt das Leben gerettet hat …«

»So arg ist's doch nicht«, redet er ab. »Einige Schürfungen oder dergleichen hätten halt im günstigsten Falle abfallen können.«

Sie kommen in die Kaserne und fragen dem Gefreiten Andreas Schleifer nach, aber der ist nicht daheim, wie er angeblich fortgegangen, um seine Schwester von der Bahn abzuholen. So lässt denn Maier einen Zettel zurück, dass er sich nach Heimkunft gleich in dies oder jenes Hotel begeben möge, wo sich seine Schwester eingeherbergt.

Sie gehen in das bezeichnete Hotel, und Maier besorgt ein Zimmerchen für die Landsmännin, und dann setzen sie sich in eine Ecke des Gastzimmers zusammen und reden und schwatzen von der Heimat, deren Leuten, und von Prag und den Prager Verhältnissen in buntem Durcheinander, wie es ihnen halt gerade in die Rede kommt.

Maier trachtet das Gespräch allweg in gutem Flusse zu erhalten, denn erstens ist er dazu gewissermaßen moralisch verpflichtet, und zweitens plaudert es sich wirklich nicht so schlecht mit dem anscheinend sehr aufgeweckten und verständigen Mädchen, das nur gerade nicht über den Schliff verfügt wie seine Genossinnen in der Stadt. Weiters hat es ein Gesicht, das sich schließlich auch in Prag sehen lassen darf und ein Paar abgrunddunkler Rehaugen darinnen, und dann ist der Hagsteiner so ziemlich einer der größten Bauern derselben Gegend, die mehr Grund und Geld ihr eigen nennen als mancher Großgrundbesitzer, und mit den Angehörigen eines solchen Menschen kann einer schon ein bissel plaudern, wenn man im Sinne hat, sich in der dortigen Gegend wenigstens für eine Zeit niederzulassen.

Es ist ihm fast zu früh, als ein Soldat daherkommt, eine Weile sucht und nachher auf ihr Ecktischchen zukommt: Der besuchte Bruder.

Nun aber denkt er sich, dass Geschwister wohl allerhand zu reden haben werden mitsammen, wenn eins das andere besucht, und dass er dabei wohl zu entbehren sei. Er schützt daher eine noch zu besorgenden Arbeit vor, verabschiedet sich und geht.

»Morgen wirst halt nicht Zeit haben?« fragt des Hagsteiners Tochter. »Da könnten wir uns all drei so recht gemütlich unterhalten, wenn der Andres auch Urlaub krieget.«

»Für Nachmittag hab' ich Urlaub zugesagt«, bemerkt der, »aber Vormittag wird's nicht recht gehen wollen.«

»Ich habe vormittags auch keine Zeit«, erklärt Maier. »Nachmittags stehe ich mit größtem Vergnügen zur Verfügung. Ich werde also so frei sein und hierher kommen.«

»Gut. Aber ganz gewiss!« trägt die Liesel auf. »Und hörst: Ich bedank mich derweilen nochmals herzlichst für …«

»Hör' schon einmal auf!« unterbricht er sie, macht eine rasche Verbeugung und huscht davon. Sie aber erzählt dem Bruder, aus welcher Gefahr sie dieser ganz richtige Mensch errettet.

Während der nun sich ärgert und mit allem Möglichen droht, schlendert Maier dem Graben zu und von dort hinüber gen die Asgardenbude. Als er aber keine Seele antrifft, wandert er auf kleinem Umwege seinem Quartiere zu.

Aus dem kleinen Hause, in dessen erstem Stocke Schröder mit Mutter und Schwester wohnt, dringen die Töne eines Klaviers auf die stille, fast menschenleere Straße, und nach kurzem Besinnen tritt er ein, dem Freunde und Kommilitonen einen Besuch abzustatten, wenn dieser daheim zu treffen sein sollte.

In der kleinen Küche sitzt eine ältere Dame beim Fenster und strickt emsig: Schröders Mutter, die seit dem Tode ihres Gatten jahraus, jahrein in Schwarz gekleidet ist.

Sie nickt ihm einen freundlichen Gruß zu. »Gehen Sie nur gleich weiter!« mahnt sie. »Es sind ohnehin zwei Herren drinnen, Ritter und noch ein Herr, dessen Namen ich nicht recht behalten habe.«

»So? Sind die zwei Bummelseelen auch hierher getrabt?«

Und er tritt ins anstoßende Zimmer, wo es allem Anscheine nach recht gemütlich zugeht. Schröder sitzt in einer Ecke und bläst dichte Rauchwolken vor sich hin, und die zwei andern umstehen einen Flügel von riesiger Ausdehnung und lauschen dem Spiele einer jungen Dame, deren Finger mit wunderbarer Geläufigkeit über die Tasten dahintänzelt.

