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Kapitel 19.
Vom Primat des Willens im Selbstbewußtseyn.

Dieses Kapitel steht in Beziehung zu §. 19 des ersten Bandes.

Der Wille, als das Ding an sich, macht das innere, wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus: an sich selbst ist er jedoch bewußtlos. Denn das Bewußtseyn ist bedingt durch den Intellekt, und dieser ist ein bloßes Accidenz unsers Wesens: denn er ist eine Funktion des Gehirns, welches, nebst den ihm anhängenden Nerven und Rückenmark, eine bloße Frucht, ein Produkt, ja, in sofern ein Parasit des übrigen Organismus ist, als es nicht direkt eingreift in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt regulirt. Der Organismus selbst hingegen ist die Sichtbarkeit, Objektität, des individuellen Willens, das Bild desselben, wie es sich darstellt in eben jenem Gehirn (welches wir im ersten Buch, als die Bedingung der objektiven Welt überhaupt, kennen gelernt haben), daher eben auch vermittelt durch dessen Erkenntnißformen, Raum, Zeit und Kausalität, folglich sich darstellend als ein Ausgedehntes, successiv Agirendes und Materielles, d. h. Wirkendes. Sowohl direkt empfunden als mittelst der Sinne angeschaut werden die Glieder nur im Gehirn. – Diesem zufolge kann man sagen: der Intellekt ist das sekundäre Phänomen, der Organismus das primäre, nämlich die unmittelbare Erscheinung des Willens; – der Wille ist metaphysisch, der Intellekt physisch; – der Intellekt ist, wie seine Objekte, bloße Erscheinung; Ding an sich ist allein der Wille: – sodann in einem mehr und mehr bildlichen Sinne, mithin gleichnißweise: der Wille ist die Substanz des Menschen, der Intellekt das Accidenz: – der Wille ist die Materie, der Intellekt die Form: – der Wille ist die Wärme, der Intellekt das Licht.

Diese Thesis wollen wir nun zunächst durch folgende, dem innern Leben des Menschen angehörende Thatsachen dokumentiren und zugleich erläutern; bei welcher Gelegenheit für die Kenntniß des innern Menschen vielleicht mehr abfallen wird, als in vielen systematischen Psychologien zu finden ist.

1) Nicht nur das Bewußtseyn von anderen Dingen, d. i. die Wahrnehmung der Außenwelt, sondern auch das Selbstbewußtseyn enthält, wie schon oben erwähnt, ein Erkennendes und ein Erkanntes: sonst wäre es kein Bewußtseyn. Denn Bewußtseyn besteht im Erkennen: aber dazu gehört ein Erkennendes und ein Erkanntes; daher auch das Selbstbewußtseyn nicht Statt haben könnte, wenn nicht auch in ihm dem Erkennenden gegenüber ein davon Verschiedenes Erkanntes wäre. Wie nämlich kein Objekt ohne Subjekt seyn kann, so auch kein Subjekt ohne Objekt, d. h. kein Erkennendes ohne ein von ihm Verschiedenes, welches erkannt wird. Daher ist ein Bewußtseyn, welches durch und durch reine Intelligenz wäre, unmöglich. Die Intelligenz gleicht der Sonne, welche den Raum nicht erleuchtet, wenn nicht ein Gegenstand da ist, von dem ihre Strahlen zurückgeworfen werden. Das Erkennende selbst kann, eben als solches, nicht erkannt werden: sonst wäre es das Erkannte eines andern Erkennenden. Als das Erkannte im Selbstbewußtseyn finden wir nun aber ausschließlich den Willen. Denn nicht nur das Wollen und Beschließen im engsten Sinne, sondern auch alles Streben, Wünschen, Fliehen, Hoffen, Fürchten, Lieben, Hassen, kurz Alles, was das eigene Wohl und Wehe, Lust und Unlust, unmittelbar ausmacht, ist offenbar nur Affektion des Willens, ist Regung, Modifikation des Wollens und Nichtwollens, ist eben Das, was, wenn es nach außen wirkt, sich als eigentlicher Willensakt darstellt Merkwürdig ist es, daß schon Augustinus dieses erkannt hat. Nämlich im vierzehnten Buche De civ. Dei, c. 6, redet er von den affectionibus animi, welche er, im vorhergehenden Buche, unter vier Kategorien, cupiditas, timor, laetitia, tristitia, gebracht hat, und sagt: voluntas est quippe in omnibus, imo omnes nihil aliud, quam voluntates sunt: num quid est cupiditas et laetitia, nisi voluntas in eorum consensionem, quae volumus? et quid est metus atque tristitia, nisi voluntas in dissensionem ab his, quae nolumus? cet.. Nun aber ist in aller Erkenntniß das Erkannte das Erste und Wesentliche, nicht das Erkennende; sofern Jenes der πϱωτοτυπος dieses der εχτυπος ist. Daher muß auch im Selbstbewußtseyn das Erkannte, mithin der Wille, das Erste und Ursprüngliche seyn; das Erkennende hingegen nur das Sekundäre, das Hinzugekommene, der Spiegel. Sie verhalten sich ungefähr wie der selbstleuchtende Körper zum reflektierenden; oder auch wie die vibrirende Saite zum Resonanzboden, wo dann der also entstehende Ton das Bewußtseyn wäre. – Als ein solches Sinnbild des Bewußtseyns können wir auch die Pflanze betrachten. Diese hat bekanntlich zwei Pole, Wurzel und Krone: jene ins Finstere, Feuchte, Kalte, diese ins Helle, Trockene, Warme strebend, sodann, als den Indifferenzpunkt beider Pole, da wo sie auseinandertreten, hart am Boden, den Wurzelstock ( rhizoma, le collet). Die Wurzel ist das Wesentliche, Ursprüngliche, Perennirende, dessen Absterben das der Krone nach sich zieht, ist also das Primäre; die Krone hingegen ist das Ostensible, aber Entsprossene und, ohne daß die Wurzel stirbt, Vergehende, also das Sekundäre. Die Wurzel stellt den Willen, die Krone den Intellekt vor, und der Indifferenzpunkt Beider, der Wurzelstock, wäre das Ich, welches, als gemeinschaftlicher Endpunkt, Beiden angehört. Dieses Ich ist das pro tempore identische Subjekt des Erkennens und Wollens, dessen Identität ich schon in meiner allerersten Abhandlung (Ueber den Satz vom Grunde) und in meinem ersten philosophischen Erstaunen, das Wunder χατ' εξοχην genannt habe. Es ist der zeitliche Anfangs- und Anknüpfungspunkt der gesammten Erscheinung, d. h. der Objektivation des Willens: es bedingt zwar die Erscheinung, aber ist auch durch sie bedingt. – Das hier aufgestellte Gleichniß läßt sich sogar bis auf die individuelle Beschaffenheit der Menschen durchführen. Wie nämlich eine große Krone nur einer großen Wurzel zu entsprießen pflegt; so finden die größten intellektuellen Fähigkeiten sich nur bei heftigem, leidenschaftlichem Willen. Ein Genie von phlegmatischem Charakter und schwachen Leidenschaften würde den Saftpflanzen, die bei ansehnlicher, aus dicken Blättern bestehender Krone, sehr kleine Wurzeln haben, gleichen; wird jedoch nicht gefunden werden. Daß Heftigkeit des Willens und Leidenschaftlichkeit des Charakters eine Bedingung der erhöhten Intelligenz ist, stellt sich physiologisch dadurch dar, daß die Thätigkeit des Gehirns bedingt ist durch die Bewegung, welche die großen, nach der basis cerebri laufenden Arterien ihm mit jedem Pulsschlage mittheilen; daher ein energischer Herzschlag, ja sogar, nach Bichat, ein kurzer Hals, ein Erforderniß großer Gehirnthätigkeit ist. Wohl aber findet sich das Gegentheil des Obigen: heftige Begierden, leidenschaftlicher, ungestümer Charakter, bei schwachem Intellekt, d. h. bei kleinem und übel konformirtem Gehirn, in dicker Schaale; eine so häufige, als widrige Erscheinung: man könnte sie allenfalls den Runkelrüben vergleichen.

2) Um nun aber das Bewußtseyn nicht bloß bildlich zu beschreiben, sondern gründlich zu erkennen, haben wir zuvörderst aufzusuchen, was in jedem Bewußtseyn sich auf gleiche Weise vorfindet und daher, als das Gemeinsame und Konstante, auch das Wesentliche seyn wird. Sodann werden wir betrachten, was ein Bewußtseyn von dem andern unterscheidet, welches demnach das Hinzugekommene und Sekundäre seyn wird.

Das Bewußtseyn ist uns schlechterdings nur als Eigenschaft animalischer Wesen bekannt: folglich dürfen, ja können wir es nicht anders, denn als animalisches Bewußtseyn denken; so daß dieser Ausdruck schon tautologisch ist. – Was nun also in jedem thierischen Bewußtseyn, auch dem unvollkommensten und schwächsten, sich stets vorfindet, ja ihm zum Grunde liegt, ist das unmittelbare Innewerden eines Verlangens und der wechselnden Befriedigung und Nichtbefriedigung desselben, in sehr verschiedenen Graden. Dies wissen wir gewissermaaßen a priori. Denn so wundersam verschieden auch die zahllosen Arten der Thiere seyn mögen, so fremd uns auch eine neue, noch nie gesehene Gestalt derselben entgegentritt; so nehmen wir doch vorweg das Innerste ihres Wesens, mit Sicherheit, als wohlbekannt, ja uns völlig vertraut an. Wir wissen nämlich, daß das Thier will, sogar auch was es will, nämlich Daseyn, Wohlseyn, Leben und Fortpflanzung: und indem wir hierin Identität mit uns völlig sicher voraussetzen, nehmen wir keinen Anstand, alle Willensaffektionen, die wir an uns selbst kennen, auch ihm unverändert beizulegen, und sprechen, ohne Zaudern, von seiner Begierde, Abscheu, Furcht, Zorn, Haß, Liebe, Freude, Trauer, Sehnsucht u. s. f. Sobald hingegen Phänomene der bloßen Erkenntniß zur Sprache kommen, gerathen wir in Ungewißheit. Daß das Thier begreife, denke, urtheile, wisse, wagen wir nicht zu sagen: nur Vorstellungen überhaupt legen wir ihm sicher bei; weil ohne solche sein Wille nicht in jene obigen Bewegungen gerathen könnte. Aber hinsichtlich der bestimmten Erkenntnißweise der Thiere und der genauen Gränzen derselben in einer gegebenen Species, haben wir nur unbestimmte Begriffe und machen Konjekturen; daher auch unsere Verständigung mit ihnen oft schwierig ist und nur in Folge von Erfahrung und Uebung künstlich zu Stande kommt. Hier also liegen Unterschiede des Bewußtseyns. Hingegen ein Verlangen, Begehren, Wollen, oder Verabscheuen, Fliehen, Nichtwollen, ist jedem Bewußtseyn eigen: der Mensch hat es mit dem Polypen gemein. Dieses ist demnach das Wesentliche und die Basis jedes Bewußtseyns. Die Verschiedenheit der Aeußerungen desselben, in den verschiedenen Geschlechtern thierischer Wesen, beruht auf der verschiedenen Ausdehnung ihrer Erkenntnißsphären, als worin die Motive jener Aeußerungen liegen. Alle Handlungen und Gebehrden der Thiere, welche Bewegungen des Willens ausdrücken, verstehen wir unmittelbar aus unserm eigenen Wesen; daher wir, so weit, auf mannigfaltige Weise mit ihnen sympathisiren. Hingegen die Kluft zwischen uns und ihnen entsteht einzig und allein durch die Verschiedenheit des Intellekts. Eine vielleicht nicht viel geringere, als zwischen einem sehr klugen Thiere und einem sehr beschränkten Menschen ist, liegt zwischen einem Dummkopf und einem Genie; daher auch hier die andererseits aus der Gleichheit der Neigungen und Affekte entspringende und Beide wieder assimilirende Aehnlichkeit zwischen ihnen bisweilen überraschend hervortritt und Erstaunen erregt. – Diese Betrachtung macht deutlich, daß der Wille in allen thierischen Wesen das Primäre und Substantielle ist, der Intellekt hingegen ein Sekundäres, Hinzugekommenes, ja, ein bloßes Werkzeug zum Dienste des Ersteren, welches, nach den Erfordernissen dieses Dienstes, mehr oder weniger vollkommen und komplicirt ist. Wie, den Zwecken des Willens einer Thiergattung gemäß, sie mit Huf, Klaue, Hand, Flügeln, Geweih oder Gebiß versehen austritt, so auch mit einem mehr oder weniger entwickelten Gehirn, dessen Funktion die zu ihrem Bestand erforderliche Intelligenz ist. Je komplicirter nämlich, in der aufsteigenden Reihe der Thiere, die Organisation wird, desto vielfacher werden auch ihre Bedürfnisse, und desto mannigfaltiger und specieller bestimmt die Objekte, welche zur Befriedigung derselben taugen, desto verschlungener und entfernter mithin die Wege, zu diesen zu gelangen, welche jetzt alle erkannt und gefunden werden müssen: in demselben Maaße müssen daher auch die Vorstellungen des Thieres vielseitiger, genauer, bestimmter und zusammenhängender, wie auch seine Aufmerksamkeit gespannter, anhaltender und erregbarer werden, folglich sein Intellekt entwickelter und vollkommener seyn. Demgemäß sehen wir das Organ der Intelligenz, also das Cerebralsystem, sammt den Sinneswerkzeugen, mit der Steigerung der Bedürfnisse und der Komplikation des Organismus gleichen Schritt halten, und die Zunahme des vorstellenden Theiles des Bewußtseyns (im Gegensatz des wollenden) sich körperlich darstellen im immer größer werdenden Verhältniß des Gehirns überhaupt zum übrigen Nervensystem, und sodann des großen Gehirns zum kleinen; da (nach Flourens) Ersteres die Werkstätte der Vorstellungen, Letzteres der Lenker und Ordner der Bewegungen ist. Der letzte Schritt, den die Natur in dieser Hinsicht gethan hat, ist nun aber unverhältnißmäßig groß. Denn im Menschen erreicht nicht nur die bis hieher allein vorhandene anschauende Vorstellungskraft den höchsten Grad der Vollkommenheit; sondern die abstrakte Vorstellung, das Denken, d.i. die Vernunft, und mit ihr die Besonnenheit, kommt hinzu. Durch diese bedeutende Steigerung des Intellekts, also des sekundären Theiles des Bewußtseyns, erhält derselbe über den primären jetzt in sofern ein Uebergewicht, als er fortan der vorwaltend thätige wird. Während nämlich beim Thiere das unmittelbare Innewerden seines befriedigten oder unbefriedigten Begehrens bei Weitem das Hauptsächliche seines Bewußtseyns ausmacht, und zwar um so mehr, je tiefer das Thier steht, so daß die untersten Thiere nur durch die Zugabe einer dumpfen Vorstellung sich von den Pflanzen unterscheiden; so tritt beim Menschen das Gegentheil ein. So heftig, selbst heftiger als die irgend eines Thieres, seine Belehrungen, als welche zu Leidenschaften anwachsen, auch sind; so bleibt dennoch sein Bewußtseyn fortwährend und vorwaltend mit Vorstellungen und Gedanken beschäftigt und erfüllt. Ohne Zweifel hat hauptsächlich dieses den Anlaß gegeben zu jenem Grundirrthum aller Philosophen, vermöge dessen sie als das Wesentliche und Primäre der sogenannten Seele, d. h. des innern oder geistigen Lebens des Menschen, das Denken setzen, es allemal voranstellend, das Wollen aber, als ein bloßes Ergebniß desselben, erst sekundär hinzukommen und nachfolgen lassen. Wenn aber das Wollen bloß aus dem Erkennen hervorginge; wie könnten denn die Thiere, sogar die unteren, bei so äußerst geringer Erkenntniß, einen oft so unbezwinglich heftigen Willen zeigen? Weil demnach jener Grundirrthum der Philosophen gleichsam das Accidenz zur Substanz macht, führt er sie auf Abwege, aus denen nachher kein Herauslenken mehr ist. – Jenes beim Menschen nun also eintretende relative Ueberwiegen des erkennenden Bewußtseyns über das begehrende, mithin des sekundären Theiles über den primären, kann in einzelnen, abnorm begünstigten Individuen so weit gehen, daß, in den Zeitpunkten der höchsten Steigerung, der sekundäre oder erkennende Theil des Bewußtseyns sich vom wollenden ganz ablöst und für sich selbst in freie, d. h. vom Willen nicht angeregte, also ihm nicht mehr dienende Tätigkeit geräth, wodurch er rein objektiv und zum klaren Spiegel der Welt wird, woraus dann die Konceptionen des Genies hervorgehen, welche der Gegenstand unseres dritten Buches sind.

