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Kapitel 31.
Vom Genie.

Dieses Kapitel bezieht sich auf §. 36 des ersten Bandes.

Die überwiegende Fähigkeit zu der in den beiden vorhergegangenen Kapiteln geschilderten Erkenntnißweise, aus welcher alle ächten Werke der Künste, der Poesie und selbst der Philosophie entspringen, ist es eigentlich, die man mit dem Namen des Genies bezeichnet. Da dieselbe demnach zu ihrem Gegenstande die Platonischen Ideen hat, diese aber nicht in abstracto, sondern nur anschaulich aufgefaßt werden; so muß das Wesen des Genies in der Vollkommenheit und Energie der anschauenden Erkenntniß liegen. Dem entsprechend hören wir als Werke des Genies am entschiedensten solche bezeichnen, welche unmittelbar von der Anschauung ausgehen und an die Anschauung sich wenden, also die der bildenden Künste, und nächstdem die der Poesie, welche ihre Anschauungen durch die Phantasie vermittelt. – Auch macht sich schon hier die Verschiedenheit des Genies vom bloßen Talent bemerkbar, als welches ein Vorzug ist, der mehr in der größern Gewandtheit und Schärfe der diskursiven, als der intuitiven Erkenntniß liegt. Der damit Begabte denkt rascher und richtiger als die Uebrigen; das Genie hingegen schaut eine andere Welt an, als sie Alle, wiewohl nur indem es in die auch ihnen vorliegende tiefer hineinschaut, weil sie in seinem Kopfe sich objektiver, mithin reiner und deutlicher darstellt.

Der Intellekt ist, seiner Bestimmung nach, bloß das Medium der Motive: demzufolge faßt er ursprünglich an den Dingen nichts weiter auf, als ihre Beziehungen zum Willen, die direkten, die indirekten, die möglichen. Bei den Thieren, wo es fast ganz bei den direkten bleibt, ist eben darum die Sache am augenfälligsten: was auf ihren Willen keinen Bezug hat, ist für sie nicht da. Deshalb sehen wir bisweilen mit Verwunderung, daß selbst kluge Thiere etwas an sich Auffallendes gar nicht bemerken, z. B. über augenfällige Veränderungen an unserer Person oder Umgebung kein Befremden äußern. Beim Normalmenschen kommen nun zwar die indirekten, ja die möglichen Beziehungen zum Willen hinzu, deren Summe den Inbegriff der nützlichen Kenntnisse ausmacht; aber in den Beziehungen bleibt auch hier die Erkenntniß stecken. Daher eben kommt es im normalen Kopfe nicht zu einem ganz rein objektiven Bilde der Dinge; weil seine Anschauungskraft, sobald sie nicht vom Willen angespornt und in Bewegung gesetzt wird, sofort ermattet und unthätig wird, indem sie nicht Energie genug hat, um aus eigener Elasticität und zwecklos die Welt rein objektiv aufzufassen. Wo hingegen dies geschieht, wo die vorstellende Kraft des Gehirns einen solchen Ueberschuß hat, daß ein reines, deutliches, objektives Bild der Außenwelt sich zwecklos darstellt, als welches für die Absichten des Willens unnütz, in den höheren Graden sogar störend ist, und selbst ihnen schädlich werden kann; – da ist schon, wenigstens die Anlage zu jener Abnormität vorhanden, die der Name des Genies bezeichnet, welcher andeutet, daß hier ein dem Willen, d. i. dem eigentlichen Ich, Fremdes, gleichsam ein von Außen hinzukommender Genius, thätig zu werden scheint. Aber ohne Bild zu reden: das Genie besteht darin, daß die erkennende Fähigkeit bedeutend stärkere Entwickelung erhalten hat, als der Dienst des Willens, zu welchem allein sie ursprünglich entstanden ist, erfordert. Daher könnte, der Strenge nach, die Physiologie einen solchen Ueberschuß der Gehirnthätigkeit und mit ihr des Gehirns selbst, gewissermaaßen den monstris per excessum beizählen, welche sie bekanntlich den monstris per defectum und denen per situm mutatum nebenordnet. Das Genie besteht also in einem abnormen Uebermaaß des Intellekts, welches seine Benutzung nur dadurch finden kann, daß es auf das Allgemeine des Daseyns verwendet wird; wodurch es alsdann dem Dienste des ganzen Menschengeschlechts obliegt, wie der normale Intellekt dem des Einzelnen. Um die Sache recht faßlich zu machen, könnte man sagen: wenn der Normalmensch aus 2/3 Wille und 1/3 Intellekt besteht; so hat hingegen das Genie 2/3 Intellekt und 1/3 Wille. Dies ließe sich dann noch durch ein chemisches Gleichniß erläutern: die Basis und die Säure eines Mittelsalzes unterscheiden sich dadurch, daß in jeder von Beiden das Radikal zum Oxygen das umgekehrte Verhältniß von dem im andern, hat. Die Basis nämlich, oder das Alkali, ist dies dadurch, daß in ihr das Radikal überwiegend ist gegen das Oxygen, und die Säure ist dies dadurch, daß in ihr das Oxygen das Ueberwiegende ist. Eben so nun Verhalten sich, in Hinsicht auf Willen und Intellekt, Normalmensch und Genie. Daraus entspringt zwischen ihnen ein durchgreifender Unterschied, der schon in ihrem ganzen Wesen, Thun und Treiben sichtbar ist, recht eigentlich aber in ihren Leistungen an den Tag tritt. Noch könnte man als Unterschied hinzufügen, daß, während jener totale Gegensatz zwischen den chemischen Stoffen die stärkste Wahlverwandtschaft und Anziehung zu einander begründet, beim Menschengeschlecht eher das Gegentheil sich einzufinden pflegt.

