Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13.

Ott Heinrich, der Pfalzgraf vom Rheine,
Der sprach eines Morgens: nem plem!
Ich pfeif' auf die saueren Weine,
Ich geh' nach Jerusalem.


Der Beginn des Sommersemesters 1904 hat der Prager deutschen Studentenschaft wieder völlige Bewegungs- und Bummelfreiheit gebracht, sie es, dass man endlich von »oben« gewunken, als täte solch' halbasiatisch Gebaren auf die Dauer nicht gut, weil man immerhin noch rechnen müsse mit den zehn Millionen Deutschen in Österreich, die gerade die beste Steuerkraft bildeten, sei es, dass die Tschechen die Erfolglosigkeit ihres Vorhabens eingesehen, kurz: es ist wieder, als ob gar nichts Derartiges vorgefallen wäre.

Der Beginn des Sommersemesters aber bringt der Asgardia eine Überraschung, wie sie wohl verblüffender kaum mehr gedacht werden kann: Oskar Winter, der allweg fidele, lebenslustige und manchmal vor lauter Übermut übersprudelnde Rodensteiner, der trotz seines unmathematisch rundlichen Ausehens und seines nahezu unübertrefflichen Durstes doch als vielversprechender Mathematiker bekannte Rodensteiner will Zahlen und Formelkram hinter sich werfen und – Theologie studieren … Theologie!

Will! Erstudiert sie sogar.

Schauderhaft! … Der Mensch macht diesen alten Ben Akiba elendiglich zu Schanden. Das ist noch nicht dagewesen.

Die Tatsache wird so lange angezweifelt, als es überhaupt geht, und man kann sie noch allweg nicht fassen und glauben, als sogar jeder Zweifel ausgeschlossen ist.

»The – o – lo – gie studieren!« wundert Schröder und schüttelt den Kopf ein über das andere Mal.

»Wer weiß, was dahinter steckt?« mutmaßt Kaltenberger. »Ich kenne mich nicht aus an diesem Menschen, aber es deucht mich, als wollte er einmal ein ganz gefährliches Subjekt werden und vorläufig nur die Waffen und Fechtweise seiner Gegner kennen lernen.«

»Wozu?«

»Was weiß ich? Aber ich kann mir die Sache nicht anders enträtseln. Wenn er sich allen Ernstes diesem Fache widmen wollte, wäre er doch ins theologische Seminar eingetreten …«

»Und aus ihm ist nichts herauszubringen«, ärgert sich Köhler. »Ein Kerl wie ganz und gar ausgewechselt. Da lässt mich mein berühmter, juridischer Scharfsinn im Stiche.«

»Das dürfte wohl noch öfter vorkommen«, witzelt Färber.

»Du steigst hinein!«

»An diesem Menschen kenne ich mich auch nimmer aus«, gesteht Maier. »Er ist schon seit Weihnachten ganz anders als zuvor; er ist so ernst, so verschlossen, so vor sich hinbrütend. Das wird ja jeder von uns bemerkt haben. Mir kommt es vor, als wäre bei ihm irgendetwas locker geworden, eine Schraube, eine Niete oder sonst etwas. Irgendwo muss es wackeln und hapern.«

»Möglich, möglich aber auch nicht«, zweifelt Träger. »Vielleicht ist es doch so, wie Kaltenbrunner mutmaßt: er will ein gefährliches Individuum werden.«

»Wozu? Für diese Mutmaßung liegt doch nicht der geringste Grund und Anhalt vor. Er hat weder über Religion noch über die Geistlichkeit auch nur ein unrecht Wort verloren, nicht dies, nicht jenes …«

»Mit Hinterlist und Falschheit ginge der überhaupt nicht zu Werke«, verteidigt Maier den Kommilitonen gegen solche Zumutung. »Überhaupt wäre dies eines Asgarden unwürdig.«

»Dann erkläret mir, Graf … Maier!«

»Erklären! Wenn einem jeder Anhalt zu einer Mutmaßung fehlt …«

Solche und ähnliche Reden kommen auch dem alten ehzeit so übermütigen Rodensteiner zu Ohren oder werden als Fragen direkt an ihn gerichtet, aber er schüttelt nur den Kopf dazu und weicht jeder Erklärung aus. »Ich weiß, was ich tue, und was ich beginne, ist mein völliger, unabänderlicher Ernst und Willen.«