»Ah!« macht es Schröder und geht dem Kommilitonen einige Schritte entgegen. »Er kommt wohl später, doch er kommt. Grüß Dich Gott!«

»Schöne Seelen finden sich natürlich immer zusammen«, lacht Hacker. »Wir haben nicht einmal daran gedacht, dass wir noch hierher kommen, geschweige denn, dass wir davon etwas gesagt hätten, und er findet nach. Höchst merkwürdig.«

»Ich habe im Vorbeigehen spielen gehört, und so bin ich halt auf einen Augenblick heraufgekommen.«

»Ja, wir auch.«

Maier geht zu der am Flügel sitzenden Dame hin und reicht ihr ich zart-höflicher Weise die Hand.

»Grüß Gott, Fräulein Lotte! Wie geht's immer? Wie steht das werte Wohlbefinden?«

Alle Asgarden behandeln die blinde Schwester des Kommilitonen mir rührender Zuvorkommenheit und herzinniger Freundlichkeit.

Sie hebt das schöne Gesicht in der Richtung, aus der sie den Freund ihres Bruders reden gehört, als wollte sie ihn ansehen, aber die glanzlosen Augen stieren nur so ins Leere.

»Danke für die gütige Nachfrage!« lächelt sie. »Was müsste mir fehlen?« Sie legt auf das Wort mir eine eigene Betonung, die anscheinend scherzhaft klingen soll, aber trotzdem so halb und halb verrät, dass sich das arme Ding seiner traurigen Lage ehrlich bewusst.

»Ja natürlich, wenn Fräulein Lotte die Unterhaltung zweier so drolliger Kerle genießen und bestreiten dürfen«, geht er einen scherzhaften Ton ein.

»Hast Du diesen verirrten Besen wohlbehalten abgeliefert?« fragt Ritter.

»Ja, ich habe gehört, dass Sie heute einer Dame nahezu das Leben gerettet haben«, sagt Fräulein Lotte. »Das muss ein wunderbar erhebendes Gefühl sein, zu wissen, dass ohne seine Mithilfe ein Menschenlebe elend zugrunde hätte gehen müssen.«

»Zugrunde gehen!« meint Maier geringschätzig. »Das hätte ja gar nicht zu sein brauchen. Ein paar Flecke Haut, einige Rippen vielleicht und im schlimmsten Falle ein oder zwei Knochen hätten dabei in Frage kommen können. Und daran stirbt kein Mensch.«

»Meinen Sie?«

»Aber natürlich.«

»Das ist sicher so eine Art Moosweiblein, das das nötige Geld hat, sich zum Vergnügen die Großstadt anzusehen«, mutmaßt Hacker. »Zum Oktoberfeste kommen in der Regel nach München auch solche Kapitolsvögel.«

»Recht weit wirst Du nicht fehlschießen mit dieser Mutmaßung«, bestätigt Maier. »Ich bin wohl kein Informationsbüro, aber so viel hab ich daheim immer reden hören, dass der Hagsteiner nahe an zweihundert Joch Grund haben soll und natürlich daneben auch noch einen tüchtigen Mooshaufen.«

»Und so einen Goldfisch kennst Du nicht einmal?« lächelt Ritter. »Das ist wirklich nicht übel.«

»Wozu auch?«

So schwatzt und neckt man ein Weilchen fort, und Maier will dabei die Bemerkung machen, als zögen sich zwischen den Herzen Ritters und Fräulein Lottes zarte, nur einem ganz scharfen und nüchternen Beobachter zu Zeiten bemerkbare Fäden hin und her, und das verstimmt ihn ein ganz klein wenig.

Er sagt, er wäre absichtlich und vorsätzlich nur auf einen flüchtigen Gruß heraufgekommen, weil er abends noch zu tun hätte und wolle diesmal seinem Vorsatze nicht untreu werden.

So rüsten denn auch die beiden andern zum Heimgange.

»Fräulein Lotte, noch ein Stück!« bittet Ritter und streichelt dabei über ihre lässig auf der Klaviatur liegende Hand hin, so zart und achtsam, wie man etwa über eine Blume hinstreicht, wo man fürchtet, man könne bei etwas stärkerem Anfassen leicht eines der duftigzarten Blättlein verbiegen oder brechen.

