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Kapitel 38.
Ueber Geschichte.

Dieses Kapitel bezieht sich auf §. 51 des ersten Bandes.

Ich habe in der unten bemerkten Stelle des ersten Bandes ausführlich gezeigt, daß und warum für die Erkenntniß des Wesens der Menschheit mehr von der Dichtung, als von der Geschichte geleistet wird: insofern wäre mehr eigentliche Belehrung von jener, als von dieser zu erwarten. Dies hat auch Aristoteles eingesehen, da er sagt: χαι φιλοσοφωτεϱον χαι σπουδαιοτεϱον ποιησις ἱστοϱιας εστιν ( et res magis philosophica, et melior poësis est, quam historia) Beiläufig sei hier bemerkt, daß aus diesem Gegensatz von ποιησις und ἱστοϱια der Ursprung und damit der eigentliche Sinn des ersteren Wortes ungemein deutlich hervortritt: es bedeutet nämlich das Gemachte, Ersonnene, im Gegensatz des Erfragten.. ( De poët., c. 9.) Um jedoch über den Werth der Geschichte kein Mißverständniß zu veranlassen, will ich meine Gedanken darüber hier aussprechen.

In jeder Art und Gattung von Dingen sind die Thatsachen unzählig, der einzelnen Wesen unendlich viele, die Mannigfaltigkeit ihrer Verschiedenheiten unerreichbar. Bei einem Blicke darauf schwindelt dem wißbegierigen Geiste: er sieht sich, wie weit er auch forsche, zur Unwissenheit verdammt. – Aber da kommt die Wissenschaft: sie sondert das unzählbar Viele aus, sammelt es unter Artbegriffe, und diese wieder unter Gattungsbegriffe, wodurch sie den Weg zu einer Erkenntniß des Allgemeinen und des Besondern eröffnet, welche auch das unzählbare Einzelne befaßt, indem sie von Allem gilt, ohne daß man Jegliches für sich zu betrachten habe. Dadurch verspricht sie dem forschenden Geiste Beruhigung. Dann stellen alle Wissenschaften sich neben einander und über die reale Welt der einzelnen Dinge, als welche sie unter sich vertheilt haben. Ueber ihnen allen aber schwebt die Philosophie, als das allgemeinste und deshalb wichtigste Wissen, welches die Aufschlüsse verheißt, zu denen die andern nur vorbereiten. – Bloß die Geschichte darf eigentlich nicht in jene Reihe treten; da sie sich nicht des selben Vortheils wie die andern rühmen kann: denn ihr fehlt der Grundcharakter der Wissenschaft, die Subordination des Gewußten, statt deren sie bloße Koordination desselben aufzuweisen hat. Daher giebt es kein System der Geschichte, wie doch jeder andern Wissenschaft. Sie ist demnach zwar ein Wissen, jedoch keine Wissenschaft. Denn nirgends erkennt sie das Einzelne mittelst des Allgemeinen, sondern muß das Einzelne unmittelbar fassen und so gleichsam auf dem Boden der Erfahrung fortkriechen; während die wirklichen Wissenschaften darüber schweben, indem sie umfassende Begriffe gewonnen haben, mittelst deren sie das Einzelne beherrschen und, wenigstens innerhalb gewisser Gränzen, die Möglichkeit der Dinge ihres Bereiches absehen, so daß sie auch über das etwan noch Hinzukommende beruhigt seyn können. Die Wissenschaften, da sie Systeme von Begriffen sind, reden stets von Gattungen; die Geschichte von Individuen. Sie wäre demnach eine Wissenschaft von Individuen; welches einen Widerspruch besagt. Auch folgt aus Ersterem, daß die Wissenschaften sämmtlich von Dem reden, was immer ist; die Geschichte hingegen von Dem, was nur ein Mal und dann nicht mehr ist. Da ferner die Geschichte es mit dem schlechthin Einzelnen und Individuellen zu thun hat, welches, seiner Natur nach, unerschöpflich ist; so weiß sie Alles nur unvollkommen und halb. Dabei muß sie zugleich noch von jedem neuen Tage, in seiner Alltäglichkeit, sich Das lehren lassen, was sie noch gar nicht wußte. – Wollte man hiegegen einwenden, daß auch in der Geschichte Unterordnung des Besondern unter das Allgemeine Statt finde, indem die Zeitperioden, die Regierungen und sonstige Haupt- und Staatsveränderungen, kurz, Alles was auf den Geschichtstabellen Platz findet, das Allgemeine seien, dem das Specielle sich unterordnet; so würde dies auf einer falschen Fassung des Begriffes vom Allgemeinen beruhen. Denn das hier angeführte Allgemeine in der Geschichte ist bloß ein subjektives, d. h. ein solches, dessen Allgemeinheit allein aus der Unzulänglichkeit der individuellen Kenntniß von den Dingen entspringt, nicht aber ein objektives, d. h. ein Begriff, in welchem die Dinge wirklich schon mitgedacht wären. Selbst