»Du willst Theologe werden?«

»Ja, ich will.«

»Und was hast Du dabei für glänzende Aussichten? Wenn Du einen altadeligen Namen Dein eigen nennen könntest, möchte man mutmaßen, Du strebtest nach einem Bischofsstabe.«

»Was frag' ich nach Aussichten oder deren Glanze? Wie lange währt so ein armseliges Menschenleben? Was kann es in das Geflunker sogenannten Glückes hüllen und einem bieten? Alles Schein und Trug. Und wenn die paar Tage dieses Lebens zu Ende sind, ist es füglich doch gleich, was einer gewesen. Und deswegen stellt man sich dorthin, wo es einem am besten zusagt, wenn man noch eine solche Wahl treffen kann und wenn man sich mühsam durchgerungen zu der Erkenntnis, dass alles Glück der Erde doch nur blasser Trugschein ist, und wenn man sich den Mut erkämpft, auf das ganze Geflunker zu verzichten. Ich will meinen Mann als Geistlicher stellen für dies kurze Leben und will da nutzen und …«

»Nicht übel!« unterbricht ihn Träger lachend. Er kann die Sache trotz aller solchen Begründung immer noch nicht ernst nehmen.

»Sei so freundlich, mir für einen Augenblick den Puls fühlen zu lassen!« scherzt Breit.

»Da! Erprobe nur Deine Medizinerweisheit!«

»Soweit ganz normal, aber …«

Wie ein großes, unlösbares Rätsel steht nun der Kommilitone vor und unter ihnen, und niemand findet die Lösung.

Die Tage kommen und gehen in der gewohnten Weise; man sitzt tagsüber im Hörsaale, man studiert und sammelt sich abends auf der Bude, allwo sich ebenfalls alles in der gewohnten Weise abwickelt, und man kriegt es endlich satt, den ehemals so kreuzfidelen und nun ernst und schweigsam gewordenen Kommilitonen und Freund mit unnötigen und ganz und gar zweck- und erfolglosen Fragen zu bestürmen. Man findet sich mit der gegebenen Tatsache ab und tröstet sich mit der Hoffnung, dass endlich doch einmal ein Tag kommen müsse, der des großen Rätsels Lösung von selbst bringt.

Köhler und Maier kommen häufig nicht auf die Bude; sie haben um Urlaub nachgesucht, weil sie nun tüchtig lernen und »ochsen« müssten, denn sie stünden knapp vor den Prüfungen, die den Abschluss ihres Studiums bilden und in die Ledernheit des Philistertums hinüberleiten und hnüberführen sollen.

Da geht Maier einmal mit seinem Zöglinge vor die Stadt hinaus spazieren und nimmt sich ein Heft mit, um selbst bei dieser Gelegenheit noch etwas zu wiederholen.

Es ist ein wunderschöner Vorfrühlingstag. Kein Wölkchen trübt die Bläue des Himmels, von dem die Sonne ihre goldenen, wärmenden Strahlen herniedersendet zur Erde, um dort Gras und Geblume zu neuem Leben und Blühen zu ermuntern, und über den noch öden Fluren singen und trillern die Lerchen … Es zieht einen förmlich hinaus ins Freie.

Als sie die Straße gegen Wrschowitz zu einbiegen, kommt ihnen Winter in die Quere geschlendert.

»Auch an die Luft?« fragt er kurz und augenscheinlich nicht gut aufgelegt.

»Du vielleicht ebenfalls?« gegenfragt Maier.

»Ja … das heißt, ich gehe da hinunter … Übrigens: es ist ja Wurscht, wo einer herumtrabt. Wenn Du erlaubst, schließe ich mich Dir an.«

»Aber selbstverständlich und mit größtem Vergnügen.«

Und sie schlendern die immer ruhiger und leerer werdende Straße dahin und reden und plaudern von dem und jenem, was ihnen halt gerade zur Rede kommt.

»Wann gedenkst Du Deinen Doktor zu machen?« fragt gelegentlich Winter, als das Gespräch auf dieses Thema kommt.