Und sie fährt darauf mit ihren zarten Fingern tastend und suchend über die Klaviatur und schlägt einige Akkorde an. Dann aber geht sie allmählich zu einer Weise über, die sie mit solcher Innigkeit und solchem Gefühle zum Vortrag bringt, wie man solches nicht bald wieder zu hören bekommen kann.

Es ist ja bekannt, dass sich bei Blinden das ganze Sinnenleben nach innen konzentriert, dass sich Blinde in ihrer Art ihre eigene Welt schaffen und dass ihre Einbildungskraft und die jedwedem Menschen mit dem Leben in die Wiege gelegte Poesie allda ungestört durch äußere Eindrücke walten und weben in ihrer seltsamen Art, aber das Spiel mit seiner eigenartigen Auffassung und Innigkeit muss bei dem blinden Fräulein jeden überraschen, der es zum ersten Male hört.

Unwillkürlich lauscht jeder dem schönen Spiele, aber Ritter scheint nahezu ganz verzückt und in eine andere Welt versetzt zu sein.

Ihm schleichen die Töne und Weisen allemal tief in die Brust und sogar bis ins dunkelste Herzenseckchen und lockern da Verschiedenes, was sich in die Alltäglichkeit nicht hervorwagt, allerlei Gedanken, Sentenzen und auch wohl allerlei Sinnen, das man nicht überall zu finden gewohnt ist. Nach und nach falten sich seine Hände wie zum Gebete, und seine Augen verwenden keinen Blick von dem Gesichte, das anscheinend gar nichts zu tun hat mit dem innigen Spiele.

Nachdem die letzten Zusammenklänge verzittert im Gesaite und Schallwerke des Flügels, dankt jeder aufrichtig für den Genuss, den ihm das Spiel verschafft, aber das blinde Fräulein gibt augenscheinlich nichts darauf und achtet dieses Dankes gar nicht.

Man verabschiedet sich mit dem Verspruche, bald wieder zu kommen, und als sie zu Dritt über die Stiege hinunter traben, klingt ihnen die Weise des Liedes nach.

Alle Abend, wenn ich zur Ruhe geh',
Blick' ich hinaus in die Nacht …

*

»Hilarius«, sagt Maier plötzlich einmal, als Hacker sich von ihnen verabschiedet und sie selbander durch die nicht sonderlich belebten Gassen dahin streifen, »Hilarius, ich glaube, leider etwas bemerkt haben zu müssen.«

»So? das wäre?«

»Du scheinst mir ein gewisses Gefallen an Fräulein Lotte zu finden, das speziell hier vollständig unangebracht ist.«

»So?« Und dunkle Röte beginnt in sein Milchgesicht zu steigen.

»Ja, vollständig unangebracht, wiederhole ich.«

»Eine Spielerei meinerseits«, entschuldigt sich Ritter nun. »Ich habe keine Ursache, zu leugnen; ich gestehe Dir offen: Das Fräulein interessiert mich; aber was ist da weiter dabei? Ein »

‚irrationales' Verhältnis, würden Hacker oder der Rodensteiner sagen, etwas, das als Formel ein recht schönes, bestechendes Ansehen macht, aber nie praktischen Wert erlangen kann … Ungefähr das Gleiche, wie wenn einer für den Abendstern schwärmen wollte …

»Das ist Deine Ansicht?«

»Bestimmt. Ich glaube, daran ist doch nichts zu deuteln.«

»Von Deinem Standpunkte aus nicht, aber … wie schaut denn die Sache von Fräulein Lottes Standpunkte aus gesehen aus?«

Ritter wird mit einem Male wie mit eitel Blut übergossen, und seine Blicke senken sich auf das Straßenpflaster nieder.

»Na«, mahnt Maier noch einem Zeitlein tiefen Schweigens. »Ich glaube, bemerkt zu haben, dass … dass das Fräulein von Deiner … Eselei Kenntnis hat, und so viel Verstand wird ihm jeder zutrauen, dass es über seine armselige Lage nicht im Unklaren ist. Wie bitter elend musste sich es da fühlen, wenn Gefühle geweckt würden, die unter den gegebenen Verhältnissen lediglich Gefühle bleiben können? … Mensch, bedenke also, dass Deine Eselei das Fräulein tief unglücklich machen kann und … und … Wonach also zu achten!« …


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