das Allgemeinste in der Geschichte ist an sich selbst doch nur ein Einzelnes und Individuelles, nämlich ein langer Zeitabschnitt, oder eine Hauptbegebenheit: zu diesem verhält sich daher das Besondere, wie der Theil zum Ganzen, nicht aber wie der Fall zur Regel; wie dies hingegen in allen eigentlichen Wissenschaften Statt hat, weil sie Begriffe, nicht bloße Thatsachen überliefern. Daher eben kann man in diesen durch richtige Kenntniß des Allgemeinen das vorkommende Besondere sicher bestimmen. Kenne ich z. B. die Gesetze des Triangels überhaupt; so kann ich danach auch angeben, was dem mir vorgelegten Triangel zukommen muß: und was von allen Säugethieren gilt, z. B. daß sie doppelte Herzkammern, gerade sieben Halswirbel, Lunge, Zwergfell, Urinblase, fünf Sinne u. s. w. haben, das kann ich auch von der soeben gefangenen fremden Fledermaus, vor ihrer Sektion, aussägen. Aber nicht so in der Geschichte, als wo das Allgemeine kein objektives der Begriffe, sondern bloß ein subjektives meiner Kenntniß ist, welche nur insofern, als sie oberflächlich ist, allgemein genannt werden kann: daher mag ich immerhin vom dreißigjährigen Kriege im Allgemeinen wissen, daß er ein im 17. Jahrhundert geführter Religionskrieg gewesen; aber diese allgemeine Kenntniß befähigt mich nicht, irgend etwas Näheres über seinen Verlauf anzugeben. – Der selbe Gegensatz bewährt sich auch darin, daß in den wirklichen Wissenschaften das Besondere und Einzelne das Gewisseste ist, da es auf unmittelbarer Wahrnehmung beruht: hingegen sind die allgemeinen Wahrheiten erst aus ihm abstrahirt; daher in diesen eher etwas irrig angenommen seyn kann. In der Geschichte aber ist umgekehrt das Allgemeinste das Gewisseste, z. B. die Zeitperioden, die Succession der Könige, die Revolutionen, Kriege und Friedensschlüsse: hingegen das Besondere der Begebenheiten und ihres Zusammenhangs ist ungewisser, und wird es immer mehr, je weiter man ins Einzelne geräth. Daher ist die Geschichte zwar um so interessanter, je specieller sie ist, aber auch um so unzuverlässiger, und nähert sich alsdann in jeder Hinsicht dem Romane. – Was es übrigens mit dem gerühmten Pragmatismus der Geschichte auf sich habe, wird Der am besten ermessen können, welcher sich erinnert, daß er bisweilen die Begebenheiten seines eigenen Lebens, ihrem wahren Zusammenhange nach, erst zwanzig Jahre hinterher verstanden hat, obwohl die Data dazu ihm vollständig vorlagen: so schwierig ist die Kombination des Wirkens der Motive, unter den beständigen Eingriffen des Zufalls und dem Verhehlen der Absichten. – Sofern nun die Geschichte eigentlich immer nur das Einzelne, die individuelle Thatsache, zum Gegenstande hat und dieses als das ausschließlich Reale ansieht, ist sie das gerade Gegentheil und Widerspiel der Philosophie, als welche die Dinge vom allgemeinen Gesichtspunkt aus betrachtet und ausdrücklich das Allgemeine zum Gegenstande hat, welches in allem Einzelnen identisch bleibt; daher sie in diesem stets nur Jenes sieht und den Wechsel an der Erscheinung desselben als unwesentlich erkennt: φιλοχαϑολου γαϱ ὁ φιλοσοφος ( generalium amator philosophus). Während die Geschichte uns lehrt, daß zu jeder Zeit etwas Anderes gewesen, ist die Philosophie bemüht, uns zu der Einsicht zu verhelfen, daß zu allen Zeiten ganz das Selbe war, ist und seyn wird. In Wahrheit ist das Wesen des Menschenlebens, wie der Natur überall, in jeder Gegenwart ganz vorhanden, und bedarf daher, um erschöpfend erkannt zu werden, nur der Tiefe der Auffassung. Die Geschichte aber hofft die Tiefe durch die Länge und Breite zu ersetzen: ihr ist jede Gegenwart nur ein Bruchstück, welches ergänzt werden muß durch die Vergangenheit, deren Länge aber unendlich ist und an die sich wieder eine unendliche Zukunft schließt. Hierauf beruht das Widerspiel zwischen den philosophischen und den historischen Köpfen: jene wollen ergründen; diese wollen zu Ende zählen. Die Geschichte zeigt auf jeder Seite nur das Selbe, unter verschiedenen Formen: wer aber solches nicht in einer oder wenigen erkennt, wird auch durch das Durchlaufen aller Formen schwerlich zur Erkenntniß davon gelangen. Die Kapitel der Völkergeschichte sind im Grunde nur durch die Namen und Jahreszahlen verschieden: der eigentlich wesentliche Inhalt ist überall der selbe.