»Ich weiß auch nicht gerade, aber mir wäre es am liebsten, wenn es schon morgen wäre. Man kennt, dass die schönste Zeit zu Ende geht, und … es ist immer so.«

»Die schönste Zeit!« seufzt Winter auf. »Es ist leider so. Sie ist dahin … und kommt nicht wieder mehr … Eine Zeit kommt uns entgegen – oder auch: wir gehen ihr entgegen – ganz grau in grau getüncht, und wir sollen die Güte haben, und sie kahle, eintönige Fläche nach Belieben und eigenem Gutdünken mit allerlei Zierat und Geblume zu bepinseln … Du wirst Efeu, Rosen und Lilien malen, was?«

»Giftpflanzen«, scherzt Maier.

»Meinetwegen auch. Und … weißt Du, Melcher, alter Freund, was der unverwüstliche Rodensteiner tut?« fragt er nach einer kleinen Pause. Es drängt ihn einmal zu einer Mitteilung, einer Aussprache mit einem erprobten Freunde, einer Erleichterung seines gramvollen Herzens, und er kommt sprungweise näher. »Hast Du eine Ahnung?«

»Woher denn?«

»Melcher, Du bist nicht so wie die andern, wie wir ja alle gewesen sind, so … weißt Du, so ohne tiefgründigen Boden, möchte ich fast sagen. Du hast es wahrscheinlich Dein Lebtag noch nicht leicht gehabt, und der Ernst des Lebens hat … Ah! Wozu diese langatmigen Umschweife? Du wirst mir ohne Weiteres glauben, dass ich Dich die kurze Zeit her genugsam kennen gelernt und liebgewonnen habe, lieber als jeden andern von uns, die ich doch auch alle mehr oder weniger lieb habe. Dir vertraue ich an, was mich drückt und beißt. Aber … unter uns bleiben!«

»Das ist doch selbstverständlich.«

»Ich gehe ins Kloster.«

Maier schaut ihn groß und verwundert ungläubig an. »Wie so freundlich und ulke jemand anderen an!« dehnte er dann heraus.

»Es ist mein völliger Ernst.«

»Geh'! … Reden wir doch lieber von etwas anderem, Vernünftigerem!«

»Wie Du willst … aber ich tu' es. Du brauchst deswegen durchaus keine schalen, nichtssagenden Witze darüber zu machen, wie es die andern alle täten … Mich leidet und duldet es nimmer heraußen in der Welt. Es hat wohl eine Zeit gegeben, wo ich gewähnt … Ach was!« unterbricht er sich dann selbst. »Du hast mich ja noch gekannt, wo ich der richtige Rodensteiner gewesen und die ganze Welt und das ganze Leben für einen Lustgarten angesehen habe. Die ganze Faselei darüber ist jedoch das reinste Blech. Die Herren Poeten malen in den gleißendsten Farben, damit die Sache halbwegs etwas gleich sieht, und wenn man in derselben Zeit steht und lebt, empfindet man ein halbes Dutzend Poeten zu Schanden; aber ich will Dir's in klaren, nüchternen Worten erzählen, wenn Du mich anhören willst …«

»Wenn ich Deines Vertrauens würdig bin …«

»Rede keinen Unsinn! Wenn dies nicht wäre, hielte ich mein Maul … Also höre! … Es ist eigentlich eine scheußliche Geschichte, wie sie kein Romanschreiber dümmer ausbrüten könnte. Und sie kann vorkommen, und gerade mit muss sie in die Quere laufen. Zu dumm! Sage ich. Gleich neben und ist ein Uhrmacher, der einzige verlässliche im ganzen Neste, und der hat eine bildsaubere Tochter … gehabt. Da ist's kein Wunder, wenn die Uhr manchmal rappelt, und so ein angehender Mathematiker hat doch ein ausgesprochenes Interesse für zeitmessende Instrumente, für Rädergetriebe und so weiter und manchmal auch für blondzöpfige Uhrmachertöchterlein. Und dies alles hat bei mir zugetroffen … Unsere jungen Herzen haben sich gefunden, und es ist eine Zeit gekommen … Mensch, das kann ich Dir gar nicht schildern …«

»Ist auch nicht notwendig«, beruhigt Maier gleichmütig.