Die zunächst liegende Aeußerung, welche ein solcher Uberschuß der Erkenntnißkraft hervorruft, zeigt sich meistentheils in der ursprünglichsten und grundwesentlichsten, d. i. der anschauenden Erkenntniß, und veranlaßt die Wiederholung derselben in einem Bilde: so entsteht der Maler und der Bildhauer. Bei diesen ist demnach der Weg zwischen der genialen Auffassung und der künstlerischen Produktion der kürzeste: daher ist die Form, in welcher hier das Genie und seine Thätigkeit sich darstellt, die einfachste und seine Beschreibung am leichtesten. Dennoch ist eben hier die Quelle nachgewiesen, aus welcher alle ächten Produktionen, in jeder Kunst, auch in der Poesie, ja, in der Philosophie, ihren Ursprung nehmen; wiewohl dabei der Hergang nicht so einfach ist.

Man erinnere sich hier des im ersten Buche erhaltenen Ergebnisses, daß alle Anschauung intellektuell ist und nicht bloß sensual. Wenn man nun die hier gegebene Auseinandersetzung dazu bringt und zugleich auch billig berücksichtigt, daß die Philosophie des vorigen Jahrhunderts das anschauende Erkenntnißvermögen mit dem Namen der »untern Seelenkräfte« bezeichnete; so wird man, daß Adelung, welcher die Sprache seiner Zeit reden mußte, das Genie in »eine merkliche Stärke der untern Seelenkräfte« setzte, doch nicht so grundabsurd, noch des bittern Hohnes würdig finden, womit Jean Paul, in seiner Vorschule der Aesthetik, es anführt. So große Vorzüge das eben erwähnte Werk dieses bewundrungswürdigen Mannes auch hat; so muß ich doch bemerken, daß überall, wo eine theoretische Erörterung und überhaupt Belehrung der Zweck ist, die beständig witzelnde und in lauter Gleichnissen einherschreitende Darstellung nicht die angemessene seyn kann.