Sofern nun also der Stoff der Kunst die Idee, der Stoff der Wissenschaft der Begriff ist, sehen wir Beide mit Dem beschäftigt, was immer da ist und stets auf gleiche Weise, nicht aber jetzt ist und jetzt nicht, jetzt so und jetzt anders: daher eben haben Beide es mit Dem zu thun, was Plato ausschließlich als den Gegenstand wirklichen Wissens aufstellt. Der Stoff der Geschichte hingegen ist das Einzelne in seiner Einzelheit und Zufälligkeit, was Ein Mal ist und dann auf immer nicht mehr ist, die vorübergehenden Verflechtungen einer wie Wolken im Winde beweglichen Menschenwelt, welche oft durch den geringfügigsten Zufall ganz umgestaltet werden. Von diesem Standpunkt aus erscheint uns der Stoff der Geschichte kaum noch als ein der ernsten und mühsamen Betrachtung des Menschengeistes würdiger Gegenstand, des Menschengeistes, der, gerade weil er so vergänglich ist, das Unvergängliche zu seiner Betrachtung wählen sollte.

Was endlich das, besonders durch die überall so geistesverderbliche und verdummende Hegelsche Afterphilosophie aufgekommene Bestreben, die Weltgeschichte als ein planmäßiges Ganzes zu fassen, oder, wie sie es nennen, »sie organisch zu konstruiren«, betrifft; so liegt demselben eigentlich ein roher und platter Realismus zum Grunde, der die Erscheinung für das Wesen an sich der Welt hält und vermeint, auf sie, auf ihre Gestalten und Vorgänge käme es an; wobei er noch im Stillen von gewissen mythologischen Grundansichten unterstützt wird, die er stillschweigend voraussetzt: sonst ließe sich fragen, für welchen Zuschauer denn eine dergleichen Komödie eigentlich aufgeführt würde? – Denn, da nur das Individuum, nicht aber das Menschengeschlecht wirkliche, unmittelbare Einheit des Bewußtseyns hat; so ist die Einheit des Lebenslaufes dieses eine bloße Fiktion. Zudem, wie in der Natur nur die Species real, die genera bloße Abstraktionen sind, so sind im Menschengeschlecht nur die Individuen und ihr Lebenslauf real, die Völker und ihr Leben bloße Abstraktionen. Endlich laufen die Konstruktionsgeschichten, von plattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen, nahrhaften, fetten Staat, mit wohlgeregelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik und Industrie und höchstens auf intellektuelle Vervollkommnung hinaus; weil diese in der That die allein mögliche ist, da das Moralische im Wesentlichen unverändert bleibt. Das Moralische aber ist es, worauf, nach dem Zeugniß unsers innersten Bewußtseyns, Alles ankommt: und dieses liegt allein im Individuo, als die Richtung seines Willens. In Wahrheit hat nur der Lebenslauf jedes Einzelnen Einheit, Zusammenhang und wahre Bedeutsamkeit: er ist als eine Belehrung anzusehen, und der Sinn derselben ist ein moralischer. Nur die innern Vorgänge, sofern sie den Willen betreffen, haben wahre Realität und sind wirkliche Begebenheiten; weil der Wille allein das Ding an sich ist. In jedem Mikrokosmos liegt der ganze Makrokosmos, und dieser enthält nichts mehr als jener. Die Vielheit ist Erscheinung, und die äußern Vorgänge sind bloße Konfigurationen der Erscheinungswelt, haben daher unmittelbar weder Realität noch Bedeutung, sondern erst mittelbar, durch ihre Beziehung auf den Willen der Einzelnen. Das Bestreben sie unmittelbar deuten und auslegen zu wollen, gleicht sonach dem, in den Gebilden der Wolken Gruppen von Menschen und Thieren zu sehen. – Was die Geschichte erzählt, ist in der That nur der lange, schwere und verworrene Traum der Menschheit.