3) Wenn wir die Stufenreihe der Thiere abwärts durchlaufen, sehen wir den Intellekt immer schwächer und unvollkommener werden: aber keineswegs bemerken wir eine entsprechende Degradation des Willens. Vielmehr behält dieser überall sein identisches Wesen und zeigt sich als große Anhänglichkeit am Leben, Sorge für Individuum und Gattung, Egoismus und Rücksichtslosigkeit gegen alle Andern, nebst den hieraus entspringenden Affekten. Selbst im kleinsten Insekt ist der Wille vollkommen und ganz vorhanden: es will was es will, so entschieden und vollkommen wie der Mensch. Der Unterschied liegt bloß in dem was es will, d. h. in den Motiven, welche aber Sache des Intellekts sind. Dieser freilich, als Sekundäres und an körperliche Organe Gebundenes, hat unzählige Grade der Vollkommenheit und ist überhaupt wesentlich beschränkt und unvollkommen. Hingegen der Wille, als Ursprüngliches und Ding an sich, kann nie unvollkommen seyn; sondern jeder Willensakt ist ganz was er seyn kann. Vermöge der Einfachheit, die dem Willen als dem Ding an sich, dem Metaphysischen in der Erscheinung, zukommt, läßt sein Wesen keine Grade zu, sondern ist stets ganz es selbst: bloß seine Erregung hat Grade, von der schwächsten Neigung bis zur Leidenschaft, und eben auch seine Erregbarkeit, also seine Heftigkeit, vom phlegmatischen bis zum cholerischen Temperament. Der Intellekt hingegen hat nicht bloß Grade der Erregung, von der Schläfrigkeit bis zur Laune und Begeisterung, sondern auch Grade seines Wesens selbst, der Vollkommenheit desselben, welche demnach stufenweise steigt, vom niedrigsten, nur dumpf wahrnehmenden Thiere bis zum Menschen, und da wieder vom Dummkopf bis zum Genie. Der Wille allein ist überall ganz er selbst. Denn seine Funktion ist von der größten Einfachheit: sie besteht im Wollen und Nichtwollen, welches mit der größten Leichtigkeit, ohne Anstrengung von Statten geht und keiner Uebung bedarf; während hingegen das Erkennen mannigfaltige Funktionen hat und nie ganz ohne Anstrengung vor sich geht, als welcher es zum Fixiren der Aufmerksamkeit und zum Deutlichmachen des Objekts, weiter auswärts noch gar zum Denken und Ueberlegen, bedarf; daher es auch großer Vervollkommnung durch Uebung und Bildung fähig ist. Hält der Intellekt dem Willen ein einfaches Anschauliches vor; so spricht dieser sofort sein Genehm oder Nichtgenehm darüber aus: und eben so, wenn der Intellekt mühsam gegrübelt und abgewogen hat, um aus zahlreichen Datis, mittelst schwieriger Kombinationen, endlich das Resultat herauszubringen, welches dem Interesse des Willens am meisten gemäß scheint; da hat dieser unterdessen müßig geruht und tritt, nach erlangtem Resultat, herein, wie der Sultan in den Diwan, um wieder nur sein eintöniges Genehm oder Nichtgenehm auszusprechen, welches zwar dem Grade nach verschieden ausfallen kann, dem Wesen nach stets das selbe bleibt.

Diese grundverschiedene Natur des Willens und des Intellekts, die jenem wesentliche Einfachheit und Ursprünglichkeit, im Gegensatz der komplicirten und sekundären Beschaffenheit dieses, wird uns noch deutlicher, wenn wir ihr sonderbares Wechselspiel in unserm Innern beobachten und nun im Einzelnen zusehen, wie die Bilder und Gedanken, welche im Intellekt aufsteigen, den Willen in Bewegung setzen, und wie ganz gesondert und verschieden die Rollen Beider sind. Dies können wir nun zwar schon wahrnehmen bei wirklichen Begebenheiten, die den Willen lebhaft erregen, während sie zunächst und an sich selbst bloß Gegenstände des Intellekts sind. Allein theils ist es hiebei nicht so augenfällig, daß auch diese Wirklichkeit als solche zunächst nur im Intellekt vorhanden ist; theils geht der Wechsel dabei meistens nicht so rasch vor sich, wie es nöthig ist, wenn die Sache leicht übersehbar und dadurch recht faßlich werden soll. Beides ist hingegen der Fall, wenn es bloße Gedanken und Phantasien sind, die wir auf den Willen einwirken lassen. Wenn wir z. B., mit uns selbst allein, unsere persönlichen Angelegenheiten überdenken und nun etwan das Drohende einer wirklich vorhandenen Gefahr und die Möglichkeit eines unglücklichen Ausganges uns lebhaft vergegenwärtigen; so preßt alsbald Angst das Herz zusammen und das Blut stockt in den Adern. Geht dann aber der Intellekt zur Möglichkeit des entgegengesetzten Ausganges über und läßt die Phantasie das lang gehoffte, dadurch erreichte Glück ausmalen: so gerathen alsbald alle Pulse in freudige Bewegung und das Herz fühlt sich federleicht; bis der Intellekt aus seinem Traum erwacht. Darauf nun führe etwan irgend ein Anlaß die Erinnerung an eine längst ein Mal erlittene Beleidigung oder Beeinträchtigung herbei: sogleich durchströmt Zorn und Groll die eben noch ruhige Brust. Dann aber steige, zufällig angeregt, das Bild einer längst verlorenen Geliebten auf, an welches sich der ganze Roman, mit seinen Zauberscenen, knüpft; da wird alsbald jener Zorn der tiefen Sehnsucht und Wehmuth Platz machen. Endlich falle uns noch irgend ein ehemaliger beschämender Vorfall ein: wir schrumpfen zusammen, möchten versinken, die Schaamröthe steigt auf, und wir suchen oft durch irgend eine laute Aeußerung uns gewaltsam davon abzulenken und zu zerstreuen, gleichsam die bösen Geister verscheuchend. – Man sieht, der Intellekt spielt auf und der Wille muß dazu tanzen: ja, jener läßt ihn die Rolle eines Kindes spielen, welches von seiner Wärterin, durch Vorschwätzen und Erzählen abwechselnd erfreulicher und trauriger Dinge, beliebig in die verschiedensten Stimmungen versetzt wird. Dies beruht darauf, daß der Wille an sich erkenntnißlos, der ihm zugesellte Verstand aber willenlos ist. Daher verhält sich jener wie ein Körper, welcher bewegt wird, dieser wie die ihn in Bewegung setzenden Ursachen: denn er ist das Medium der Motive. Bei dem Allen jedoch wird der Primat des Willens wieder deutlich, wenn dieser dem Intellekt, dessen Spiel er, wie gezeigt, sobald er ihn walten läßt, wird, ein Mal seine Oberherrschaft in letzter Instanz fühlbar macht, indem er ihm gewisse Vorstellungen verbietet, gewisse Gedankenreihen gar nicht aufkommen läßt, weil er weiß, d. h. von eben demselben Intellekt erfährt, daß sie ihn in irgend eine der oben dargestellten Bewegungen versetzen würden: er zügelt jetzt den Intellekt und zwingt ihn sich auf andere Dinge zu richten. So schwer dies oft seyn mag, muß es doch gelingen, sobald es dem Willen Ernst damit ist: denn das Widerstreben dabei geht nicht von dem Intellekt aus, als welcher stets gleichgültig bleibt; sondern vom Willen selbst, der zu einer Vorstellung, die er in einer Hinsicht verabscheuet, in anderer Hinsicht eine Neigung hat. Sie ist ihm nämlich an sich interessant, eben weil sie ihn bewegt; aber zugleich sagt ihm die abstrakte Erkenntniß, daß sie ihn zwecklos in quaalvolle, oder unwürdige Erschütterung versetzen wird: dieser letztern Erkenntniß gemäß entscheidet er sich jetzt und zwingt den Intellekt zum Gehorsam. Man nennt dies »Herr über sich seyn«: offenbar ist hier der Herr der Wille, der Diener der Intellekt; da jener in letzter Instanz stets das Regiment behält, mithin den eigentlichen Kern, das Wesen an sich des Menschen ausmacht. In dieser Hinsicht würde der Titel Ήγεμονιχον dem Willen gebühren: jedoch scheint derselbe wiederum dem Intellekt zuzukommen, sofern dieser der Leiter und Führer ist, wie der Lohnbediente, der vor dem Fremden hergeht. In Wahrheit aber ist das treffendeste Gleichniß für das Verhältniß Beider der starke Blinde, der den sehenden Gelähmten auf den Schultern trägt.

Das hier dargelegte Verhältniß des Willens zum Intellekt ist ferner auch darin zu erkennen, daß der Intellekt den Beschlüssen des Willens ursprünglich ganz fremd ist. Er liefert ihm die Motive: aber wie sie gewirkt haben, erfährt er erst hinterher, völlig a posteriori; wie wer ein chemisches Experiment macht, die Reagenzien heranbringt und dann den Erfolg abwartet. Ja, der Intellekt bleibt von den eigentlichen Entscheidungen und geheimen Beschlüssen des eigenen Willens so sehr ausgeschlossen, daß er sie bisweilen, wie die eines fremden, nur durch Belauschen und Ueberraschen erfahren kann, und ihn auf der That seiner Aeußerungen ertappen muß, um nur hinter seine wahren Absichten zu kommen. Z. B. ich habe einen Plan entworfen, dem aber bei mir selbst noch ein Skrupel entgegensteht, und dessen Ausführbarkeit andererseits, ihrer Möglichkeit nach, völlig ungewiß ist, indem sie von äußern, noch unentschiedenen Umständen abhängt; daher es vor der Hand jedenfalls unnöthig wäre, darüber einen Entschluß zu fassen; weshalb ich die Sache für jetzt auf sich beruhen lasse. Da weiß ich nun oft nicht, wie fest ich schon mit jenem Plan im Geheimen verbrüdert bin und wie sehr ich, trotz dem Skrupel, seine Ausführung wünsche: d. h. mein Intellekt weiß es nicht. Aber jetzt komme nur eine der Ausführbarkeit günstige Nachricht: sogleich steigt in meinem Innern eine jubelnde, unaufhaltsame Freudigkeit auf, die sich über mein ganzes Wesen verbreitet und es in dauernden Besitz nimmt, zu meinem eigenen Erstaunen. Denn jetzt erst erfährt mein Intellekt, wie fest bereits mein Wille jenen Plan ergriffen hatte und wie gänzlich dieser ihm gemäß war, während der Intellekt ihn noch für ganz problematisch und jenem Skrupel schwerlich gewachsen gehalten hatte. – Oder, in einem andern Fall, ich bin mit großem Eifer eine gegenseitige Verbindlichkeit eingegangen, die ich meinen Wünschen sehr angemessen glaubte. Wie nun, beim Fortgang der Sache, die Nachtheile und Beschwerden fühlbar werden, werfe ich auf mich den Verdacht, daß ich was ich so eifrig betrieben wohl gar bereue: jedoch reinige ich mich davon, indem ich mir die Versicherung gebe, daß ich, auch ungebunden, auf dem selben Wege fortfahren würde. Jetzt aber löst sich unerwartet die Verbindlichkeit von der andern Seite auf, und mit Erstaunen nehme ich wahr, daß dies zu meiner großen Freude und Erleichterung geschieht. – Oft wissen wir nicht was wir wünschen, oder was wir fürchten. Wir können Jahre lang einen Wunsch hegen, ohne ihn uns einzugestehen, oder auch nur zum klaren Bewußtseyn kommen zu lassen; weil der Intellekt nichts davon erfahren soll; indem die gute Meinung, welche wir von uns selbst haben, dabei zu leiden hätte: wird er aber erfüllt, so erfahren wir an unserer Freude, nicht ohne Beschämung, daß wir Dies gewünscht haben: z. B. den Tod eines nahen Anverwandten, den wir beerben. Und was wir eigentlich fürchten, wissen wir bisweilen nicht; weil uns der Muth fehlt, es uns zum klaren Bewußtseyn zu bringen. – Sogar sind wir oft über das eigentliche Motiv, aus dem wir etwas thun oder unterlassen, ganz im Irrthum, – bis etwan endlich ein Zufall uns das Geheimniß aufdeckt und wir erkennen, daß was wir für das Motiv gehalten, es nicht war, sondern ein anderes, welches wir uns nicht hatten eingestehen wollen, weil es der guten Meinung, die wir von uns selbst hegen, keineswegs entspricht. Z. B. wir unterlassen etwas, aus rein moralischen Gründen, wie wir glauben; erfahren jedoch hinterher, daß bloß die Furcht uns abhielt, indem wir es thun, sobald alle Gefahr beseitigt ist. In einzelnen Fällen kann es hiemit so weit gehen, daß ein Mensch das eigentliche Motiv seiner Handlung nicht ein Mal muthmaaßt, ja, durch ein solches bewogen zu werden sich nicht für fähig hält: dennoch ist es das eigentliche Motiv seiner Handlung. – Beiläufig haben wir an allem Diesen eine Bestätigung und Erläuterung der Regel des Larochefoucauld: l'amour-propre est plus habile que le plus habile homme du monde; ja, sogar einen Kommentar zum Delphischen γνωϑι σαυτον und dessen Schwierigkeit. – Wenn nun hingegen, wie alle Philosophen wähnten, der Intellekt unser eigentliches Wesen ausmachte und die Willensbeschlüsse ein bloßes Ergebniß der Erkenntniß wären; so müßte für unsern moralischen Werth gerade nur das Motiv, aus welchem wir zu handeln wähnen, entscheidend seyn; auf analoge Art, wie die Absicht, nicht der Erfolg, hierin entscheidend ist. Eigentlich aber wäre alsdann der Unterschied zwischen gewähntem und wirklichem Motiv unmöglich. – Alle hier dargestellten Fälle also, dazu jeder Aufmerksame Analoga an sich selbst beobachten kann, lassen uns sehen, wie der Intellekt dem Willen so fremd ist, daß er von diesem bisweilen sogar mystifizirt wird: denn er liefert ihm zwar die Motive, aber in die geheime Werkstätte seiner Beschlüsse dringt er nicht. Er ist zwar ein Vertrauter des Willens, jedoch ein Vertrauter, der nicht Alles erfährt. Eine Bestätigung hievon giebt auch noch die Thatsache, welche fast Jeder an sich zu beobachten ein Mal Gelegenheit haben wird, daß bisweilen der Intellekt dem Willen nicht recht traut. Nämlich wenn wir irgend einen großen und kühnen Entschluß gefaßt haben, – der als solcher doch eigentlich nur ein vom Willen dem Intellekt gegebenes Versprechen ist; – so bleibt oft in unserm Innern ein leiser, nicht eingestandener Zweifel, ob es auch ganz ernstlich damit gemeint sei, ob wir auch bei der Ausführung nicht wanken oder zurückweichen, sondern Festigkeit und Beharrlichkeit genug haben werden, es zu vollbringen. Es bedarf daher der That, um uns selbst von der Aufrichtigkeit des Entschlusses zu überzeugen. –

Alle diese Thatsachen bezeugen die gänzliche Verschiedenheit des Willens vom Intellekt, das Primat des Ersteren und die untergeordnete Stellung des Letzteren.