»Als ich dann auf die Universität gezogen bin, haben wir uns all beide ganz gleiche Ringlein gekauft, dieselben aber heimlich mit einander vertauscht; sie waren nachher doch nimmer so ganz und gar die gleichen … Allmählich ist man nun auch in den beiden Elternhäusern der Sache auf die richtige Spur gekommen und hat beiderseits gefunden, dass wir zwei eigentlich ganz vernünftige Dinger sind. Das Uhrmachertöchterlein kann sich für seine Mitgift schon einen Professor leisten, und der Professor wieder schein in seinem Fache eine Autorität zu werden, denn er scheint ganz gut und fehlerlos zu rechnen. Und überdies ist so eine »Hausliebe« daheim immerhin ein mehr minder probates Mittel, junge Leute in der fremden, fallenstrotzenden Welt draußen nicht auf Abwege geraten zu lassen.

So weit ist also die Geschichte ganz perfekt gewesen. Aber das Uhrmachertöchterlein hat neben seiner Mitgift noch eine Kleinigkeit, nämlich einen ausgesprochenen Dickschädel. Im Herbste, ehe ich fort bin, haben wir uns einer Nichtigkeit wegen überworfen und zur Abwechslung so ein bisschen gezankt. Es steht gar nicht dafür, dass ich den Grund erwähne. Und bis ich zu Weihnachten wieder heimkomme, ist das Ding ins Kloster gegangen … Was sagt da einer dazu?«

»Nichts«, bescheidet Maier ruhig. »Was soll man dazu sagen? Jedem seinen eigenen Willen lassen und selbst auch tun, was man will.«

»Bene dixisti. Deswegen geh' ich nun auch meiner eigenen Wege.«

»Aber höre doch auf! Das ist nicht im Entferntesten ein Grund, auch ins Kloster zu müssen. Wenn alles ins Kloster müsste, dem etwas in dieser Beziehung schief gerät, dann hätten wir bald lauter Klöster und Klosterleute … Schwamm drüber! rate ich Dir. Und ein ander Speer eingezogen, wenn das eine verbogen oder sonstwie unbrauchbar geworden.«

»Ich kann nicht. Melcher, Du hast gut reden und raten; aber ich kann nicht anders. Glaube mir sicher, dass ich hartnäckig versucht, mir ebenso zu denken, ehe ich zu dem Entschlusse gekommen bin, der jetzt zur Unabänderlichkeit gediehen. Ich habe mir dies und jenes vorgesagt und vorgenommen, aber … es geht nicht, sage ich Dir. Ich bin so etwas wie eine Abnormalität: Ich habe zu viel Herz, arg zu viel, und dabei besitze ich doch das Erbstück unserer Vorfahren väterlicherseits. Diese ganze Verwandtschaft hat stahlharte Köpfe, und dabei zäh wie Hundsleder … Ich habe versucht, das streikende Frauenzimmer aus dem Kloster zu kriegen und zur Vernunft zu bringen. Es geht nimmer heraus; es mag nicht. Was tu also ich heraußen? Wenn ich ein Mensch wäre, der leicht vergessen könnte, gut: Was liegt an einem Dickschädelchen? Aber ich bringe die ganze Geschichte nicht aus dem Kopfe; es geht nicht …«

»Alles geht, wenn der Wille vorhanden ist. Als Medizinmann bin ich nicht der größte Freund der sogenannten Allopathie, aber in diesem Falle würde ich Dir entschieden zu dieser Methode raten: Vertreibe ein Übel mit einem andern!«

»Es geht nicht, sag ich Dir nochmals. Ich hab es selbst schon versucht; es geht nicht … Und übrigens: Was verliert die Welt an mir? Im günstigsten Falle einen Professor, und deren hat es ohnehin genug. Ich geh also meiner Wege abseits vom lauten Getriebe und verkrieche mich in ein Kloster … Der Brief, den Ritter damals auf meinem Schreibtische gefunden, enthielt das Ansuchen um Aufnahme. Ich hoffe, dass ich als Akademiker wohl unterkommen werde.«

»Ich bin gewöhnlich nicht derjenige, der seinem Mitmenschen das Missraten irgendeines Planes gönnt, aber in diesem Falle wünschte ich Dir schon einen wohlgeflochtenen Korb, aber schon vom Grunde meines Herzens.«

»Ich danke Dir für Deine Teilnahme; wir werden ja bald sehen. Jeder Tag kann nun Bescheid bringen.«

Ein unbestimmtes Etwas legt sich nach dieser Mitteilung über das Sinnen und Denken und über das ganze Gemüt und Empfinden Maiers gleich dem finsteren Schatten der düsteren Wolke, und der Tag kommt ihm trotz allen Sonnenscheines vor wie einer um die Zeit, da im Spätherbste der Nebel Berg und Tal deckt und kein lichter Strahl um und um das Düster zu durchbrechen vermag … Wie mag dem Freunde zu Mute sein?