Die Hegelianer, welche die Philosophie der Geschichte sogar als den Hauptzweck aller Philosophie ansehen, sind auf Plato zu verweisen, der unermüdlich wiederholt, daß der Gegenstand der Philosophie das Unveränderliche und immerdar Bleibende sei, nicht aber Das, was bald so, bald anders ist. Alle Die, welche solche Konstruktionen des Weltverlaufs, oder, wie sie es nennen, der Geschichte, aufstellen, haben die Hauptwahrheit aller Philosophie nicht begriffen, daß nämlich zu aller Zeit das Selbe ist, alles Werden und Entstehen nur scheinbar, die Ideen allein bleibend, die Zeit ideal. Dies will der Plato, Dies will der Kant. Man soll demnach zu verstehen suchen, was da ist, wirklich ist, heute und immerdar, – d. h. die Ideen (in Plato's Sinn) erkennen. Die Thoren hingegen meynen, es solle erst etwas werden und kommen. Daher räumen sie der Geschichte eine Hauptstelle in ihrer Philosophie ein und konstruiren dieselbe nach einem vorausgesetzten Weltplane, welchem gemäß Alles zum Besten gelenkt wird, welches dann finaliter eintreten soll und eine große Herrlichkeit seyn wird. Demnach nehmen sie die Welt als vollkommen real und setzen den Zweck derselben in das armsälige Erdenglück, welches, selbst wenn noch so sehr von Menschen gepflegt und vom Schicksal begünstigt, doch ein hohles, täuschendes, hinfälliges und trauriges Ding ist, aus welchem weder Konstitutionen und Gesetzgebungen, noch Dampfmaschinen und Telegraphen jemals etwas wesentlich Besseres machen können. Besagte Geschichts-Philosophen und -Verherrlicher sind demnach einfältige Realisten, dazu Optimisten und Eudämonisten, mithin platte Gesellen und eingefleischte Philister, zudem auch eigentlich schlechte Christen; da der wahre Geist und Kern des Christenthums, eben so wie des Brahmanismus und Buddhaismus, die Erkenntniß der Nichtigkeit des Erdenglücks, die völlige Verachtung desselben und Hinwendung zu einem ganz anderartigen, ja, entgegengesetzten Daseyn ist: Dies, sage ich, ist der Geist und Zweck des Christenthums, der wahre »Humor der Sache«; nicht aber ist es, wie sie meynen, der Monotheismus; daher eben der atheistische Buddhaismus dem Christenthum viel näher verwandt ist, als das optimistische Judenthum und seine Varietät, der Islam.