4) Der Intellekt ermüdet; der Wille ist unermüdlich. – Nach anhaltender Kopfarbeit fühlt man die Ermüdung des Gehirnes, wie die des Armes, nach anhaltender Körperarbeit. Alles Erkennen ist mit Anstrengung verknüpft: Wollen hingegen ist unser selbsteigenes Wesen, dessen Aeußerungen ohne alle Mühe und völlig von selbst vor sich gehen. Daher, wenn unser Wille stark aufgeregt ist, wie in allen Affekten, also im Zorn, Furcht, Begierde, Betrübniß u. s. w., und man fordert uns jetzt zum Erkennen, etwan in der Absicht der Berichtigung der Motive jener Affekte, auf; so bezeugt die Gewalt, die wir uns dazu anthun müssen, den Uebergang aus der ursprünglichen, natürlichen und selbsteigenen, in die abgeleitete, mittelbare und erzwungene Thätigkeit. – Denn der Wille allein ist αυτοματος und daher αχαματος χαι αγηϱατος ἡματα παντα ( lassitudinis et senii expers in sempiternum). Er allein ist unaufgefordert, daher oft zu früh und zu sehr, thätig, und kennt kein Ermüden. Säuglinge, die kaum die erste schwache Spur von Intelligenz zeigen, sind schon voller Eigenwillen: durch unbändiges, zweckloses Toben und Schreien zeigen sie den Willensdrang, von dem sie strotzen, während ihr Wollen noch kein Objekt hat, d. h. sie wollen, ohne zu wissen was sie wollen. Hieher gehört auch was Cabanis bemerkt: Pontes ces passions, se sucèdent d'une nanière si rapide, et se peignent avec tant de naïveté, sur le visage mobile des enfans. Tandis que les faibles muscles de leurs bras et de leurs jambes savent encore á peine former quelques mouvemens indécis, les muscles de la face expriment déja par des mouvemens distincts presque toute la suite des affections générales propres a la nature humaine: et l'observateur attentif reconnait facileinent dans ce tableau les traits caractéristiques de l'homme futur. (Rapporte du physique et moral, Vol. I, p. 123.) – Der Intellekt hingegen entwickelt sich langsam, der Vollendung des Gehirns und der Reise des ganzen Organismus folgend, welche seine Bedingungen sind; eben weil er nur eine somatische Funktion ist. Weil das Gehirn schon mit dem siebenten Jahre seine volle Größe erlangt hat, werden die Kinder, von dem an, so auffallend intelligent, wißbegierig und vernünftig. Danach aber kommt die Pubertät: sie ertheilt dem Gehirn gewissermaaßen einen Widerhalt, oder einen Resonanzboden, und hebt mit einem Male den Intellekt um eine große Stufe, gleichsam um eine Oktave, entsprechend ihrem Herabsetzen der Stimme um eine solche. Aber zugleich Widerstreben jetzt die austretenden thierischen Begierden und Leidenschaften der Vernünftigkeit, welche vorher herrschte, und Dies nimmt zu. Von der Unermüdlichkeit des Willens zeugt ferner der Fehler, welcher, mehr oder weniger, wohl allen Menschen von Natur eigen ist und nur durch Bildung bezwungen wird: die Voreiligkeit. Sie besteht darin, daß der Wille vor der Zeit an sein Geschäft eilt. Dieses nämlich ist das rein Aktive und Exekutive, welches erst eintreten soll, nachdem das Explorative und Deliberative, also das Erkennende, sein Geschäft völlig und ganz beendigt hat. Aber selten wird diese Zeit wirklich abgewartet. Kaum sind über die vorliegenden Umstände, oder die eingetretene Begebenheit, oder die mitgetheilte fremde Meinung, einige wenige Data von der Erkenntniß obenhin aufgefaßt und flüchtig zusammengerafft; so tritt schon aus der Tiefe des Gemüths der stets bereite und nie müde Wille unaufgefordert hervor und zeigt sich als Schreck, Furcht, Hoffnung, Freude, Begierde, Neid, Betrübniß, Eifer, Zorn, Wuth, und treibt zu raschen Worten oder Thaten, auf welche meistens Reue folgt, nachdem die Zeit gelehrt hat, daß das Hegemonikon, der Intellekt, mit seinem Geschäft des Auffassens der Umstände, Ueberlegens ihres Zusammenhanges und Beschließens des Rathsamen, nicht hat auch nur halb zu Ende kommen können, weil der Wille es nicht abwartete, sondern lange vor seiner Zeit vorsprang mit »jetzt ist die Reihe an mir!« und sofort die Aktive ergriff, ohne daß der Intellekt Widerstand leistete, als welcher ein bloßer Sklave und Leibeigener des Willens, nicht aber, wie dieser, αντοματος, noch aus eigener Kraft und eigenem Drange thätig ist; daher er vom Willen leicht bei Seite geschoben und durch einen Wink desselben zur Ruhe gebracht wird; während er seinerseits, mit der äußersten Anstrengung, kaum vermag, den Willen auch nur zu einer kurzen Pause zu bringen, um zum Worte zu kommen. Dieserhalb sind die Leute so selten und werden fast nur unter Spaniern, Türken und allenfalls Engländern gefunden, welche, auch unter den provocirendsten Umständen, den Kopf oben behalten, die Auffassung und Untersuchung der Sachlage imperturbirt fortsetzen und, wo Andre schon außer sich wären, con mucho sosiego, eine fernere Frage thun; welches etwas ganz Anderes ist, als die auf Phlegma und Stumpfheit beruhende Gelassenheit vieler Deutschen und Holländer. Eine unübertreffliche Veranschaulichung der belobten Eigenschaft pflegte Iffland zu geben, als Hetmann der Kosaken, im Benjowski, wann die Verschworenen ihn in ihr Zelt gelockt haben und nun ihm eine Büchse vor den Kopf halten, mit dem Bedeuten, sie würde abgedrückt, sobald er einen Schrei thäte: Iffland blies in die Mündung der Büchse, um zu erproben, ob sie auch geladen sei. – Von zehn Dingen, die uns ärgern, würden neun es nicht vermögen, wenn wir sie recht gründlich, aus ihren Ursachen, verständen und daher ihre Nothwendigkeit und wahre Beschaffenheit erkennten: dies aber würden wir viel öfter, wenn wir sie früher zum Gegenstand der Ueberlegung, als des Eifers und Verdrusses machten. – Denn was, für ein unbändiges Roß, Zügel und Gebiß ist, das ist für den Willen im Menschen der Intellekt: an diesem Zügel muß er gelenkt werden, mittelst Belehrung, Ermahnung, Bildung u. s. w.; da er an sich selbst ein so wilder, ungestümer Drang ist, wie die Kraft, die im herabstürzenden Wasserfall erscheint, – ja, wie wir wissen, im tiefsten Grunde, identisch mit dieser. Im höchsten Zorn, im Rausch, in der Verzweiflung, hat er das Gebiß zwischen die Zähne genommen, ist durchgegangen und folgt seiner ursprünglichen Natur. In der Mania sine delirio hat er Zaum und Gebiß ganz verloren, und zeigt nun am deutlichsten sein ursprüngliches Wesen und daß der Intellekt so verschieden von ihm ist, wie der Zaum vom Pferde: auch kann man ihn, in diesem Zustande, der Uhr vergleichen, welche, nach Wegnahme einer gewissen Schraube, unaufhaltsam abschnurrt.

Also auch diese Betrachtung zeigt uns den Willen als das Ursprüngliche und daher Metaphysische, den Intellekt hingegen als ein Sekundäres und Physisches. Denn als solches ist dieser, wie alles Physische, der Vis inertiae unterworfen, mithin erst thätig, wenn er getrieben wird von einem Andern, vom Willen, der ihn beherrscht, lenkt, zur Anstrengung aufmuntert, kurz, ihm die Thätigkeit verleiht, die ihm ursprünglich nicht einwohnt. Daher ruht er willig, sobald es ihm gestattet wird, bezeugt sich oft träge und unaufgelegt zur Thätigkeit: durch fortgesetzte Anstrengung ermüdet er bis zur gänzlichen Abstumpfung, wird erschöpft, wie die Volta'sche Säule durch wiederholte Schläge. Darum erfordert jede anhaltende Geistesarbeit Pausen und Ruhe: sonst erfolgt Stumpfheit und Unfähigkeit; freilich zunächst nur einstweilige. Wird aber diese Ruhe dem Intellekt anhaltend versagt, wird er übermäßig und unausgesetzt angespannt; so ist die Folge eine bleibende Abstumpfung desselben, welche im Alter übergehen kann in gänzliche Unfähigkeit, in Kindischwerden, in Blödsinn und Wahnsinn. Nicht dem Alter an und für sich, sondern der lange fortgesetzten tyrannischen Ueberanstrengung des Intellekts, oder Gehirns, ist es zuzuschreiben, wenn diese Uebel in den letzten Jahren des Lebens sich einfinden. Daraus ist es zu erklären, daß Swift wahnsinnig, Kant kindisch wurde, Walter Scott, auch Wordsworth, Southey und viele minorum gentium stumpf und unfähig. Goethe ist bis an sein Ende klar, geisteskräftig und geistesthätig geblieben; weil er, der stets Welt- und Hofmann war, niemals seine geistigen Beschäftigungen mit Selbstzwang getrieben hat. Das Selbe gilt von Wieland und dem einundneunzigjährigen Knebel, wie auch von Voltaire. Dieses Alles nun aber beweist, wie sehr sekundär, physisch und ein bloßes Werkzeug der Intellekt ist. Eben deshalb auch bedarf er, auf fast ein Drittel seiner Lebenszeit, der gänzlichen Suspension seiner Thätigkeit, im Schlafe, d. h. der Ruhe des Gehirns, dessen bloße Funktion er ist, welches ihm daher eben so vorhergängig ist, wie der Magen der Verdauung, oder die Körper ihrem Stoß, und mit welchem er, im Alter, verwelkt und versiegt. – Der Wille hingegen, als das Ding an sich, ist nie träge, absolut unermüdlich, seine Thätigkeit ist seine Essenz, er hört nie auf zu wollen, und wann er, während des tiefen Schlafs, vom Intellekt verlassen ist und daher nicht, auf Motive, nach außen wirken kann, ist er als Lebenskraft thätig, besorgt desto ungestörter die innere Oekonomie des Organismus und bringt auch, als vis naturae medicatrix, die eingeschlichenen Unregelmäßigkeiten desselben wieder in Ordnung. Denn er ist nicht, wie der Intellekt, eine Funktion des Leibes; sondern der Leib ist seine Funktion: daher ist er diesem ordine rerum vorgängig, als dessen metaphysisches Substrat, als das Ansich der Erscheinung desselben. Seine Unermüdlichkeit theilt er, auf die Dauer des Lebens, dem Herzen mit, diesem primum mobile des Organismus, welches deshalb sein Symbol und Synonym geworden ist. Auch schwindet er nicht, im Alter, sondern will noch immer was er gewollt hat, ja wird fester und unbiegsamer, als er in der Jugend gewesen, unversöhnlicher, eigensinniger, unlenksamer, weil der Intellekt unempfänglicher geworden: daher dann nur durch Benutzung der Schwäche dieses ihm allenfalls beizukommen ist.

Auch die durchgängige Schwäche und Unvollkommenheit des Intellekts, wie sie in der Urtheilslosigkeit, Beschränktheit, Verkehrtheit, Thorheit der allermeisten Menschen zu Tage liegt, wäre ganz unerklärlich, wenn der Intellekt nicht ein Sekundäres, Hinzugekommenes, bloß Instrumentales, sondern das unmittelbare und ursprüngliche Wesen der sogenannten Seele, oder überhaupt des innern Menschen wäre; wie alle bisherigen Philosophen es angenommen haben. Denn wie sollte das ursprüngliche Wesen, in seiner unmittelbaren und eigenthümlichen Funktion, so häufig irren und fehlen? – Das wirklich Ursprüngliche im menschlichen Bewußtseyn, das Wollen, geht eben auch allemal vollkommen von Statten: jedes Wesen will unablässig, tüchtig und entschieden. Das Unmoralische im Willen als eine Unvollkommenheit desselben anzusehen, wäre ein grundfalscher Gesichtspunkt: vielmehr hat die Moralität eine Quelle, welche eigentlich schon über die Natur hinaus liegt, daher sie mit den Aussagen derselben in Widerspruch steht. Darum eben tritt sie dem natürlichen Willen, als welcher an sich schlechthin egoistisch ist, geradezu entgegen, ja, die Fortsetzung ihres Weges führt zur Aufhebung desselben. Hierüber verweise ich auf unser viertes Buch und auf meine Preisschrift »Ueber das Fundament der Moral«.

5) Daß der Wille das Reale und Essentiale im Menschen, der Intellekt aber nur das Sekundäre, Bedingte, Hervorgebrachte sei, wird auch daran ersichtlich, daß dieser seine Funktion nur so lange ganz rein und richtig vollziehen kann, als der Wille schweigt und pausirt; hingegen durch jede merkliche Erregung desselben die Funktion des Intellekts gestört, und durch seine Einmischung ihr Resultat verfälscht wird: nicht aber wird auch umgekehrt der Intellekt auf ähnliche Weise dem Willen hinderlich. So kann der Mond nicht wirken, wann die Sonne am Himmel steht; doch hindert jener diese nicht.

Ein großer Schreck benimmt uns oft die Besinnung dermaaßen, daß wir versteinern, oder aber das Verkehrteste thun, z. B. bei ausgebrochenem Feuer gerade in die Flammen laufen. Der Zorn läßt uns nicht mehr wissen was wir thun, noch weniger was wir sagen. Der Eifer, deshalb blind genannt, macht uns unfähig die fremden Argumente zu erwägen, oder selbst unsere eigenen hervorzusuchen und geordnet aufzustellen. Die Freude macht unüberlegt, rücksichtslos und verwegen: fast ebenso wirkt die Begierde. Die Furcht verhindert uns die noch vorhandenen, oft nahe liegenden Rettungsmittel zu sehen und zu ergreifen. Deshalb sind zum Bestehen plötzlicher Gefahren, wie auch zum Streit mit Gegnern und Feinden, Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart die wesentlichste Befähigung. Jene besteht im Schweigen des Willens, damit der Intellekt agiren könne; diese in der ungestörten Thätigkeit des Intellekts, unter dem Andrang der auf den Willen wirkenden Begebenheiten: daher eben ist jene ihre Bedingung, und Beide sind nahe verwandt, sind selten, und stets nur komparativ vorhanden. Sie sind aber von unschätzbarem Vortheil, weil sie den Gebrauch des Intellekts, gerade zu den Zeiten, wo man seiner am meisten bedarf, gestatten und dadurch entschiedene Ueberlegenheit verleihen. Wer sie nicht hat, erkennt erst nach verschwundener Gelegenheit was zu thun, oder zu sagen gewesen. Sehr treffend sagt man von Dem, der in Affekt geräth, d. h. dessen Wille so stark aufgeregt ist, daß er die Reinheit der Funktion des Intellekts aufhebt, er sei entrüstet: denn die richtige Erkenntniß der Umstände und Verhältnisse ist unsere Wehr und Waffe im Kampf mit den Dingen und den Menschen. In diesem Sinne sagt Balthazar Gracian: es la passion enemiga declarada de la cordura (die Leidenschaft ist der erklärte Feind der Klugheit). – Wäre nun der Intellekt nicht etwas vom Willen völlig Verschiedenes, sondern, wie man es bisher ansah, Erkennen und Wollen in der Wurzel Eins und gleich ursprüngliche Funktionen eines schlechthin einfachen Wesens; so müßte mit der Aufregung und Steigerung des Willens, darin der Affekt besteht, auch der Intellekt mit gesteigert werden: allein er wird, wie wir gesehen haben, vielmehr dadurch gehindert und deprimirt, weshalb die Alten den Affekt animi perturbatio nannten. Wirklich gleicht der Intellekt der Spiegelfläche des Wassers, dieses selbst aber dem Willen, dessen Erschütterung daher die Reinheit jenes Spiegels und die Deutlichkeit seiner Bilder sogleich aufhebt. Der Organismus ist der Wille selbst, ist verkörperter, d. h. objektiv im Gehirn angeschauter Wille: deshalb werden durch die freudigen und überhaupt die rüstigen Affekte manche seiner Funktionen, wie Respiration, Blutumlauf, Gallenabsonderung, Muskelkraft, erhöht und beschleunigt. Der Intellekt hingegen ist die bloße Funktion des Gehirns, welches vom Organismus nur parasitisch genährt und getragen wird: deshalb muß jede Perturbation des Willens, und mit ihm des Organismus, die für sich bestehende und keine andern Bedürfnisse, als nur die der Ruhe und Nahrung kennende Funktion des Gehirnes stören oder lähmen.

Dieser störende Einfluß der Thätigkeit des Willens auf den Intellekt ist aber nicht allein in den durch die Affekten herbeigeführten Pertubationen nachzuweisen, sondern ebenfalls in manchen andern, allmäligeren und daher anhaltenderen Verfälschungen des Denkens durch unsere Neigungen. Die Hoffnung läßt uns was wir wünschen, die Furcht was wir besorgen, als wahrscheinlich und nahe erblicken und beide vergrößern ihren Gegenstand. Plato (nach Aelian, V. H., 13, 28) hat sehr schön die Hoffnung den Traum des Wachenden genannt. Ihr Wesen liegt darin, daß der Wille seinen Diener, den Intellekt, wann dieser nicht vermag das Gewünschte herbeizuschaffen, nöthigt, es ihm wenigstens vorzumalen, überhaupt die Rolle des Trösters zu übernehmen, seinen Herrn, wie die Amme das Kind, mit Mährchen zu beschwichtigen und diese aufzustutzen, daß sie Schein gewinnen; wobei nun der Intellekt seiner eigenen Natur, die auf Wahrheit gerichtet ist, Gewalt anthun muß, indem er sich zwingt, Dinge, die weder wahr noch wahrscheinlich, oft kaum möglich sind, seinen eigenen Gesetzen zuwider, für wahr zu halten, um nur den unruhigen und unbändigen Willen auf eine Weile zu beschwichtigen, zu beruhigen und einzuschläfern. Hier sieht man deutlich, wer Herr und wer Diener ist. – Wohl Manche mögen die Beobachtung gemacht haben, daß wenn eine für sie wichtige Angelegenheit mehrere Entwickelungen zuläßt, und sie nun diese alle, in ein, ihrer Meinung nach, vollständiges disjunktives Urtheil gebracht haben, dennoch der Ausgang ein ganz anderer und ihnen völlig unerwarteter wird: aber vielleicht werden sie nicht darauf geachtet haben, daß dieser dann fast immer der für sie ungünstigste war. Dies ist daraus zu erklären, daß, während ihr Intellekt die Möglichkeiten vollständig zu überschauen vermeinte, die schlimmste von allen ihm ganz unsichtbar blieb; weil der Wille sie gleichsam mit der Hand verdeckt hielt, d. h. den Intellekt so bemeisterte, daß er auf den allerschlimmsten Fall zu blicken gar nicht fähig war, obwohl dieser, da er wirklich wurde, auch wohl der wahrscheinlichste gewesen. Jedoch in entschieden melancholischen, oder aber durch diese nämliche Erfahrung gewitzigten Gemüthern kehrt sich der Hergang wohl auch um, indem hier die Besorgniß die Rolle spielt, welche dort die Hoffnung. Der erste Schein einer Gefahr versetzt sie in grundlose Angst. Fängt der Intellekt an, die Sachen zu untersuchen; so wird er als inkompetent, ja, als trügerischer Sophist abgewiesen, weil dem Herzen zu glauben sei, dessen Zagen jetzt geradezu als Argument für die Realität und Größe der Gefahr geltend gemacht wird. So darf dann der Intellekt die guten Gegengründe gar nicht suchen, welche er, sich selber überlassen, bald erkennen würde; sondern wird genöthigt, sogleich den unglücklichsten Ausgang ihnen vorzustellen, wenn auch er selbst ihn kaum als möglich denken kann:

Such as we know is false, yet dread in sooth,
Because the worst is ever nearest truth Etwas, das wir als falsch erkennen, dennoch ernstlich fürchten; weil das Schlimmste stets der Wahrheit am nächsten liegt..