Auch daheim noch sinnt er an den Reden, die ihm Winter anvertraut, und er wünscht sehnlich, das Kloster der Salesianer in Perosa möge das Aufnahmebegehren rundweg abweisen. Vielleicht wird ihm sogar das Studium der Theologie mit der Zeit nach abgeschmackt, und er findet den Weg wieder zurück zu einem andern Leben.

Abends sitzt Winter wie gewöhnlich in einer Ecke in der Kneipe und nimmt ihn von Zeit zu Zeit umschwirrende Witzeleien gelassen und gleichmütig hin und ist sogar aufgelegter denn die letzte Zeit her.

Einige Tage nachher aber bringt er sein Austrittsgesuch ein und vermeldet, dass er morgen abfahren und nur noch einen Abend im Kreise der liebwerten Kommilitonen verbringen wolle.

»Kruzinalfagott!« schimpft Werner. »Der Kerl gehört doch früher nach Dobrschan Irrenanstalt bei Pilsen. als in ein Kloster. So einen verrückten Zwickel hat die Welt doch schon lange nimmer hervorgebracht.«

»Scheußlich!« knurrt Köhler. »Was man in diesem Sauneste zu guter Letzt noch alles erfahren und mit erleben muss!

»Einfach zu blöde!« urteilt Breit.

Aber all dieses ändert an der Sache nichts.

Am folgenden Abend ist Abschiedskneipe.

Das Thermometer der Bude zeigt zwanzig Grad Celsius, aber trotzdem fühlt fast jeder eine Art eisiger Kälte in dem Raume, und ein eigentümlich Düster und ein eigenartiger, unheimlicher Druck umfängt jeden. Man redet von dem und jenem, man redet halblaut und gedämpft wie in einem Trauerhause, und als der Kneipwart die Kneipe eröffnet, ist und wird es nicht anders.

Es wollen heute das gewohnte Leben und Treiben und der gemütliche Schwung nicht in die Bude kommen. Man redet und schwatzt dies und jenes, und jeder hegt eine eigentümliche Scheu davor, den Kern der Sache zu berühren, aus Sorge, es könne ihm unversehens ein Wörtlein entschlüpfen, das Winter den letzten Abend im Kreise der Kommilitonen trübte.

Der Sprecher der Asgardia gibt vor, heiser zu sein; so hält Köhler den Sprech. Er will den leichten, jugendfröhlichen und ungezwungene Ton aufschlagen, der die meiste Zeit über uneingeschränkter Herrscher ist in diesem Raume und als solcher erkoren und anerkannt worden, aber es will ihm nicht nach Wunsch gelingen. Das eigentümliche, undefinierbare Etwas drückt auch auf seine Stimmung. Er macht der Korona offiziell Mitteilung von dem Vorhaben des allseits geliebten Freundes, er schildert, welch guter Freund, welch treuer Kamerad und welch gute Seele er jedem gewesen, er bedeutet lebhaft, dass ihn ein unenträtselbares Etwas, eine Änderung der Ansicht oder dergleichen, deren Grund jedwedem ein großes Rätsel sei und wohl auch fürder bleiben werde, zu diesem ganz und gar ungewöhnlichen Entschluss und Schritte gedrängt, er dankt für alle Freundschaft und Liebe, die er jedem der Kommilitonen entgegengebracht, und zum Schlusse steigert er seine Stimme zu pathetischem Schwunge, wie er es im Brauche hat, wenn er etwas recht ernst und feierlich vorbringen will.