Eine wirkliche Philosophie der Geschichte soll also nicht, wie Jene alle thun, Das betrachten, was (in Plato's Sprache zu reden) immer wird und nie ist, und Dieses für das eigentliche Wesen der Dinge halten; sondern sie soll Das, was immer ist und nie wird, noch vergeht, im Auge behalten. Sie besteht also nicht darin, daß man die zeitlichen Zwecke der Menschen zu ewigen und absoluten erhebt, und nun ihren Fortschritt dazu, durch alle Verwickelungen, künstlich und imaginär konstruirt; sondern in der Einsicht, daß die Geschichte nicht nur in der Ausführung, sondern schon in ihrem Wesen lügenhaft ist, indem sie, von lauter Individuen und einzelnen Vorgängen redend, vorgiebt, alle Mal etwas Anderes zu erzählen; während sie, vom Anfang bis zum Ende, stets nur das Selbe wiederholt, unter andern Namen und in anderm Gewande. Die wahre Philosophie der Geschichte besteht nämlich in der Einsicht, daß man, bei allen diesen endlosen Veränderungen und ihrem Wirrwarr, doch stets nur das selbe, gleiche und unwandelbare Wesen vor sich hat, welches heute das Selbe treibt, wie gestern und immerdar: sie soll also das Identische in allen Vorgängen, der alten wie der neuen Zeit, des Orients wie des Occidents, erkennen, und, trotz aller Verschiedenheit der speciellen Umstände, der Kostümes und der Sitten, überall die selbe Menschheit erblicken. Dies Identische und unter allem Wechsel Beharrende besteht in den Grundeigenschaften des menschlichen Herzens und Kopfes, – vielen schlechten, wenigen guten. Die Devise der Geschichte überhaupt müßte lauten: Eadem, sed aliter. Hat Einer den Herodot gelesen, so hat er, in philosophischer Absicht, schon genug Geschichte studirt. Denn da steht schon Alles, was die folgende Weltgeschichte ausmacht: das Treiben, Thun, Leiden und Schicksal des Menschengeschlechts, wie es aus den besagten Eigenschaften und dem physischen Erdenloose hervorgeht. –

Wenn wir im Bisherigen erkannt haben, daß die Geschichte, als Mittel zur Erkenntniß des Wesens der Menschheit betrachtet, der Dichtkunst nachsteht; sodann, daß sie nicht im eigentlichen Sinne eine Wissenschaft ist; endlich, daß das Bestreben, sie als ein Ganzes mit Anfang, Mittel und Ende, nebst sinnvollem Zusammenhang, zu konstruiren, ein eitles, auf Mißverstand beruhendes ist; so würde es scheinen, als wollten wir ihr allen Werth absprechen, wenn wir nicht nachwiesen, worin der ihrige besteht. Wirklich aber bleibt ihr, nach dieser Besiegung von der Kunst und Abweisung von der Wissenschaft, ein von beiden verschiedenes, ganz eigenthümliches Gebiet, auf welchem sie höchst ehrenvoll dasteht.