(Byron, Lara. C. 1.)

Liebe und Haß verfälschen unser Urtheil gänzlich: an unsern Feinden sehen wir nichts, als Fehler, an unsern Lieblingen lauter Vorzüge, und selbst ihre Fehler scheinen uns liebenswürdig. Eine ähnliche geheime Macht übt unser Vortheil, welcher Art er auch sei, über unser Urtheil aus: was ihm gemäß ist, erscheint uns alsbald billig, gerecht, vernünftig; was ihm zuwider läuft, stellt sich uns, im vollen Ernst, als ungerecht und abscheulich, oder zweckwidrig und absurd dar. Daher so viele Vorurtheile des Standes, des Gewerbes, der Nation, der Sekte, der Religion. Eine gefaßte Hypothese giebt uns Luchsaugen für alles sie Bestätigende, und macht uns blind für alles ihr Widersprechende. Was unserer Partei, unserm Plane, unserm Wunsche, unserer Hoffnung entgegensteht, können wir oft gar nicht fassen und begreifen, während es allen Andern klar vorliegt: das jenen Günstige hingegen springt uns von ferne in die Augen. Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein. Manche Irrthümer halten wir unser Leben hindurch fest, und hüten uns, jemals ihren Grund zu prüfen, bloß aus einer uns selber unbewußten Furcht, die Entdeckung machen zu können, daß wir so lange und so oft das Falsche geglaubt und behauptet haben. – So wird denn täglich unser Intellekt durch die Gaukeleien der Neigung bethört und bestochen. Sehr schön hat dies Bako von Verulam ausgedrückt in den Worten: Intellectus luminis sicci non est; sed recipit infusionem a voluntate et affectibus: id quod generat ad quod vult scientias: quod enim mavult homo, id potius credit. Innumeris modis, iisque interdum imperceptibilibus, affectus intellectum imbuit et inficit (Org. nov., I, 14). Offenbar ist es auch Dieses, was allen neuen Grundansichten in den Wissenschaften und allen Widerlegungen sanktionirter Irrthümer entgegensteht: denn nicht leicht wird Einer die Richtigkeit Dessen einsehen, was ihn unglaublicher Gedankenlosigkeit überführt. Hieraus allein ist es erklärlich, daß die so klaren und einfachen Wahrheiten der Goethe'schen Farbenlehre von den Physikern noch immer geleugnet werden; wodurch denn selbst Goethe hat erfahren müssen, einen wie viel schwereren Stand man hat, wenn man den Menschen Belehrung, als wenn man ihnen Unterhaltung verheißt; daher es viel glücklicher ist, zum Poeten, als zum Philosophen geboren zu seyn. Je hartnäckiger nun aber andererseits ein Irrthum festgehalten wurde, desto beschämender wird nachher die Ueberführung. Bei einem umgestoßenen System, wie bei einer geschlagenen Armee, ist der Klügste, wer zuerst davonläuft.

Von jener geheimen und unmittelbaren Gewalt, welche der Wille über den Intellekt ausübt, ist ein kleinliches und lächerliches, aber frappantes Beispiel dieses, daß wir, bei Rechnungen, uns viel öfter zu unserm Vortheil als zu unserm Nachtheil verrechnen, und zwar ohne die mindeste unredliche Absicht, bloß durch den unbewußten Hang, unser Debet zu verkleinern und unser Credit zu vergrößern.

Hieher gehört endlich noch die Thatsache, daß, bei einem zu ertheilenden Rath, die geringste Absicht des Berathers meistens seine auch noch so große Einsicht überwiegt; daher wir nicht annehmen dürfen, daß er aus dieser spreche, wo wir jene vermuthen. Wie wenig, selbst von sonst redlichen Leuten, vollkommene Aufrichtigkeit zu erwarten steht, sobald ihr Interesse irgendwie dabei im Spiel ist, können wir eben daran ermessen, daß wir so oft uns selbst belügen, wo Hoffnung uns besticht, oder Furcht bethört, oder Argwohn uns quält, oder Eitelkeit uns schmeichelt, oder eine Hypothese uns verblendet, oder ein nahe liegender kleiner Zweck dem größeren, aber entfernteren, Abbruch thut: denn daran sehen wir den unmittelbaren und unbewußten nachtheiligen Einfluß des Willens auf die Erkenntniß. Demnach darf es uns nicht wundern, wenn, bei Fragen um Rath, der Wille des Befragten unmittelbar die Antwort diktirt, ehe die Frage auch nur bis zum Forum seines Urtheils durchdringen konnte.

Nur mit Einem Worte will ich hier auf Dasjenige deuten, was im folgenden Buche ausführlich erörtert wird, daß nämlich die vollkommenste Erkenntniß, also die rein objective, d. h. die geniale Auffassung der Welt, bedingt ist durch ein so tiefes Schweigen des Willens, daß, so lange sie anhält, sogar die Individualität aus dem Bewußtseyn verschwindet und der Mensch als reines Subjekt des Erkennens, welches das Korrelat der Idee ist, übrig bleibt.

Der durch alle jene Phänomene belegte, störende Einfluß des Willens auf den Intellekt, und dagegen die Zartheit und Hinfälligkeit dieses, vermöge deren er unfähig wird, richtig zu operiren, sobald der Wille irgendwie in Bewegung geräth, giebt uns also einen abermaligen Beweis davon, daß der Wille das Radikale unsers Wesens sei und mit ursprünglicher Gewalt wirke, während der Intellekt, als ein Hinzugekommenes und vielfach Bedingtes, nur sekundär und bedingterweise wirken kann.

Eine der dargelegten Störung und Trübung der Erkenntniß durch den Willen entsprechende, unmittelbare Störung dieses durch jene giebt es nicht: ja, wir können uns von einer solchen nicht wohl einen Begriff machen. Daß falsch aufgefaßte Motive den Willen irre leiten, wird Niemand dahin auslegen wollen; da dies ein Fehler des Intellekts in seiner eigenen Funktion ist, der rein auf seinem Gebiete begangen wird, und der Einfluß desselben auf den Willen ein völlig mittelbarer ist. Scheinbarer wäre es, die Unschlüssigkeit dahin zu ziehen, als bei welcher, durch den Widerstreit der Motive, die der Intellekt dem Willen vorhält, dieser in Stillstand geräth, also gehemmt ist. Allein bei näherer Betrachtung wird es sehr deutlich, daß die Ursache dieser Hemmung nicht in der Thätigkeit des Intellekts als solcher liegt, sondern ganz allein in den durch dieselbe vermittelten äußeren Gegenständen, als welche dieses Mal zu dem hier betheiligten Willen gerade in dem Verhältniß stehen, daß sie ihn nach verschiedenen Richtungen mit ziemlich gleicher Stärke ziehen: diese eigentliche Ursache wirkt bloß durch den Intellekt, als das Medium der Motive, hindurch; wiewohl freilich nur unter der Voraussetzung, daß er scharf genug sei, die Gegenstände und ihre vielfachen Beziehungen genau aufzufassen. Unentschlossenheit, als Charakterzug, ist eben so sehr durch Eigenschaften des Willens, als des Intellekts bedingt. Aeußerst beschränkten Köpfen ist sie freilich nicht eigen; weil ihr schwacher Verstand sie theils nicht so vielfache Eigenschaften und Verhältnisse an den Dingen entdecken läßt, theils auch der Anstrengung des Nachdenkens und Grübelns über jene und demnächst über die muthmaaßlichen Folgen jedes Schrittes so wenig gewachsen ist, daß sie lieber nach dem ersten Eindrucke, oder nach irgend einer einfachen Verhaltungsregel, sich sofort entschließen. Das Umgekehrte hievon findet Statt bei Leuten von bedeutendem Verstande: sobald daher bei diesen eine zarte Vorsorge für das eigene Wohl, d. h. ein sehr empfindlicher Egoismus, der durchaus nicht zu kurz kommen und stets geborgen seyn will, hinzukommt; so führt dies eine gewisse Aengstlichkeit bei jedem Schritt und dadurch die Unentschlossenheit herbei. Diese Eigenschaft deutet also durchaus nicht auf Mangel an Verstand, wohl aber an Muth. Sehr eminente Köpfe jedoch übersehen die Verhältnisse und deren wahrscheinliche Entwickelungen mit solcher Schnelligkeit und Sicherheit, daß sie, wenn nur noch von einigem Muth unterstützt, dadurch diejenige rasche Entschlossenheit und Festigkeit erlangen, welche sie befähigt, eine bedeutende Rolle in den Welthändeln zu spielen, falls Zeit und Umstände hiezu Gelegenheit bieten.

Die einzige entschiedene, unmittelbare Hemmung und Störung, die der Wille vom Intellekt als solchem erleiden kann, möchte wohl die ganz exceptionelle seyn, welche die Folge einer abnorm überwiegenden Entwickelung des Intellekts, also derjenigen hohen Begabung ist, die man als Genie bezeichnet. Eine solche nämlich ist der Energie des Charakters und folglich der Thatkraft entschieden hinderlich. Daher eben sind es nicht die eigentlich großen Geister, welche die historischen Charaktere abgeben, indem sie, die Masse der Menschheit zu lenken und zu beherrschen fähig, die Welthändel durchkämpften; sondern hiezu taugen Leute von viel geringerer Kapacität des Geistes, aber großer Festigkeit, Entschiedenheit und Beharrlichkeit des Willens, wie sie bei sehr hoher Intelligenz gar nicht bestehen kann; bei welcher demnach wirklich der Fall eintritt, daß der Intellekt den Willen direkt hemmt.

6) Im Gegensatz der dargelegten Hindernisse und Hemmungen, welche der Intellekt vom Willen erleidet, will ich jetzt an einigen Beispielen zeigen, wie, auch umgekehrt, die Funktionen des Intellekts durch den Antrieb und Sporn des Willens bisweilen befördert und erhöht werden; damit wir auch hieran die primäre Natur des Einen und die sekundäre des Andern erkennen, und sichtbar werde, daß der Intellekt zum Willen im Verhältnisse eines Werkzeuges steht.

Ein stark wirkendes Motiv, wie der sehnsüchtige Wunsch, die dringende Noth, steigert bisweilen den Intellekt zu einem Grade, dessen wir ihn vorher nie fähig geglaubt hatten. Schwierige Umstände, welche uns die Nothwendigkeit gewisser Leistungen auflegen, entwickeln ganz neue Talente in uns, deren Keime uns verborgen geblieben waren und zu denen wir uns keine Fähigkeit zutrauten. – Der Verstand des stumpfesten Menschen wird scharf, wann es sehr angelegene Objekte seines Wollens gilt: er merkt, beachtet und unterscheidet jetzt mit großer Feinheit auch die kleinsten Umstände, welche auf sein Wünschen oder Fürchten Bezug haben. Dies trägt viel bei zu der oft mit Ueberraschung bemerkten Schlauheit der Dummen. Eben deshalb sagt Jesaias mit Recht vexatio dat intellectum, welches daher auch sprichwörtlich gebraucht wird: ihm verwandt ist das deutsche Sprichwort »die Noth ist die Mutter der Künste«, – wobei jedoch die schönen Künste auszunehmen sind; weil der Kern jedes ihrer Werke, nämlich die Konception, aus einer völlig willenlosen und nur dadurch rein objektiven Anschauung hervorgehen muß, wenn sie ächt seyn sollen. – Selbst der Verstand der Thiere wird durch die Noth bedeutend gesteigert, so daß sie in schwierigen Fällen Dinge leisten, über die wir erstaunen: z. B. fast alle berechnen, daß es sicherer ist, nicht zu fliehen, wann sie sich ungesehen glauben: daher liegt der Hase still in der Furche des Feldes und läßt den Jäger dicht an sich Vorbeigehen; Insekten, wenn sie nicht entrinnen können, stellen sich todt u. s. f. Genauer kann man diesen Einfluß kennen lernen durch die specielle Selbstbildungsgeschichte des Wolfes, unter dem Sporn der großen Schwierigkeit seiner Stellung im civilisirten Europa: sie ist zu finden im zweiten Briefe des vortrefflichen Buches von Leroy, Lettres sur l'intelligence et la perfectibilité des animaux. Gleich darauf folgt, im dritten Briefe, die hohe Schule des Fuchses, welcher, in gleich schwieriger Lage, viel geringere Körperkräfte hat, die bei ihm durch großen Verstand ersetzt sind, der aber doch erst durch den beständigen Kampf mit der Noth einerseits und der Gefahr andererseits, also unter dem Sporn des Willens, den hohen Grad von Schlauheit erreicht, welcher ihn, besonders im Alter, auszeichnet. Bei allen diesen Steigerungen des Intellekts spielt der Wille die Rolle des Reiters, der durch den Sporn das Pferd über das natürliche Maaß seiner Kräfte hinaus treibt.

Eben so wird auch das Gedächtniß durch den Drang des Willens gesteigert. Selbst wenn es sonst schwach ist, bewahrt es vollkommen was für die herrschende Leidenschaft Werth hat. Der Verliebte vergißt keine ihm günstige Gelegenheit, der Ehrgeizige keinen Umstand, der zu seinen Plänen paßt, der Geizige nie den erlittenen Verlust, der Stolze nie die erlittene Ehrenkränkung, der Eitele behält jedes Wort des Lobes und auch die kleinste ihm widerfahrene Auszeichnung. Auch dies erstreckt sich auf die Thiere: das Pferd bleibt vor dem Wirthshause stehen, in welchem es längst ein Mal gefüttert worden: Hunde haben ein treffliches Gedächtniß für alle Gelegenheiten, Zeiten und Orte, die gute Bissen abgeworfen haben; und Füchse für die verschiedenen Verstecke, in denen sie einen Raub niedergelegt haben.

Zu feineren Bemerkungen in dieser Hinsicht giebt die Selbstbeobachtung Gelegenheit. Bisweilen ist mir, durch eine Störung, ganz entfallen, worüber ich soeben nachdachte, oder sogar, welche Nachricht es gewesen, die mir soeben zu Ohren gekommen war. Hatte nun die Sache irgendwie ein auch noch so entferntes, persönliches Interesse; so ist von der Einwirkung, die sie dadurch auf den Willen hatte, der Nachklang geblieben: ich bin mir nämlich noch genau bewußt, wie weit sie mich angenehm, oder unangenehm affizirte, und auch auf welche specielle Weise dies geschah, nämlich ob sie, wenn auch in schwachem Grade, mich kränkte, oder ängstigte, oder erbitterte, oder betrübte, oder aber die diesen entgegengesetzten Affektionen hervorrief. Also bloß die Beziehung der Sache auf meinen Willen hat sich, nachdem sie selbst mir entschwunden ist, im Gedächtniß erhalten, und oft wird diese nun wieder der Leitfaden, um auf die Sache selbst zurückzukommen. Auf analoge Art wirkt bisweilen auf uns der Anblick eines Menschen, indem wir uns nur im Allgemeinen erinnern, mit ihm zu thun gehabt zu haben, ohne jedoch zu wissen, wo, wann und was es gewesen, noch wer er sei; hingegen ruft sein Anblick noch ziemlich genau die Empfindung zurück, welche ehemals seine Angelegenheit in uns erregt hat, nämlich ob sie unangenehm oder angenehm, auch in welchem Grad und in welcher Art sie es gewesen: also bloß den Anklang des Willens hat das Gedächtniß aufbewahrt, nicht aber Das, was ihn hervorrief. Man könnte Das, was diesem Hergange zum Grunde liegt, das Gedächtniß des Herzens nennen: dasselbe ist viel intimer, als das des Kopfes. Im Grunde jedoch geht es mit dem Zusammenhange Beider so weit, daß, wenn man der Sache tief nachdenkt, man zu dem Ergebniß gelangen wird, daß das Gedächtniß überhaupt der Unterlage eines Willens bedarf, als eines Anknüpfungspunktes, oder vielmehr eines Fadens, auf welchen sich die Erinnerungen reihen, und der sie fest zusammenhält, oder daß der Wille gleichsam der Grund ist, auf welchem die einzelnen Erinnerungen kleben, und ohne den sie nicht haften könnten; und daß daher an einer reinen Intelligenz, d. h. an einem bloß erkennenden und ganz willenlosen Wesen, sich ein Gedächtnis nicht wohl denken läßt. Demnach ist die oben dargelegte Steigerung des Gedächtnisses durch den Sporn der herrschenden Leidenschaft nur der höhere Grad Dessen, was bei allem Behalten und Erinnern Statt findet; indem dessen Basis und Bedingung stets der Wille ist. – Also auch an allem Diesen wird sichtbar, wie sehr viel innerlicher uns der Wille ist, als der Intellekt. Dies zu bestätigen können auch noch folgende Thatsachen dienen.