»So zieh' denn hin, lieber, guter, unvergesslicher Freund!« ruft er. »Zieh' hin, wohin Dein Herz Dich lockt, wohin ein uns unbegreiflicher Drang Dich treibt und wohin Dein Sinnen vorausgeeilt, und finde dort, was Du hoffst, sehnst und suchst und suchen magst, was wir wohl nicht wissen, es Dir aber aus treuem Freundesherzen wünschen und gönnen; finde das Beste, was das Menschenherz erstreben und erreichen kann: den Frieden, den Frieden mit und in Dir! Nimm aber auch die Versicherung mit in fremdes Land und in fremde Verhältnisse, dass in unserer Brust, umspannt vom schwarz-gold-roten Asgardenbande, ein Plätzchen ist und bleibt für den Kommilitonen, den Freund und Bruder, das keinem andern je wieder eingeräumt wird, an dem die Erinnerung an Dich und an die mit Dir verlebten, unvergesslichen Stunden stetig hausen und weben wird, bis das Herz zu schlagen aufhört und bis Asgarde und Band unter den Rasen sinken … Halte auch Du, unvergesslicher Freund, dieses Plätzchen frei für uns und wahre uns nach Kräften ein gut Gedenken! … Und noch eins, lieber Kommilitone, liebwerter Freund! Eine Bitte, eine letzte Bitte! Ehe Du getauft worden bist, hat die Stimme Deiner deutschen Mutter Dich begrüßt im Leben, hat Deines Vaters deutsche Rede Dich willkommen geheißen, im deutschen Elternhause hast Du deine glücklichste, in der deutschen Verbindung Asgardia vielleicht Deine schönste und froheste Zeit verbracht, auf deutschem Boden bist Du gewandelt all die Jahre her, ein integrierender Bestandteil des großen deutschen Volkes bist Du geworden und bist Du, mit deutschem Sinne und Sehnen ist Dein Sinnen und Sehnen verflochten, dass Du Dich, ohne Dich vom Innersten heraus vollständig zu verkehren, nicht mehr loszureißen vermagst davon, und deutscher Freunde Herzen haben einen Platz für stetes Erinnern an Dich, für goldene, glühende Liebe, die Dir folgt bis in die fernsten Fernen; deutsche Freunde richten in der ernsten Scheidestunde eine letzte, ernste Bitte an Dich: Winter, Rodenstein, Freund, bleibe auch als Priester ein Deutscher!«

Winter sitzt die ganze Rede über an seinem Platze und schaut steif und stier vor sich nieder auf den Tisch, und manchmal geht sein Atem hastig und stoßweise, und über sein Gesicht und um seinen Mund fliegt ein Reißen und Zucken.

Nun es den Abschied gilt, kennt und merkt er erst, was ihm die Bude und all die Kommilitonen, die lebensfrohen Gesellen, gewesen. Wie ein lediges Paradies deucht ihn die rauchgefüllte Stube mit ihrem Zauber, und eine Öde liegt vor ihm, die Alltäglichkeit mit ihren Mühen und Sorgen, der ihm vollständig fremde Lebensweg, den nur eines zum singrünen Gärtlein führen kann: die Erfüllung der freiwillig übernommenen Plichten. Ein Leben voll Mühen und Entbehrungen liegt vor ihm; wird er ihm auch gewachsen sein? Wird er dabei und darüber auch sein können, um was ihn Köhler im Namen der ganzen Verbindung gebeten: Ein deutscher Priester? Warum nicht doch? Sind doch andere auch tschechische Priester, polnische und so weiter, ohne dass ihnen solches verwehrt würde, und nur der Deutsche ist in den seltensten Fällen auch ein wahrhaft deutscher Priester … Ah was! Immer, immer!

Da packt ihn das Weh der Abschiedsstunde mit aller Macht und schüttelt und stößt den stämmigen, starken Mann wie fast ein kleines Kind. Er springt auf, streckt die Hand vor sich hin wie zum Verspruche, dass er allweg seinen Kommilitonen ein Freund und seinem Volke ein Deutscher sein wolle und dies und jenes, aber zwei dicke Tropfen brechen sich Bahn auf seinen Augen und rollen die Wangen nieder in den Bart, und nur ein heiseres Gröhlen zwängt sich aus seiner übervollen Brust.

Ein Winken noch, und dann rennt und hastet er davon.

Draußen aber in der stillen Ecke des Hofes, in die Lichter aus der Bude hernieder lugen und hernieder leuchten, weint er sich aus wie ein Kind, das die liebgewordene Heimat verlässt und verlassen muss, an der sein Herz mit tausend Fäden hängt.

»Immer! Immer!«

Als jedoch aus der Bude herunter die Weise des bekannten Liedes in die Stille des Hofes hallt, das er selbst manchem abziehenden Kommilitonen nachgesungen, da hebt er sich und schleicht still von dannen.

… Und Liebe, sie folge ihm, sie geht ihm zur Hand,
Sie folgt ihm zur Heimat, ins fernste Land …


 << zurück weiter >>