Was die Vernunft dem Individuo, das ist die Geschichte dem menschlichen Geschlechte. Vermöge der Vernunft nämlich ist der Mensch nicht, wie das Thier, auf die enge, anschauliche Gegenwart beschränkt; sondern erkennt auch die ungleich ausgedehntere Vergangenheit, mit der sie verknüpft und aus der sie hervorgegangen ist: hiedurch aber erst hat er ein eigentliches Verständnis der Gegenwart selbst, und kann sogar auf die Zukunft Schlüsse machen. Hingegen das Thier, dessen reflexionslose Erkenntniß auf die Anschauung und deshalb auf die Gegenwart beschränkt ist, wandelt, auch wenn gezähmt, unkundig, dumpf, einfältig, hülflos und abhängig zwischen den Menschen umher. – Dem nun analog ist ein Volk, das seine eigene Geschichte nicht kennt, auf die Gegenwart der jetzt lebenden Generation beschränkt: daher versteht es sich selbst und seine eigene Gegenwart nicht; weil es sie nicht auf eine Vergangenheit zu beziehen und aus dieser zu erklären vermag; noch weniger kann es die Zukunft anticipiren. Erst durch die Geschichte wird ein Volk sich seiner selbst vollständig bewußt. Demnach ist die Geschichte als das vernünftige Selbstbewußtseyn des menschlichen Geschlechts anzusehen, und ist diesem Das, was dem Einzelnen das durch die Vernunft bedingte, besonnene und zusammenhängende Bewußtseyn ist, durch dessen Ermangelung das Thier in der engen anschaulichen Gegenwart befangen bleibt. Daher ist jede Lücke in der Geschichte wie eine Lücke im erinnernden Selbstbewußtseyn eines Menschen; und vor einem Denkmal des Uralterthums, welches seine eigene Kunde überlebt hat, wie z. B. die Pyramiden, Tempel und Paläste in Yukatan, stehen wir so besinnungslos und einfältig, wie das Thier vor der menschlichen Handlung, in die es dienend verflochten ist, oder wie ein Mensch vor seiner eigenen alten Zifferschrift, deren Schlüssel er vergessen hat, ja, wie ein Nachtwandler, der was er im Schlafe gemacht hat, am Morgen vorfindet. In diesem Sinne also ist die Geschichte anzusehen als die Vernunft, oder das besonnene Bewußtseyn des menschlichen Geschlechts, und vertritt die Stelle eines dem ganzen Geschlechte unmittelbar gemeinsamen Selbstbewußtseyns, so daß erst vermöge ihrer dasselbe wirklich zu einem Ganzen, zu einer Menschheit, wird. Dies ist der wahre Werth der Geschichte; und dem gemäß beruht das so allgemeine und überwiegende Interesse an ihr hauptsächlich darauf, daß sie eine persönliche Angelegenheit des Menschengeschlechts ist. – Was nun für die Vernunft der Individuen, als unumgängliche Bedingung des Gebrauchs derselben, die Sprache ist, das ist für die hier nachgewiesene Vernunft des ganzen Geschlechts die Schrift: denn erst mit dieser fängt ihre wirkliche Existenz an; wie die der individuellen Vernunft erst mit der Sprache. Die Schrift nämlich dient, das durch den Tod unaufhörlich unterbrochene und demnach zerstückelte Bewußtseyn des Menschengeschlechts wieder zur Einheit herzustellen; so daß der Gedanke, welcher im Ahnherrn aufgestiegen, vom Urenkel zu Ende gedacht wird: dem Zerfallen des menschlichen Geschlechts und seines Bewußtseyns in eine Unzahl ephemerer Individuen hilft sie ab, und bietet so der unaufhaltsam eilenden Zeit, an deren Hand die Vergessenheit geht, Trotz. Als ein Versuch, dieses zu leisten, sind, wie die geschriebenen, so auch die steinernen Denkmale zu betrachten, welche zum Theil älter sind, als jene. Denn wer wird glauben, daß Diejenigen, welche, mit unermeßlichen Kosten, die Menschenkräfte vieler Tausende, viele Jahre hindurch, in Bewegung setzten, um Pyramiden, Monolithen, Felsengräber, Obelisken, Tempel und Paläste aufzuführen, die schon Jahrtausende dastehen, dabei nur sich selbst, die kurze Spanne ihres Lebens, welche nicht ausreichte das Ende des Baues zu sehen, oder auch den ostensibeln Zweck, welchen vorzuschützen die Rohheit der Menge heischte, im Auge gehabt haben sollten? – Offenbar war ihr wirklicher Zweck, zu den spätesten Nachkommen zu reden, in Beziehung zu diesen zu treten und so das Bewußtseyn der Menschheit zur Einheit herzustellen. Die Bauten der Hindu, Aegypter, selbst Griechen und Römer, waren auf mehrere Jahrtausende berechnet, weil deren Gesichtskreis, durch höhere Bildung, ein weiterer war; während die Bauten des Mittelalters und neuerer Zeit höchstens einige Jahrhunderte vor Augen gehabt haben; welches jedoch auch daran liegt, daß man sich mehr auf die Schrift verließ, nachdem ihr Gebrauch allgemeiner geworden, und noch mehr, seitdem aus ihrem Schooß die Buchdruckerkunst geboren worden. Doch sieht man auch den Gebäuden der spätern Zeit den Drang an, zur Nachkommenschaft zu reden: daher ist es schändlich, wenn man sie zerstört, oder sie verunstaltet, um sie niedrigen, nützlichen Zwecken dienen zu lassen. Die geschriebenen Denkmale haben weniger von den Elementen, aber mehr von der Barbarei zu fürchten, als die steinernen: sie leisten viel mehr. Die Aegypter wollten, indem sie letztere mit Hieroglyphen bedeckten, beide Arten vereinigen; ja, sie fügten Malereien hinzu, auf den Fall, daß die Hieroglyphen nicht mehr verstanden werden sollten.

 


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