Der Intellekt gehorcht oft dem Willen: z. B. wenn wir uns auf etwas besinnen wollen, und dies nach einiger Anstrengung gelingt: – eben so, wenn wir jetzt etwas genau und bedächtig überlegen wollen, u. dgl. m. Bisweilen wieder versagt der Intellekt dem Willen den Gehorsam, z. B. wenn wir vergebens uns auf etwas zu fixiren streben, oder wenn wir vom Gedächtniß etwas ihm Anvertrautes vergeblich zurückfordern: der Zorn des Willens gegen den Intellekt, bei solchen Anlässen, macht sein Verhältniß zu diesem und die Verschiedenheit Beider sehr kenntlich. Sogar bringt der durch diesen Zorn gequälte Intellekt das von ihm Verlangte bisweilen nach Stunden, oder gar am folgenden Morgen, ganz unerwartet und zur Unzeit, diensteifrig nach. – Hingegen gehorcht eigentlich nie der Wille dem Intellekt; sondern dieser ist bloß der Ministerrath jenes Souverains: er legt ihm allerlei vor, wonach dieser erwählt was seinem Wesen gemäß ist, wiewohl sich dabei mit Nothwendigkeit bestimmend; weil dies Wesen unveränderlich fest steht und die Motive jetzt vorliegen. Darum eben ist keine Ethik möglich, die den Willen selbst modelte und besserte. Denn jede Lehre wirkt bloß auf die Erkenntniß: diese aber bestimmt nie den Willen selbst, d. h. den Grund-Charakter des Wollens, sondern bloß dessen Anwendung auf die vorliegenden Umstände. Eine berichtigte Erkenntniß kann das Handeln nur in so weit modifiziren, als sie die dem Willen zugänglichen Objekte seiner Wahl genauer nachweist und richtiger beurtheilen läßt: wodurch er nunmehr sein Verhältniß zu den Dingen richtiger ermißt, deutlicher sieht, was er will, und demzufolge dem Irrthum bei der Wahl weniger unterworfen ist. Aber über das Wollen selbst, über die Hauptrichtung, oder die Grundmaxime desselben hat der Intellekt keine Macht. Zu glauben, daß die Erkenntniß wirklich und von Grund aus den Willen bestimme, ist wie glauben, daß die Laterne, die Einer bei Nacht trägt, das primum mobile seiner Schritte sei. – Wer, durch Erfahrung oder fremde Ermahnung belehrt, einen Grundfehler seines Charakters erkennt und beklagt, faßt wohl den festen und redlichen Vorsatz, sich zu bessern und ihn abzulegen: trotz Dem aber erhält, bei nächster Gelegenheit, der Fehler freien Lauf. Neue Reue, neuer Vorsatz, neues Vergehen. Wann dies einige Male so durchgemacht ist, wird er inne, daß er sich nicht bessern kann, daß der Fehler in seiner Natur und Persönlichkeit liegt, ja mit dieser Eins ist. Jetzt wird er seine Natur und Persönlichkeit mißbilligen und verdammen, ein schmerzliches Gefühl haben, welches bis zur Gewissenspein steigen kann: aber jene zu ändern vermag er nicht. Hier sehen wir Das, was verdammt, und Das, was verdammt wird, deutlich auseinandertreten: wir sehen Jenes, als ein bloß theoretisches Vermögen, den zu lobenden und daher wünschenswerthen Lebenswandel vorzeichnen und aufstellen; das Andere aber, als ein Reales und unabänderlich Vorhandenes, Jenem zum Trotz, einen ganz andern Gang gehen; und dann wieder das Erste mit ohnmächtigen Klagen über die Beschaffenheit des Andern zurückbleiben, mit welchem es sich durch eben diese Betrübniß wieder identifizirt. Wille und Intellekt treten hier sehr deutlich auseinander. Dabei zeigt sich der Wille als das Stärkere, Unbezwingbare, Unveränderliche, Primitive, und zugleich auch als das Wesentliche, darauf es ankommt; indem der Intellekt die Fehler desselben bejammert und keinen Trost findet an der Richtigkeit der Erkenntniß, als seiner eigenen Funktion. Dieser zeigt sich also als ganz sekundär, nämlich theils als Zuschauer fremder Thaten, die er mit ohnmächtigem Lobe und Tadel begleitet, und theils als von außen bestimmbar, indem er, durch die Erfahrung belehrt, seine Vorschriften abfaßt und ändert. Specielle Erläuterungen dieses Gegenstandes findet man in den Parergis, Bd. 2, §. 118. – Demgemäß wird auch, bei der Vergleichung unserer Denkungsart in verschiedenen Lebensaltern, sich uns ein sonderbares Gemisch von Beharrlichkeit und Veränderlichkeit darbieten. Einerseits ist die moralische Tendenz des Mannes und Greises noch die selbe, welche die des Knaben war: andererseits ist ihm Vieles so entfremdet, daß er sich nicht mehr kennt und sich wundert, wie er einst Dieses und Jenes thun oder sagen gekonnt. In der ersten Lebenshälfte lacht meistens das Heute über das Gestern, ja sieht wohl gar verächtlich daraus hinab; in der zweiten hingegen mehr und mehr mit Neid darauf zurück. Bei näherer Untersuchung aber wird man finden, daß das Veränderliche der Intellekt war, mit seinen Funktionen der Einsicht und Erkenntniß, als welche, täglich neuen Stoff von außen sich aneignend, ein stets verändertes Gedankensystem darstellen; während zudem auch er selbst, mit dem Aufblühen und Welken des Organismus, steigt und sinkt. Als das Unabänderliche im Bewußtseyn hingegen weist sich gerade die Basis desselben aus, der Wille, also die Neigungen, Leidenschaften, Affekte, der Charakter; wobei jedoch die Modifikationen in Rechnung zu bringen sind, welche von den körperlichen Fähigkeiten zum Genusse und hiedurch vom Alter abhängen. So z. B. wird die Gier nach sinnlichem Genuß im Knabenalter als Naschhaftigkeit auftreten, im Jünglings- und Mannesalter als Hang zur Wollust, und im Greisenalter wieder als Naschhaftigkeit.

7) Wenn, der allgemeinen Annahme gemäß, der Wille aus der Erkenntniß hervorgienge, als ihr Resultat oder Produkt; so müßte, wo viel Wille ist, auch viel Erkenntniß, Einsicht, Verstand seyn. Dem ist aber ganz und gar nicht so: vielmehr finden wir, in vielen Menschen, einen starken, d. h. entschiedenen, entschlossenen, beharrlichen, unbiegsamen, eigensinnigen und heftigen Willen, verbunden mit einem sehr schwachen und unfähigen Verstande; wodurch eben wer mit ihnen zu thun hat zur Verzweiflung gebracht wird, indem ihr Wille allen Gründen und Vorstellungen unzugänglich bleibt und ihm nicht beizukommen ist; so daß er gleichsam in einem Sack steckt, von wo aus er blindlings will. Die Thiere haben, bei oft heftigem, oft starrsinnigem Willen, noch viel weniger Verstand; die Pflanzen endlich bloßen Willen ohne alle Erkenntniß.

Entspränge das Wollen bloß aus der Erkenntniß; so müßte unser Zorn seinem jedesmaligen Anlaß, oder wenigstens unserm Verständniß desselben, genau angemessen seyn; indem auch er nichts weiter, als das Resultat der gegenwärtigen Erkenntniß wäre. So fällt es aber sehr selten aus: vielmehr geht der Zorn meistens weit über den Anlaß hinaus. Unser Wüthen und Rasen, der furor brevis, oft bei geringen Anlässen und ohne Irrthum hinsichtlich derselben, gleicht dem Toben eines bösen Dämons, welcher, eingesperrt, nur auf die Gelegenheit wartete, losbrechen zu dürfen, und nun jubelt sie gefunden zu haben. Dem könnte nicht so seyn, wenn der Grund unsers Wesens ein Erkennendes und das Wollen ein bloßes Resultat der Erkenntniß wäre: denn wie käme in das Resultat, was nicht in den Elementen desselben lag? Kann doch die Konklusion nicht mehr enthalten, als die Prämissen. Der Wille zeigt sich also auch hier als ein von der Erkenntniß ganz verschiedenes Wesen, welches sich ihrer nur zur Kommunikation mit der Außenwelt bedient, dann aber den Gesetzen seiner eigenen Natur folgt, ohne von jener mehr als den Anlaß zu nehmen.

Der Intellekt, als bloßes Werkzeug des Willens, ist von ihm so verschieden, wie der Hammer vom Schmid. So lange, bei einer Unterredung, der Intellekt allein thätig ist, bleibt solche kalt. Es ist fast als wäre der Mensch selbst nicht dabei. Auch kann er dann sich eigentlich nicht kompromittiren, sondern höchstens blamiren. Erst wann der Wille ins Spiel kommt, ist der Mensch wirklich dabei: jetzt wird er warm, ja, es geht oft heiß her. Immer ist es der Wille, dem man die Lebenswärme zuschreibt: hingegen sagt man der kalte Verstand, oder eine Sache kalt untersuchen, d. h. ohne Einfluß des Willens denken. – Versucht man das Verhältniß umzukehren und den Willen als Werkzeug des Intellekts zu betrachten; so ist es, als machte man den Schmid zum Werkzeug des Hammers.

Nichts ist verdrießlicher, als wenn man, mit Gründen und Auseinandersetzungen gegen einen Menschen streitend, sich alle Mühe giebt, ihn zu überzeugen, in der Meinung, es bloß mit seinem Verstande zu thun zu haben, – und nun endlich entdeckt, daß er nicht verstehen will; daß man also es mit seinem Willen zu thun hatte, welcher sich der Wahrheit verschließt und muthwillig Mißverständnisse, Schikanen und Sophismen ins Feld stellt, sich hinter seinem Verstande und dessen vorgeblichem Nichteinsehen verschanzend. Da ist ihm freilich so nicht beizukommen: denn Gründe und Beweise, gegen den Willen angewandt, sind wie die Stöße eines Hohlspiegelphantoms gegen einen festen Körper. Daher auch der so oft wiederholte Ausspruch: Stat pro ratione voluntas. – Belege zu dem Gesagten liefert das gemeine Leben zur Genüge. Aber auch auf dem Wege der Wissenschaften sind sie leider zu finden. Die Anerkennung der wichtigsten Wahrheiten, der seltensten Leistungen, wird man vergeblich von Denen erwarten, die ein Interesse haben, sie nicht gelten zu lassen, welches nun entweder daraus entspringt, daß solche Dem widersprechen, was sie selbst täglich lehren, oder daraus, daß sie es nicht benutzen und nachlehren dürfen, oder, wenn auch dies Alles nicht, schon weil allezeit die Losung der Mediokren seyn wird: Si quelqu'un excelle parmi nous, qu'il aille exceller ailleurs; wie Helvetius den Ausspruch der Epheser, in Cicero's fünftem Tuskulanischen Buche (c. 36), allerliebst wiedergegeben hat; oder, wie ein Spruch des Abyssiniers Fit Arari es giebt: »Der Demant ist unter den Quarzen verfehmt«. Wer also von dieser stets zahlreichen Schaar eine gerechte Würdigung seiner Leistungen erwartet, wird sich sehr getäuscht finden und vielleicht ihr Betragen eine Weile gar nicht begreifen können; bis auch er endlich dahinter kommt, daß, während er sich an die Erkenntniß wendete, er es mit dem Willen zu thun hatte, also ganz in dem oben beschriebenen Fall sich befindet, ja, eigentlich Dem gleicht, der seine Sache vor einem Gerichte führt, dessen Beisitzer sämmtlich bestochen sind. In einzelnen Fällen jedoch wird er davon, daß ihr Wille, nicht ihre Einsicht, ihm entgegenstand, sogar den vollgültigsten Beweis erhalten: wenn nämlich Einer und der Andere von ihnen sich zum Plagiat entschließt. Da wird er mit Erstaunen sehen, wie feine Kenner sie sind, welchen richtigen Takt sie für fremdes Verdienst haben und wie treffend sie das Beste herauszufinden wissen; den Sperlingen gleich, welche die reifsten Kirschen nicht verfehlen. –

Das Widerspiel des hier dargestellten siegreichen Widerstrebens des Willens gegen die Erkenntniß tritt ein, wenn man, bei der Darlegung seiner Gründe und Beweise, den Willen der Angeredeten für sich hat: da ist Alles gleich überzeugt, da sind alle Argumente schlagend und die Sache ist sofort klar, wie der Tag. Das wissen die Volksredner. – Im einen, wie im andern Fall, zeigt sich der Wille als das Urkräftige, gegen welches der Intellekt nichts vermag.

8) Jetzt aber wollen wir die individuellen Eigenschaften, also Vorzüge und Fehler, einerseits des Willens und Charakters, andererseits des Intellekts, in Betrachtung nehmen, um auch an ihrem Verhältniß zu einander und an ihrem relativen Werth die gänzliche Verschiedenheit beider Grundvermögen deutlich zu machen. Geschichte und Erfahrung lehren, daß Beide völlig unabhängig von einander auftreten. Daß die größte Trefflichkeit des Kopfes mit einer gleichen des Charakters nicht leicht im Verein gefunden wird, erklärt sich genugsam aus der unaussprechlich großen Seltenheit Beider; während ihre Gegentheile durchgängig an der Tagesordnung sind: daher man diese auch täglich im Verein antrifft. Inzwischen schließt man nie von einem vorzüglichen Kopf auf einen guten Willen, noch von diesem auf jenen, noch vom Gegentheil auf das Gegentheil: sondern jeder Unbefangene nimmt sie als völlig gesonderte Eigenschaften, deren Vorhandenseyn jedes für sich, durch Erfahrung auszumachen ist. Große Beschränktheit des Kopfes kann mit großer Güte des Herzens zusammenbestehen, und ich glaube nicht, daß Balthazar Gracian ( Discreto, p. 406) Recht hat zu sagen: No ay simple, que no sea malicioso (Es giebt keinen Tropf, der nicht boshaft wäre), obwohl er das Spanische Sprichwort: Nunca la necedad anduvo sin malicia (Nie geht die Dummheit ohne die Bosheit), für sich hat. Jedoch mag es seyn, daß manche Dumme, aus dem selben Grunde wie manche Bucklichte, boshaft werden, nämlich aus Erbitterung über die von der Natur erlittene Zurücksetzung und indem sie gelegentlich was ihnen an Verstande abgeht durch Heimtücke zu ersetzen vermeinen, darin einen kurzen Triumph suchend. Hieraus wird beiläufig auch begreiflich, warum, einem sehr überlegenen Kopfe gegenüber, fast Jeder leicht boshaft wird. Andererseits wieder stehen die Dummen sehr oft im Ruf besonderer Herzensgüte, der sich jedoch so selten bestätigt, daß ich mich habe wundern müssen, wie sie ihn erlangten, bis ich den Schlüssel dazu in Folgendem gefunden zu haben mir schmeicheln durfte. Jeder wählt, durch einen geheimen Zug bewogen, zu seinem nähern Umgange am liebsten Jemanden, dem er an Verstande ein wenig überlegen ist: denn nur bei diesem fühlt er sich behaglich, weil, nach Hobbes, omnis animi voluptas, omnisque alacritas in eo sita est, quod quis habeat, quibuscum conferens se, possit magnifice sentire de se ipso (de Cive, I, 5). Aus dem selben Grunde flieht Jeder Den, der ihm überlegen ist; weshalb Lichtenberg ganz richtig bemerkt: »Gewissen Menschen ist ein Mann von Kopf ein fataleres Geschöpf, als der deklarirteste Schurke«: dem entsprechend sagt Helvetius: Les gens médiocres ont un instinct sûr et prompt, pour connaître et fuir les gens d'esprit; und Dr.  Johnson versichert uns, daß there is nothing by which a man exasperates most people more, than by displaying a superior ability of brilliancy in conversation. They seem pleased at the time; but their envy makes them curse him at their hearts Durch nichts erbittert Einer die meisten Menschen mehr, als dadurch, daß er seine Ueberlegenheit in der Konversation zu glänzen an den Tag legt. Für den Augenblick scheinen sie Wohlgefallen daran zu haben: aber in ihrem Herzen verfluchen sie ihn, aus Neid. ( Boswell; aet. anno 74). Um diese so allgemein und sorgfältig verhehlte Wahrheit noch schonungsloser an das Licht zu ziehen, füge ich Mercks, des berühmten Jugendfreundes Goethe's, Ausdruck derselben hinzu, aus seiner Erzählung Lindor: »Er besaß Talente, die ihm die Natur gegeben und die er sich durch Kenntnisse erworben hatte, und diese brachten zuwege, daß er in den meisten Gesellschaften die werthen Anwesenden weit hinter sich ließ. Wenn das Publikum, in dem Moment von Augenweide an einem außerordentlichen Menschen, diese Vorzüge auch hinunterschluckt, ohne sie gerade sogleich arg auszulegen; so bleibt doch ein gewisser Eindruck von dieser Erscheinung zurück, der, wenn er oft wiederholt wird, für Denjenigen, der daran Schuld ist, bei ernsthaften Gelegenheiten künftig unangenehme Folgen haben kann. Ohne daß sich es Jeder mit Bewußtseyn hinters Ohr schreibt, daß er dies Mal beleidigt war, so stellt er sich doch, bei einer Beförderung dieses Menschen, nicht ungern stummer Weise in den Weg.« – Dieserhalb also isolirt große geistige Ueberlegenheit mehr, als alles Andere, und macht, wenigstens im Stillen, verhaßt. Das Gegentheil nun ist es, was die Dummen so allgemein beliebt macht; zumal da Mancher nur bei ihnen finden kann, was er, nach dem oben erwähnten Gesetze seiner Natur, suchen muß. Diesen wahren Grund einer solchen Zuneigung wird jedoch Keiner sich selber, geschweige Andern gestehen, und wird daher, als plausibeln Vorwand für dieselbe, seinem Auserwählten eine besondere Herzensgüte andichten, die, wie gesagt, höchst selten und nur zufällig ein Mal neben der geistigen Beschränktheit wirklich vorhanden ist. – Der Unverstand ist demnach keineswegs der Güte des Charakters günstig oder verwandt. Aber andererseits läßt sich nicht behaupten, daß der große Verstand dies sei: vielmehr ist ohne einen solchen noch kein Bösewicht im Großen gewesen. Ja sogar die höchste intellektuelle Eminenz kann zusammenbestehen mit der ärgsten moralischen Verworfenheit. Ein Beispiel hievon gab Bako v. Verulam: undankbar, herrschsüchtig, boshaft und niederträchtig, gieng er endlich so weit, daß er, als Lord Großkanzler und höchster Richter des Reichs, sich bei Civilprocessen oft bestechen ließ: angeklagt vor seinen Pairs bekannte er sich schuldig, wurde von ihnen ausgestoßen aus dem Hause der Lords und zu vierzigtausend Pfund Strafe, nebst Einsperrung in den Tower verurtheilt. (Siehe die Recension der neuen Ausgabe der Werke Bako's in der Edinburgh Review, August 1837.) Deshalb nennt ihn auch Pope the wisest, brightest, meanest of mankind Den weisesten, glänzendesten, niederträchtigsten der Menschen.. Essay on man, IV, 282. Ein ähnliches Beispiel liefert der Historiker Guicciardini, von welchem Rosini, in den, seinem Geschichtsroman Luisa Strozzi beigegebenen, aus guten, gleichzeitigen Quellen geschöpften Notizie storiche sagt: Da coloro, che pongono l'ingegno e il sapere al di sopra di tutte le umane qualità, questo uomo sarà riguardato come fra i più grandi del suo secolo: ma da quelli, che reputano la virtù dovere andare innanzi a tutto, non potra esecrarsi abbastanza la sua memoria. Esso fu il più crudele fra i cittadini a perseguitare, uccidere e confinare etc. Von Denen, welche Geist und Gelehrsamkeit über alle andern menschlichen Eigenschaften stellen, wird dieser Mann den größesten seines Jahrhunderts beigezählt werden: aber von Denen, welche die Tugend allem Andern vorgehen lassen, wird sein Andenken nie genug verflucht werden können. Er war der grausamste unter den Bürgern, im Verfolgen, Tödten und Verbannen.

Wenn nun von einem Menschen gesagt wird: »er hat ein gutes Herz, wiewohl einen schlechten Kopf«; von einem andern aber: »er hat einen sehr guten Kopf, jedoch ein schlechtes Herz«; so fühlt Jeder, daß beim Ersteren das Lob den Tadel weit überwiegt; beim Andern umgekehrt. Dem entsprechend sehen wir, wenn Jemand eine schlechte Handlung begangen hat, seine Freunde und ihn selbst bemüht, die Schuld vom Willen auf den Intellekt zu wälzen und Fehler des Herzens für Fehler des Kopfes auszugeben; schlechte Streiche werden sie Verirrungen nennen, werden sagen, es sei bloßer Unverstand gewesen, Unüberlegtheit, Leichtsinn, Thorheit; ja, sie werden zur Noth Paroxysmus, momentane Geistesstörung und, wenn es ein schweres Verbrechen betrifft, sogar Wahnsinn vorschützen, um nur den Willen von der Schuld zu befreien. Und eben so wir selbst, wenn wir einen Unfall oder Schaden verursacht haben, werden, vor Andern und vor uns selbst, sehr gern unsere stultitia anklagen, um nur dem Vorwurf der malitia auszuweichen. Dem entsprechend ist, bei gleich ungerechtem Urtheil des Richters, der Unterschied, ob er geirrt habe, oder bestochen gewesen sei, so himmelweit. Alles Dieses bezeugt genugsam, daß der Wille allein das Wirkliche und das Wesentliche, der Kern des Menschen ist, der Intellekt aber bloß sein Werkzeug, welches immerhin fehlerhaft seyn mag, ohne daß er dabei betheiligt wäre. Die Anklage des Unverstandes ist, vor dem moralischen Richterstuhle, ganz und gar keine; vielmehr giebt sie hier sogar Privilegien. Und eben so vor den weltlichen Gerichten ist es, um einen Verbrecher von aller Strafe zu befreien, überall hinreichend, daß man die Schuld von seinem Willen auf seinen Intellekt wälze, indem man entweder unvermeidlichen Irrthum, oder Geistesstörung nachweist: denn da hat es nicht mehr auf sich, als wenn Hand oder Fuß wider Willen ausgeglitten wären. Dies habe ich ausführlich erörtert in dem meiner Preisschrift über die Freiheit des Willens beigegebenen Anhang »über die intellektuale Freiheit«, wohin ich, um mich nicht zu wiederholen, hier verweise.

Ueberall berufen sich Die, welche irgend eine Leistung zu Tage fördern, im Fall solche ungenügend ausfällt, auf ihren guten Willen, an dem es nicht gefehlt habe. Hiedurch glauben sie das Wesentliche, das, wofür sie eigentlich verantwortlich sind, und ihr eigentliches Selbst sicher zu stellen: das Unzureichende der Fähigkeiten hingegen sehen sie an als den Mangel an einem tauglichen Werkzeug.

Ist Einer dumm, so entschuldigt man ihn damit, daß er nicht dafür kann: aber wollte man Den, der schlecht ist, eben damit entschuldigen; so würde man ausgelacht werden. Und doch ist das Eine, wie das Andere, angeboren. Dies beweist, daß der Wille der eigentliche Mensch ist, der Intellekt bloß sein Werkzeug.

Immer also ist es nur unser Wollen was als von uns abhängig, d. h. als Aeußerung unsers eigentlichen Wesens betrachtet wird und wofür man uns daher verantwortlich macht. Dieserhalb eben ist es absurd und ungerecht, wenn man uns für unsern Glauben, also für unsere Erkenntniß, zur Rede stellen will: denn wir sind genöthigt diese, obschon sie in uns waltet, anzusehen als etwas, das so wenig in unserer Gewalt steht, wie die Vorgänge der Außenwelt. Auch hieran also wird deutlich, daß der Wille allein das Innere und Eigene des Menschen ist, der Intellekt hingegen, mit seinen, gesetzmäßig wie die Außenwelt vor sich gehenden Operationen, zu jenem sich als ein Aeußeres, ein bloßes Werkzeug verhält.

Hohe Geistesgaben hat man allezeit angesehen als ein Geschenk der Natur, oder der Götter: ebendeshalb hat man sie Gaben, Begabung, ingenii dotes, gifts (a man highly gifted) genannt, sie betrachtend als etwas vom Menschen selbst Verschiedenes, ihm durch Begünstigung Zugefallenes. Nie hingegen hat man es mit den moralischen Vorzügen, obwohl auch sie angeboren sind, eben so genommen: vielmehr hat man diese stets angesehen als etwas vom Menschen selbst Ausgehendes, ihm wesentlich Angehöriges, ja, sein eigenes Selbst Ausmachendes. Hieraus nun folgt abermals, daß der Wille das eigentliche Wesen des Menschen ist, der Intellekt hingegen sekundär, ein Werkzeug, eine Ausstattung.

Diesem entsprechend verheißen alle Religionen für die Vorzüge des Willens, oder Herzens, einen Lohn jenseit des Lebens, in der Ewigkeit; keine aber für die Vorzüge des Kopfes, des Verstandes. Die Tugend erwartet ihren Lohn in jener Welt; die Klugheit hofft ihn in dieser; das Genie weder in dieser, noch in jener: es ist sein eigener Lohn. Demnach ist der Wille der ewige Theil, der Intellekt der zeitliche.

Verbindung, Gemeinschaft, Umgang zwischen Menschen gründet sich, in der Regel, auf Verhältnisse, die den Willen, selten auf solche, die den Intellekt betreffen: die erstere Art der Gemeinschaft kann man die materiale, die andere die formale nennen. Jener Art sind die Bande der Familie und Verwandtschaft, ferner alle auf irgend einem gemeinschaftlichen Zwecke, oder Interesse, wie das des Gewerbes, Standes, der Korporation, Partei, Faktion u. s. w. beruhenden Verbindungen. Bei diesen nämlich kommt es bloß auf die Gesinnung, die Absicht an; wobei die größte Verschiedenheit der intellektuellen Fähigkeiten und ihrer Ausbildung bestehen kann. Daher kann Jeder mit Jedem nicht nur in Frieden und Einigkeit leben, sondern auch zum gemeinsamen Wohl Beider mit ihm zusammen wirken und ihm verbündet seyn. Auch die Ehe ist ein Bund der Herzen, nicht der Köpfe. Anders aber verhält es sich mit der bloß formalen Gemeinschaft, als welche nur Gedankenaustausch bezweckt: diese verlangt eine gewisse Gleichheit der intellektuellen Fähigkeiten und der Bildung. Große Unterschiede hierin setzen zwischen Mensch und Mensch eine unübersteigbare Kluft: eine solche liegt z. B. zwischen einem großen Geist und einem Dummkopf, zwischen einem Gelehrten und einem Bauern, zwischen einem Hofmann und einem Matrosen. Dergleichen heterogene Wesen haben daher Mühe, sich zu verständigen, so lange es auf die Mittheilung von Gedanken, Vorstellungen und Ansichten ankommt. Nichtsdestoweniger kann enge materiale Freundschaft zwischen ihnen Statt finden, und sie können treue Verbündete, Verschworene und Verpflichtete seyn. Denn in Allem, was allein den Willen betrifft, wohin Freundschaft, Feindschaft, Redlichkeit, Treue, Falschheit und Verrath gehört, sind sie völlig homogen, aus demselben Teig geformt, und weder Geist noch Bildung machen darin einen Unterschied: ja, oft beschämt hier der Rohe den Gelehrten, der Matrose den Hofmann. Denn bei den verschiedensten Graden der Bildung bestehen die selben Tugenden und Laster, Affekte und Leidenschaften, und, wenn auch in ihren Aeußerungen etwas modificirt, erkennen sie sich doch, selbst in den heterogensten Individuen sehr bald gegenseitig, wonach die gleichgesinnten zusammentreten, die entgegengesetzten sich anfeinden.

Glänzende Eigenschaften des Geistes erwerben Bewunderung, aber nicht Zuneigung: diese bleibt den moralischen, den Eigenschaften des Charakters, vorbehalten. Zu seinem Freunde wird wohl Jeder lieber den Redlichen, den Gutmüthigen, ja selbst den Gefälligen, Nachgiebigen und leicht Beistimmenden wählen, als den bloß Geistreichen. Vor diesem wird sogar durch unbedeutende, zufällige, äußere Eigenschaften, welche gerade der Neigung eines Andern entsprechen, Mancher den Vorzug gewinnen. Nur wer selbst viel Geist hat, wird den Geistreichen zu seiner Gesellschaft wünschen; seine Freundschaft hingegen wird sich nach den moralischen Eigenschaften richten: denn auf diesen beruht seine eigentliche Hochschätzung eines Menschen, in welcher ein einziger guter Charakterzug große Mängel des Verstandes bedeckt und auslischt. Die erkannte Güte eines Charakters macht uns geduldig und nachgiebig gegen Schwächen des Verstandes, wie auch gegen die Stumpfheit und das kindische Wesen des Alters. Ein entschieden edler Charakter, bei gänzlichem Mangel intellektueller Vorzüge und Bildung, steht da, wie Einer, dem nichts abgeht; hingegen wird der größte Geist, wenn mit starken moralischen Fehlern behaftet, noch immer tadelhaft erscheinen. – Denn wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blaß und unscheinbar werden, so wird Geist, ja Genie, und ebenfalls die Schönheit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens. Wo diese in hohem Grade hervortritt, kann sie den Mangel jener Eigenschaften so sehr ersetzen, daß man solche vermißt zu haben sich schämt. Sogar der beschränkteste Verstand, wie auch die grotteske Häßlichkeit, werden, sobald die ungemeine Güte des Herzens sich in ihrer Begleitung kund gethan, gleichsam verklärt, umstrahlt von einer Schönheit höherer Art, indem jetzt aus ihnen eine Weisheit spricht, vor der jede andere verstummen muß. Denn die Güte des Herzens ist eine transscendente Eigenschaft, gehört einer über dieses Leben hinausreichenden Ordnung der Dinge an und ist mit jeder andern Vollkommenheit inkommensurabel. Wo sie in hohem Grade vorhanden ist, macht sie das Herz so groß, daß es die Welt umfaßt, so daß jetzt Alles in ihm, nichts mehr außerhalb liegt; da sie ja alle Wesen mit dem eigenen identificirt. Alsdann verleiht sie auch gegen Andere jene gränzenlose Nachsicht, die sonst Jeder nur sich selber widerfahren läßt. Ein solcher Mensch ist nicht fähig, sich zu erzürnen: sogar wenn etwan seine eigenen, intellektuellen oder körperlichen Fehler den boshaften Spott und Hohn Anderer hervorgerufen haben, wirft er, in seinem Herzen, nur sich selber vor, zu solchen Aeußerungen der Anlaß gewesen zu seyn, und fährt daher, ohne sich Zwang anzuthun, fort, Jene aus das liebreichste zu behandeln, zuversichtlich hoffend, daß sie von ihrem Irrthum hinsichtlich seiner zurückkommen und auch in ihm sich selber wiedererkennen werden. – Was ist dagegen Witz und Genie? was Bako von Verulam?

Auf das selbe Ergebniß, welches wir hier aus der Betrachtung unserer Schätzung Anderer erhalten haben, führt auch die der Schätzung des eigenen Selbst. Wie ist doch die in moralischer Hinsicht eintretende Selbstzufriedenheit so grundverschieden von der in intellektualer Hinsicht! Die erstere entsteht, indem wir, beim Rückblick auf unsern Wandel, sehen, daß wir mit schweren Opfern Treue und Redlichkeit geübt, daß wir Manchem geholfen, Manchem verziehen haben, besser gegen Andere gewesen sind, als diese gegen uns, so daß wir mit König Lear sagen dürfen: »Ich bin ein Mann, gegen den mehr gesündigt worden, als er gesündigt hat«; und vollends wenn vielleicht gar irgend eine edle That in unserer Rückerinnerung glänzt! Ein tiefer Ernst wird die stille Freude begleiten, die eine solche Musterung uns giebt: und wenn wir dabei Andere gegen uns zurückstehen sehen; so wird uns dies in keinen Jubel versetzen, vielmehr werden wir es bedauern und werden aufrichtig wünschen, sie wären alle wie wir. – Wie ganz anders wirkt hingegen die Erkenntniß unserer intellektuellen Ueberlegenheit! Ihr Grundbaß ist ganz eigentlich der oben angeführte Ausspruch des Hobbes: Omnis animi voluptas, omnisque alacritas in eo sita est, quod quis habeat, quibuscum conferens se, possit magnifice sentire de se ipso. Uebermüthige, triumphirende Eitelkeit, stolzes, höhnisches Herabsehen auf Andere, wonnevoller Kitzel des Bewußtseyns entschiedener und bedeutender Ueberlegenheit, dem Stolz auf körperliche Vorzüge verwandt, – das ist hier das Ergebniß. – Dieser Gegensatz zwischen beiden Arten der Selbstzufriedenheit zeigt an, daß die eine unser wahres inneres und ewiges Wesen, die andere einen mehr äußerlichen, nur zeitlichen, ja fast nur körperlichen Vorzug betrifft. Ist doch in der That der Intellekt die bloße Funktion des Gehirns, der Wille hingegen Das, dessen Funktion der ganze Mensch, seinem Seyn und Wesen nach, ist.

Erwägen wir, nach Außen blickend, daß ὁ βιος βϱαχυς, ἡ δε τεχνη μαχϱα ( vita brevis, ars longa.),und betrachten, wie die größten und schönsten Geister, oft wann sie kaum den Gipfel ihrer Leistungsfähigkeit erreicht haben, imgleichen große Gelehrte, wann sie eben erst zu einer gründlichen Einsicht ihrer Wissenschaft gelangt sind, vom Tode hinweggerafft werden; so bestätigt uns auch Dieses, daß der Sinn und Zweck des Lebens kein intellektualer, sondern ein moralischer ist.

Der durchgreifende Unterschied zwischen den geistigen und den moralischen Eigenschaften giebt sich endlich auch dadurch zu erkennen, daß der Intellekt höchst bedeutende Veränderungen durch die Zeit erleidet, während der Wille und Charakter von dieser unberührt bleibt. – Das Neugeborene hat noch gar keinen Gebrauch seines Verstandes, erlangt ihn jedoch, innerhalb der ersten zwei Monate, bis zur Anschauung und Apprehension der Dinge in der Außenwelt; welchen Vorgang ich in der Abhandlung »Ueber das Sehn und die Farben«, S. 10 der zweiten Auflage, näher dargelegt habe. Diesem ersten und wichtigsten Schritte folgt viel langsamer, nämlich meistens erst im dritten Jahre, die Ausbildung der Vernunft, bis zur Sprache und dadurch zum Denken. Dennoch bleibt die frühe Kindheit unwiderruflich der Albernheit und Dummheit preisgegeben: zunächst weil dem Gehirn noch die physische Vollendung fehlt, welche es sowohl seiner Größe als seiner Textur nach, erst im siebenten Jahre erreicht. Sodann aber ist zu seiner energischen Thätigkeit noch der Antagonismus des Genitalsystems erfordert; daher jene erst mit der Pubertät anfängt. Durch dieselbe aber hat alsdann der Intellekt erst die bloße Fähigkeit zu seiner psychischen Ausbildung erlangt: diese selbst kann allein durch Uebung, Erfahrung und Belehrung gewonnen werden. Sobald daher der Geist sich der kindischen Albernheit entwunden hat, geräth er in die Schlingen zahlloser Irrthümer, Vorurtheile, Chimären, mitunter von der absurdesten und krassesten Art, die er eigensinnig festhält, bis die Erfahrung sie ihm nach und nach entwindet, manche auch unvermerkt abhanden kommen: dieses Alles geschieht erst im Laufe vieler Jahre; so daß man ihm zwar die Mündigkeit bald nach dem zwanzigsten Jahre zugesteht, die vollkommene Reife jedoch erst ins vierzigste Jahr, das Schwabenalter, versetzt hat. Allein während diese psychische, auf Hülfe von außen beruhende Ausbildung noch im Wachsen ist, fängt die innere physische Energie des Gehirns bereits an wieder zu sinken. Diese nämlich hat, vermöge ihrer Abhängigkeit vom Blutandrang und der Einwirkung des Pulsschlages auf das Gehirn, und dadurch wieder vom Uebergewicht des arteriellen Systems über das venöse, wie auch von der frischen Zartheit der Gehirnfasern, zudem auch durch die Energie des Genitalsystems, ihren eigentlichen Kulminationspunkt um das dreißigste Jahr: schon nach dem fünfunddreißigsten wird eine leise Abnahme derselben merklich, die durch das allmälig herankommende Uebergewicht des venösen Systems über das arterielle, wie auch durch die immer fester und spröder werdende Konsistenz der Gehirnfasern, mehr und mehr eintritt und viel merklicher sein würde, wenn nicht andererseits die psychische Vervollkommnung, durch Uebung, Erfahrung, Zuwachs der Kenntnisse und erlangte Fertigkeit im Handhaben derselben, ihr entgegenwirkte; welcher Antagonismus glücklicherweise bis ins späte Alter fortdauert, indem mehr und mehr das Gehirn einem ausgespielten Instrumente zu vergleichen ist. Aber dennoch schreitet die Abnahme der ursprünglichen, ganz auf organischen Bedingungen beruhenden Energie des Intellekts zwar langsam, aber unaufhaltsam weiter: das Vermögen ursprünglicher Konception, die Phantasie, die Bildsamkeit, das Gedächtniß, werden merklich schwächer, und so geht es Schritt vor Schritt abwärts, bis hinab in das geschwätzige, gedächtnißlose, halb bewußtlose, endlich ganz kindische Alter.

Der Wille hingegen wird von allem diesem Werden, Wechsel und Wandel nicht mitgetroffen, sondern ist, vom Anfang bis zum Ende, unveränderlich der selbe. Das Wollen braucht nicht, wie das Erkennen, erlernt zu werden, sondern geht sogleich vollkommen von Statten. Das Neugeborene bewegt sich ungestüm, tobt und schreit: es will auf das heftigste; obschon es noch nicht weiß, was es will. Denn das Medium der Motive, der Intellekt, ist noch ganz unentwickelt: der Wille ist über die Außenwelt, wo seine Gegenstände liegen, im Dunkeln, und tobt jetzt wie ein Gefangener gegen die Wände und Gitter seines Kerkers. Doch allmälig wird es Licht: alsbald geben die Grundzüge des allgemeinen menschlichen Wollens und zugleich die hier vorhandene individuelle Modifikation derselben sich kund. Der schon hervortretende Charakter zeigt sich zwar erst in schwachen und schwankenden Zügen, wegen der mangelhaften Dienstleistung des Intellekts, der ihm die Motive vorzuhalten hat; aber für den aufmerksamen Beobachter kündigt er bald seine vollständige Gegenwart an, und in Kurzem wird sie unverkennbar. Die Charakterzüge treten hervor, welche auf das ganze Leben bleibend sind: die Hauptrichtungen des Willens, die leicht erregbaren Affekte, die vorherrschende Leidenschaft, sprechen sich aus. Daher verhalten die Vorfälle in der Schule sich zu denen des künftigen Lebenslaufes meistens wie das stumme Vorspiel, welches dem im Hamlet bei Hofe aufzuführenden Drama vorhergeht und dessen Inhalt pantomimisch verkündet, zu diesem selbst. Keineswegs aber lassen sich eben so aus den im Knaben sich zeigenden intellektuellen Fähigkeiten die künftigen prognosticiren: vielmehr werden die ingenia praecocia, die Wunderkinder, in der Regel Flachköpfe; das Genie hingegen ist in der Kindheit oft von langsamen Begriffen und faßt schwer, eben weil es tief faßt. Diesem entspricht es, daß Jeder lachend und ohne Rückhalt die Albernheiten und Dummheiten seiner Kindheit erzählt, z. B. Goethe, wie er alles Kochgeschirr zum Fenster hinausgeworfen (Dichtung und Wahrheit, Bd. 1, S. 7): denn man weiß, daß alles Dieses nur das Veränderliche betrifft. Hingegen die schlechten Züge, die boshaften und hinterlistigen Streiche seiner Jugend wird ein kluger Mann nicht zum Besten geben: denn er fühlt, daß sie auch von seinem gegenwärtigen Charakter noch Zeugniß ablegen. Man hat mir erzählt, daß der Kranioskop und Menschenforscher Gall, wann er mit einem ihm noch unbekannten Mann in Verbindung zu treten hatte, diesen auf seine Jugendjahre und Jugendstreiche zu sprechen brachte, um, wo möglich, daraus die Züge seines Charakters ihm abzulauschen; weil dieser auch jetzt noch derselbe seyn mußte. Eben hierauf beruht es, daß, während wir auf die Thorheiten und den Unverstand unserer Jugendjahre gleichgültig, ja mit lächelndem Wohlgefallen zurücksehen, die schlechten Charakterzüge eben jener Zeit, die damals begangenen Bosheiten und Frevel, selbst im späten Alter als unauslöschliche Vorwürfe dastehen und unser Gewissen beängstigen. – Wie nun also der Charakter sich fertig einstellt, so bleibt er auch bis ins späte Alter unverändert. Der Angriff des Alters, welcher die intellektuellen Kräfte allmälig verzehrt, läßt die moralischen Eigenschaften unberührt. Die Güte des Herzens macht den Greis noch verehrt und geliebt, wann sein Kopf schon die Schwächen zeigt, die ihn dem Kindesalter wieder m nähern anfangen. Sanftmuth, Geduld, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, Uneigennützigkeit, Menschenfreundlichkeit u. s. w. erhalten sich durch das ganze Leben und gehen nicht durch Altersschwäche verloren: in jedem hellen Augenblick des abgelebten Greises treten sie unvermindert hervor, wie die Sonne aus Winterwolken. Und andererseits bleibt Bosheit, Tücke, Habsucht, Hartherzigkeit, Falschheit, Egoismus und Schlechtigkeit jeder Art auch bis ins späteste Alter unvermindert. Wir würden Dem nicht glauben, sondern ihn auslachen, der uns sagte: »In frühern Jahren war ich ein boshafter Schurke, jetzt aber bin ich ein redlicher und edelmüthiger Mann.« Recht schön hat daher Walter Scott in Nigels fortunes am alten Wucherer gezeigt, wie brennender Geiz, Egoismus und Ungerechtigkeit noch in voller Blüthe stehen, gleich den Giftpflanzen im Herbst, und sich noch heftig äußern, nachdem der Intellekt schon kindisch geworden. Die einzigen Veränderungen, welche in unsern Neigungen vorgehen, sind solche, welche unmittelbare Folgen der Abnahme unserer Körperkräfte und damit der Fähigkeiten zum Genießen sind: so wird die Wollust der Völlerei Platz machen, die Prachtliebe dem Geiz, und die Eitelkeit der Ehrsucht; eben wie der Mann, welcher, ehe er noch einen Bart hatte, einen falschen anklebte, späterhin seinen grau gewordenen Bart braun färben wird. Während also alle organischen Kräfte, die Muskelstärke, die Sinne, das Gedächtniß, Witz, Verstand, Genie, sich abnutzen und im Alter stumpf werden, bleibt der Wille allein unversehrt und unverändert: der Drang und die Richtung des Wollens bleibt die selbe. Ja, in manchen Stücken zeigt sich im Alter der Wille noch entschiedener: so, in der Anhänglichkeit am Leben, welche bekanntlich zunimmt; sodann in der Festigkeit und Beharrlichkeit bei Dem, was er ein Mal ergriffen hat, im Eigensinn; welches daraus erklärlich ist, daß die Empfänglichkeit des Intellekts für andere Eindrücke und dadurch die Beweglichkeit des Willens durch hinzuströmende Motive abgenommen hat: daher die Unversöhnlichkeit des Zorns und Hasses alter Leute:

The young man's wrath is like light straw on fire;
But like red-hot steel is the old man's ire. (Old Ballad.)
Dem Strohfeu'r gleich, ist Jünglings Zorn nicht schlimm;
Rothglüh'ndem Eisen gleicht des Alten Grimm.

Aus allen diesen Betrachtungen wird es dem tiefern Blicke unverkennbar, daß, während der Intellekt eine lange Reihe allmäliger Entwickelungen zu durchlaufen hat, dann aber, wie alles Physische, dem Verfall entgegengeht, der Wille hieran keinen Theil nimmt, als nur sofern er Anfangs mit der Unvollkommenheit seines Werkzeuges, des Intellekts, und zuletzt wieder mit dessen Abgenutztheit zu kämpfen hat, selbst aber als ein Fertiges auftritt und unverändert bleibt, den Gesetzen der Zeit und des Werdens und Vergehns in ihr nicht unterworfen. Hiedurch also giebt er sich als das Metaphysische, nicht selbst der Erscheinungswelt Angehörige, zu erkennen.

9) Die allgemein gebrauchten und durchgängig sehr wohl verstandenen Ausdrücke Herz und Kopf sind aus einem richtigen Gefühl des hier in Rede stehenden fundamentalen Unterschiedes entsprungen; daher sie auch treffend und bezeichnend sind und in allen Sprachen sich wiederfinden. Nec cor nec caput habet, sagt Seneka vom Kaiser Klaudius. ( Ludus de morte Claudii Caesaris, c. 8.) Mit vollem Recht ist das Herz, dieses primum mobile des thierischen Lebens, zum Symbol, ja zum Synonym des Willens, als des Urkerns unserer Erscheinung, gewählt worden und bezeichnet diesen, im Gegensatz des Intellekts, der mit dem Kopf geradezu identisch ist. Alles, was, im weitesten Sinne, Sache des Willens ist, wie Wunsch, Leidenschaft, Freude, Schmerz, Güte, Bosheit, auch was man unter »Gemüth« zu verstehen pflegt, und was Homer durch φιλον ἠτοϱ ausdrückt, wird dem Herzen beigelegt. Demnach sagt man: er hat ein schlechtes Herz; – er hängt sein Herz an diese Sache; – es geht ihm vom Herzen; – es war ihm ein Stich ins Herz; – es bricht ihm das Herz; – sein Herz blutet; – das Herz hüpft vor Freude; – wer kann dem Menschen ins Herz sehen? – es ist herzzerreißend, herzzermalmend, herzbrechend, herzerhebend, herzrührend; – er ist herzensgut, – hartherzig, – herzlos, herzhaft, felgherzig u. a. m. Ganz speciell aber heißen Liebeshändel Herzensangelegenheiten, affaires de coeur; weil der Geschlechtstrieb der Brennpunkt des Willens ist und die Auswahl in Bezug auf denselben die Hauptangelegenheit des natürlichen menschlichen Wollens ausmacht, wovon ich den Grund in einem ausführlichen Kapitel zum vierten Buche nachweisen werde. Byron, im »Don Juan«, C. 11, v. 34, satyrisirt darüber, daß den Damen die Liebe, statt Sache des Herzens, Sache des Kopfes sei. – Hingegen bezeichnet der Kopf Alles, was Sache der Erkenntniß ist. Daher: ein Mann von Kopf, ein kluger Kopf, feiner Kopf, schlechter Kopf, den Kopf verlieren, den Kopf oben behalten u. s. w. Herz und Kopf bezeichnet den ganzen Menschen. Aber der Kopf ist stets das Zweite, das Abgeleitete: denn er ist nicht das Centrum, sondern die höchste Efflorescenz des Leibes. Wann ein Held stirbt, balsamirt man sein Herz ein, nicht sein Gehirn: hingegen bewahrt man gern den Schädel der Dichter, Künstler und Philosophen. So wurde in der Academia di S. Luca zu Rom Raphaels Schädel aufbewahrt, ist jedoch kürzlich als unächt nachgewiesen worden: in Stockholm wurde 1820 der Schädel des Cartesius in Auktion verkauft Times vom 18. Oktober 1845; nach dem Athenaeum..

Ein gewisses Gefühl des wahren Verhältnisses zwischen Willen, Intellekt, Leben, ist auch in der Lateinischen Sprache ausgedrückt. Der Intellekt ist mens, νους; der Wille hingegen ist animus; welches von anima kommt, und dieses von ανεμων. Anima ist das Leben selbst, der Athem, ψυχη: animus aber ist das belebende Princip und zugleich der Wille, das Subjekt der Neigungen, Absichten, Leidenschaften und Affekte: daher auch est mihi animus, – fert animus, – für »ich habe Lust«, auch animi causa u. a.m., es ist das Griechische ϑυμος, also Gemüth, nicht aber Kopf. Animi perturbatio ist der Affekt, mentis perturbatio würde Verrücktheit bedeuten. Das Prädikat immortalis wird dem animus beigelegt, nicht der mens. Alles dies ist die aus der großen Mehrzahl der Stellen hervorgehende Regel; wenn gleich, bei so nahe verwandten Begriffen, es nicht fehlen kann, daß die Worte bisweilen verwechselt werden. Unter ψυχη scheinen die Griechen zunächst und ursprünglich die Lebenskraft verstanden zu haben, das belebende Princip; wobei sogleich die Ahndung aufstieg, daß es ein Metaphysisches seyn müsse, folglich vom Tode nicht mitgetroffen würde. Dies beweisen, unter Anderm, die von Stobäos aufbewahrten Untersuchungen des Verhältnisses zwischen νους und ψυχη (Ecl., Lib. I, c. 51, §. 7, 8.)

10) Worauf beruht die Identität der Person? – Nicht auf der Materie des Leibes: sie ist nach wenigen Jahren eine andere. Nicht auf der Form desselben: sie ändert sich im Ganzen und in allen Theilen; bis auf den Ausdruck des Blickes, an welchem man daher auch nach vielen Jahren einen Menschen noch erkennt; welches beweist, daß trotz allen Veränderungen, die an ihm die Zeit hervorbringt, doch etwas in ihm davon völlig unberührt bleibt: es ist eben Dieses, woran wir, auch nach dem längsten Zwischenraume, ihn wiedererkennen und den Ehemaligen unversehrt wiederfinden; eben so auch uns selbst: denn wenn man auch noch so alt wird; so fühlt man doch im Innern sich ganz und gar als den selben, der man war, als man jung, ja, als man noch ein Kind war. Dieses, was unverändert stets ganz das Selbe bleibt und nicht mitaltert, ist eben der Kern unsers Wesens, welcher nicht in der Zeit liegt. – Man nimmt an, die Identität der Person beruhe auf der des Bewußtseyns. Versteht man aber unter dieser bloß die zusammenhängende Erinnerung des Lebenslaufs; so ist sie nicht ausreichend. Wir wissen von unserm Lebenslauf allenfalls etwas mehr, als von einem ehemals gelesenen Roman; dennoch nur das Allerwenigste. Die Hauptbegebenheiten, die interessanten Scenen haben sich eingeprägt: im Uebrigen sind tausend Vorgänge vergessen, gegen einen, der behalten worden. Je älter wir werden, desto spurloser geht Alles vorüber. Hohes Alter, Krankheit, Gehirnverletzung, Wahnsinn, können das Gedächtnis ganz rauben. Aber die Identität der Person ist damit nicht verloren gegangen. Sie beruht auf dem identischen Willen und dem unveränderlichen Charakter desselben. Er eben auch ist es, der den Ausdruck des Blicks unveränderlich macht. Im Herzen steckt der Mensch, nicht im Kopf. Zwar sind wir, in Folge unserer Relation mit der Außenwelt, gewohnt, als unser eigentliches Selbst das Subjekt des Erkennens, das erkennende Ich, zu betrachten, welches am Abend ermattet, im Schlafe verschwindet, am Morgen mit erneuerten Kräften heller strahlt. Dieses ist jedoch die bloße Gehirnfunktion und nicht unser eigenstes Selbst. Unser wahres Selbst, der Kern unsers Wesens, ist Das, was hinter jenem steckt und eigentlich nichts Anderes kennt, als wollen und nichtwollen, zufrieden und unzufrieden sehn, mit allen Modifikationen der Sache, die man Gefühle, Affekte und Leidenschaften nennt. Dies ist Das, was jenes Andere hervorbringt; nicht mitschläft, wann jenes schläft, und ebenso, wann dasselbe im Tode untergeht, unversehrt bleibt.– Alles hingegen, was der Erkenntniß angehört, ist der Vergessenheit ausgesetzt: selbst die Handlungen von moralischer Bedeutsamkeit sind uns, nach Jahren, bisweilen nicht vollkommen erinnerlich, und wir wissen nicht mehr genau und ins Einzelne, wie wir in einem kritischen Fall gehandelt haben. Aber der Charakter selbst, von dem die Thaten bloß Zeugniß ablegen, kann von uns nicht vergessen werden: er ist jetzt noch ganz derselbe, wie damals. Der Wille selbst, allein und für sich, beharrt: denn er allein ist unveränderlich, unzerstörbar, nicht alternd, nicht physisch, sondern metaphysisch, nicht zur Erscheinung gehörig, sondern das Erscheinende selbst. Wie auf ihm auch die Identität des Bewußtseyns, so weit sie geht, beruht, habe ich oben, Kapitel 15, nachgewiesen, brauche mich also hier nicht weiter damit aufzuhalten.

11) Aristoteles sagt beiläufig, im Buch über die Begleichung des Wünschenswerten: »gut leben ist besser als leben« (βελτιον του ζην το ευ ζην, Top. III, 2). Hieraus ließe sich, mittelst zweimaliger Kontraposition, folgern: nicht leben ist besser als schlecht leben. Dies ist dem Intellekt auch einleuchtend: dennoch leben die Allermeisten sehr schlecht, lieber als gar nicht. Diese Anhänglichkeit an das Leben kann also nicht im Objekt derselben ihren Grund haben, da das Leben, wie im vierten Buche gezeigt worden, eigentlich ein stetes Leiden, oder wenigstens, wie weiter unten, Kapitel 28 dargethan wird, ein Geschäft ist, welches die Kosten nicht deckt: also kann jene Anhänglichkeit nur im Subjekt derselben gegründet seyn. Sie ist aber nicht im Intellekt begründet, ist keine Folge der Ueberlegung, und überhaupt keine Sache der Wahl; sondern dies Lebenwollen ist etwas, das sich von selbst versteht: es ist ein prius des Intellekts selbst. Wir selbst sind der Wille zum Leben: daher müssen wir leben, gut oder schlecht. Nur daraus, daß diese Anhänglichkeit an ein Leben, welches ihrer so wenig Werth ist, ganz a priori und nicht a posteriori ist, erklärt sich die allem Lebenden einwohnende, überschwängliche Todesfurcht, welche Rochefoucauld mit seltener Freimüthigkeit und Naivetät, in seiner letzten Reflexion, ausgesprochen hat, und auf der auch die Wirksamkeit aller Trauerspiele und Heldenthaten zuletzt beruht, als welche wegfallen würde, wenn wir das Leben nur nach seinem objektiven Werthe schätzten. Auf diesen unaussprechlichen horror mortis gründet sich auch der Lieblingssatz aller gewöhnlichen Köpfe, daß wer sich das Leben nimmt verrückt seyn müsse, nicht weniger jedoch das mit einer gewissen Bewunderung verknüpfte Erstaunen, welches diese Handlung, selbst in denkenden Köpfen, jedes Mal hervorruft, weil dieselbe der Natur alles Lebenden so sehr entgegenläuft, daß wir Den, welcher sie zu vollbringen vermochte, in gewissem Sinne bewundern müssen, ja sogar eine gewisse Beruhigung darin finden, daß, auf die schlimmsten Fälle, dieser Ausweg wirklich offen steht, als woran wir zweifeln könnten, wenn es nicht die Erfahrung bestätigte. Denn der Selbstmord geht von einem Beschlusse des Intellekts aus: unser Lebenwollen aber ist ein prius des Intellekts. – Auch diese Betrachtung also, welche Kapitel 28 ausführlich zur Sprache kommt, bestätigt das Primat des Willens im Selbstbewußtseyn.

12) Hingegen beweist nichts deutlicher die sekundäre, abhängige, bedingte Natur des Intellekts, als seine periodische Intermittenz. Im tiefen Schlaf hört Alles Erkennen und Vorstellen gänzlich auf. Allein der Kern unsers Wesens, das Metaphysische desselben, welches die organischen Funktionen als ihr primum mobile nothwendig voraussetzen, darf nie pausiren, wenn nicht das Leben aufhören soll, und ist auch, als ein Metaphysisches, mithin Unkörperliches, keiner Ruhe bedürftig. Daher haben die Philosophen, welche als diesen metaphysischen Kern eine Seele, d. h. ein ursprünglich und wesentlich erkennendes Wesen aufstellten, sich zu der Behauptung genöthigt gesehen, daß diese Seele in ihrem Vorstellen und Erkennen ganz unermüdlich sei, solches mithin auch im tiefsten Schlafe fortsetze; nur daß uns, nach dem Erwachen, keine Erinnerung davon bliebe. Das Falsche dieser Behauptung einzusehen wurde aber leicht, sobald man, in Folge der Lehre Kants, jene Seele bei Seite gesetzt hatte. Denn Schlaf und Erwachen zeigen dem unbefangenen Sinn auf das deutlichste, daß das Erkennen eine sekundäre und durch den Organismus bedingte Funktion ist, so gut wie irgend eine andere. Unermüdlich ist allein das Herz; weil sein Schlag und der Blutumlauf nicht unmittelbar durch Nerven bedingt, sondern eben die ursprüngliche Aeußerung des Willens sind. Auch alle andern, bloß durch Gangliennerven, die nur eine sehr mittelbare und entfernte Verbindung mit dem Gehirn haben, gelenkte, physiologische Funktionen werden im Schlafe fortgesetzt, wiewohl die Sekretionen langsamer geschehen: selbst der Herzschlag wird, wegen seiner Abhängigkeit von der Respiration, als welche durch das Cerebralsystem ( medulla oblongata) bedingt ist, mit dieser ein wenig langsamer. Der Magen ist vielleicht im Schlaf am thätigsten, welches seinem speciellen, gegenseitige Störungen veranlassenden Consensus mit dem jetzt feiernden Gehirn zuzuschreiben ist. Das Gehirn allein, und mit ihm das Erkennen, pausirt im tiefen Schlafe ganz. Denn es ist bloß das Ministerium des Aeußern, wie das Gangliensystem das Ministerium des Innern ist. Das Gehirn, mit seiner Funktion des Erkennens, ist nichts weiter, als eine vom Willen, zu seinen draußen liegenden Zwecken, aufgestellte Vedette, welche oben, auf der Warte des Kopfes, durch die Fenster der Sinne umherschaut, aufpaßt, von wo Unheil drohe und wo Nutzen abzusehen sei, und nach deren Bericht der Wille sich entscheidet. Diese Vedette ist dabei, wie jeder im aktiven Dienst Begriffene, in einem Zustande der Spannung und Anstrengung, daher sie es gern sieht, wenn sie, nach verrichteter Wacht, wieder eingezogen wird; wie jede Wache gern wieder vom Posten abzieht. Dies Abziehn ist das Einschlafen, welches daher so süß und angenehm ist und zu welchem wir so willfährig sind: hingegen ist das Aufgerütteltwerden unwillkommen, weil es die Vedette plötzlich wieder auf den Posten ruft: man fühlt dabei ordentlich die nach der wohltätigen Systole wieder eintretende beschwerliche Diastole, das Wiederauseinanderfahren des Intellekts vom Willen. Einer sogenannten Seele, die ursprünglich und von Hause aus ein erkennendes Wesen wäre, mußte, im Gegentheil, beim Erwachen zu Muthe seyn, wie dem Fisch, der wieder ins Wasser kommt. Im Schlafe, wo bloß das vegetative Leben fortgesetzt wird, wirkt der Wille allein nach seiner ursprünglichen und wesentlichen Natur, ungestört von außen, ohne Abzug seiner Kraft durch die Thätigkeit des Gehirns und Anstrengung des Erkennens, welches die schwerste organische Funktion, für den Organismus aber bloß Mittel, nicht Zweck ist: daher ist im Schlafe die ganze Kraft des Willens auf Erhaltung und, wo es nöthig ist, Ausbesserung des Organismus gerichtet; weshalb alle Heilung, alle wohlthätigen Krisen, im Schlaf erfolgen; indem die vis naturae medicatrix erst dann freies Spiel hat, wann sie von der Last der Erkenntnißfunktion befreit ist. Der Embryo, welcher gar erst den Leib noch zu bilden hat, schläft daher fortwährend und das Neugeborene den größten Theil seiner Zeit. In diesem Sinne erklärt auch Burdach (Physiologie, Bd. 3, S. 484) ganz richtig den Schlaf für den ursprünglichen Zustand.

In Hinsicht auf das Gehirn selbst erkläre ich mir die Nothwendigkeit des Schlafes näher durch eine Hypothese, welche zuerst aufgestellt zu seyn scheint in Neumanns Buch »Von den Krankheiten des Menschen«, 1834, Bd. 4, §. 216. Es ist diese, daß die Nutrition des Gehirns, also die Erneuerung seiner Substanz aus dem Blute, während des Wachens nicht vor sich gehen kann; indem die so höchst eminente, organische Funktion des Erkennens und Denkens von der so niedrigen und materiellen der Nutrition gestört oder aufgehoben werden würde. Hieraus erklärt sich, daß der Schlaf nicht ein rein negativer Zustand, bloßes Pausiren der Gehirnthätigkeit, ist, sondern zugleich einen positiven Charakter zeigt. Dieser giebt sich schon dadurch kund, daß zwischen Schlaf und Wachen kein bloßer Unterschied des Grades, sondern eine feste Gränze ist, welche, sobald der Schlaf eintritt, sich durch Traumbilder ankündigt, die unsern dicht vorhergegangenen Gedanken völlig heterogen sind. Ein fernerer Beleg desselben ist, daß wann wir beängstigende Träume haben, wir vergeblich bemüht sind, zu schreien, oder Angriffe abzuwehren, oder den Schlaf abzuschütteln; so daß es ist, als ob das Bindeglied zwischen dem Gehirn und den motorischen Nerven, oder zwischen dem großen und kleinen Gehirn (als dem Regulator der Bewegungen) ausgehoben wäre: denn das Gehirn bleibt in seiner Isolation, und der Schlaf hält uns wie mit ehernen Klauen fest. Endlich ist der positive Charakter des Schlafes daran ersichtlich, daß ein gewisser Grad von Kraft zum Schlafen erfordert ist; weshalb zu große Ermüdung, wie auch natürliche Schwäche, uns verhindern ihn zu erfassen, capere somnum. Dies ist daraus zu erklären, daß der Nutritionsproceß eingeleitet werden muß, wenn Schlaf eintreten soll: das Gehirn muß gleichsam anbeißen. Auch das vermehrte Zuströmen des Blutes ins Gehirn, während des Schlafes, ist aus dem Nutritionsproceß erklärlich; wie auch die, weil sie dieses befördert, instinktmäßig angenommene Lage der über den Kopf zusammengelegten Arme; desgleichen, warum Kinder, so lange das Gehirn noch wächst, sehr vielen Schlafes bedürfen, im Greisenalter hingegen, wo eine gewisse Atrophie des Gehirns, wie aller Theile, eintritt, der Schlaf karg wird; endlich sogar, warum übermäßiger Schlaf eine gewisse Dumpfheit des Bewußtseyns bewirkt, nämlich in Folge einer einstweiligen Hypertrophie des Gehirns, welche, bei habituellem Uebermaaß des Schlafes, auch zu einer dauernden werden und Blödsinn erzeugen kann: ανιη χαι πολυς ὑπνος ( noxae est etiam multus somnus). Od. 15, 394. – Das Bedürfniß des Schlafes steht demgemäß in geradem Verhältniß zur Intensität des Gehirnlebens, also zur Klarheit des Bewußtseyns. Solche Thiere, deren Gehirnleben schwach und dumpf ist, schlafen wenig und leicht, z. B. Reptilien und Fische: wobei ich erinnere, daß der Winterschlaf fast nur dem Namen nach ein Schlaf ist, nämlich nicht eine Inaktion des Gehirns allein, sondern des ganzen Organismus, also eine Art Scheintod. Thiere von bedeutender Intelligenz schlafen tief und lange. Auch Menschen bedürfen um so mehr Schlaf, je entwickelter, der Quantität und Qualität nach, und je thätiger ihr Gehirn ist. Montaigne erzählt von sich, daß er stets ein Langschläfer gewesen, einen großen Theil seines Lebens verschlafen habe und noch im hohem Alter acht bis neun Stunden in Einem Zuge schlafe ( Liv. III, ch. 13). Auch von Cartesius wird uns berichtet, daß er viel geschlafen habe ( Baillet, Vie de Descartes, 1693, p. 288). Kant hatte sich zum Schlaf sieben Stunden ausgesetzt: aber damit auszukommen wurde ihm so schwer, daß er seinem Bedienten befohlen hatte, ihn wider Willen und ohne auf seine Gegenreden zu hören, zur bestimmten Zeit zum Aufstehen zu zwingen ( Jachmann, Immanuel Kant, S. 162). Denn je vollkommener wach Einer ist, d. h. je klärer und aufgeweckter sein Bewußtseyn, desto größer ist für ihn die Nothwendigkeit des Schlafes, also desto tiefer und länger schläft er. Vieles Denken, oder angestrengte Kopfarbeit wird demnach das Bedürfniß des Schlafes vermehren. Daß auch fortgesetzte Muskelanstrengung schläfrig macht, ist daraus zu erklären, daß bei dieser das Gehirn fortdauernd, mittelst der medulla oblongata, des Rückenmarks und der motorischen Nerven, den Muskeln den Reiz ertheilt, der auf ihre Irritabilität wirkt, dasselbe also dadurch seine Kraft erschöpft: die Ermüdung, welche wir in Armen und Beinen spüren, hat demnach ihren eigentlichen Sitz im Gehirn; eben wie der Schmerz, den eben diese Theile fühlen, eigentlich im Gehirn empfunden wird: denn es verhält sich mit den motorischen, wie mit den sensibeln Nerven. Die Muskeln, welche nicht vom Gehirn aktuirt werden, z. B. die des Herzens, ermüden eben deshalb nicht. Aus dem selben Grunde ist es erklärlich, daß man sowohl während, als nach großer Muskelanstrengung nicht scharf denken kann. Daß man im Sommer viel weniger Energie des Geistes hat, als im Winter, ist zum Theil daraus erklärlich, daß man im Sommer weniger schläft: denn je tiefer man geschlafen hat, desto vollkommener wach, desto »aufgeweckter« ist man nachher. Dies darf uns jedoch nicht verleiten, den Schlaf über die Gebühr zu verlängern; weil er alsdann an Intension, d. h. Tiefe und Festigkeit, verliert, was er an Extension gewinnt; wodurch er zum bloßen Zeitverlust wird. Dies meint auch Goethe, wenn er (im zweiten Theil des »Faust«) vom Morgenschlummer sagt: »Schlaf ist Schaale: wirf sie fort.« – Ueberhaupt also bestätigt das Phänomen des Schlafes ganz vorzüglich, daß Bewußtseyn, Wahrnehmen, Erkennen, Denken, nichts Ursprüngliches in uns ist, sondern ein bedingter, sekundärer Zustand. Es ist ein Aufwand der Natur, und zwar ihr höchster, den sie daher, je höher er getrieben worden, desto weniger ohne Unterbrechung fortführen kann. Es ist das Produkt, die Efflorescenz des cerebralen Nervensystems, welches selbst, wie ein Parasit, vom übrigen Organismus genährt wird. Dies hängt auch mit Dem zusammen, was in unserm dritten Buche gezeigt wird, daß das Erkennen um so reiner und vollkommener ist, je mehr es sich vom Willen losgemacht und gesondert hat, wodurch die rein objektive, die ästhetische Auffassung eintritt; eben wie ein Extrakt um so reiner ist, je mehr er sich von dem, woraus er abgezogen worden, gesondert und von allem Bodensatz geläutert hat. – Den Gegensatz zeigt der Wille, dessen unmittelbarste Aeußerung das ganze organische Leben und zunächst das unermüdliche Herz ist.

Diese letzte Betrachtung ist schon dem Thema des folgenden Kapitels verwandt, zu dem sie daher den Uebergang macht: ihr gehört jedoch noch folgende Bemerkung an. Im magnetischen Somnambulismus verdoppelt sich das Bewußtseyn: zwei, jede in sich selbst zusammenhängende, von einander aber völlig geschiedene Erkenntnißreihen entstehen; das wachende Bewußtseyn weiß nichts vom somnambulen. Aber der Wille behält in beiden denselben Charakter und bleibt durchaus identisch: er äußert in beiden die selben Neigungen und Abneigungen. Denn die Funktion läßt sich verdoppeln, nicht das Wesen an sich.

 


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