Die Anschauung nun aber ist es, welcher zunächst das eigentliche und wahre Wesen der Dinge, wenn auch noch bedingter Weise, sich ausschließt und offenbart. Alle Begriffe, alles Gedachte, sind ja nur Abstraktionen, mithin Theilvorstellungen aus jener, und bloß durch Wegdenken entstanden. Alle tiefe Erkenntniß, sogar die eigentliche Weisheit, wurzelt in der anschaulichen Auffassung der Dinge; wie wir dies in den Ergänzungen zum ersten Buch ausführlich betrachtet haben. Eine anschauliche Auffassung ist allemal der Zeugungsproceß gewesen, in welchem jedes ächte Kunstwerk, jeder unsterbliche Gedanke, den Lebensfunken erhielt. Alles Urdenken geschieht in Bildern. Aus Begriffen hingegen entspringen die Werke des bloßen Talents, die bloß vernünftigen Gedanken, die Nachahmungen und überhaupt alles auf das gegenwärtige Bedürfniß und die Zeitgenossenschaft allein Berechnete.

Wäre nun aber unsere Anschauung stets an die reale Gegenwart der Dinge gebunden; so würde ihr Stoff gänzlich unter der Herrschaft des Zufalls stehen, welcher die Dinge selten zur rechten Zeit herbeibringt, selten zweckmäßig ordnet und meistens sie in sehr mangelhaften Exemplaren uns vorführt. Deshalb bedarf es der Phantasie, um alle bedeutungsvollen Bilder des Lebens zu vervollständigen, zu ordnen, auszumalen, festzuhalten und beliebig zu wiederholen, je nachdem es die Zwecke einer tief eindringenden Erkenntniß und des bedeutungsvollen Werkes, dadurch sie mitgetheilt werden soll, erfordern. Hierauf beruht der hohe Werth der Phantasie, als welche ein dem Genie unentbehrliches Werkzeug ist. Denn nur vermöge derselben kann dieses, je nach den Erfordernissen des Zusammenhanges seines Bildens, Dichtens, oder Denkens, jeden Gegenstand oder Vorgang sich in einem lebhaften Bilde vergegenwärtigen und so stets frische Nahrung aus der Urquelle aller Erkenntniß, dem Anschaulichen, schöpfen. Der Phantasiebegabte vermag gleichsam Geister zu citiren, die ihm, zur rechten Zeit, die Wahrheiten offenbaren, welche die nackte Wirklichkeit der Dinge nur schwach, nur selten und dann meistens zur Unzeit darlegt. Zu ihm verhält sich daher der Phantasielose, wie zum freibeweglichen, ja geflügelten Thiere die an ihren Felsen gekittete Muschel, welche abwarten muß, was der Zufall ihr zuführt. Denn ein Solcher kennt keine andere, als die wirkliche Sinnesanschauung: bis sie kommt nagt er an Begriffen und Abstraktionen, welche doch nur Schaalen und Hülsen, nicht der Kern der Erkenntniß sind. Er wird nie etwas Großes leisten; es wäre denn im Rechnen und der Mathematik. – Die Werke der bildenden Künste und der Poesie, imgleichen die Leistungen der Mimik, können auch angesehen werden als Mittel, Denen, die keine Phantasie haben, diesen Mangel möglichst zu ersetzen, Denen aber, die damit begabt sind, den Gebrauch derselben zu erleichtern.

Obgleich demnach die eigentümliche und wesentliche Erkenntnißweise des Genies die anschauende ist; so machen den eigentlichen Gegenstand derselben doch keineswegs die einzelnen Dinge aus, sondern die in diesen sich aussprechenden Platonischen Ideen, wie deren Auffassung im 29. Kapitel analysirt worden. Im Einzelnen stets das Allgemeine zu sehen, ist gerade der Grundzug des Genies; während der Normalmensch im Einzelnen auch nur das Einzelne als solches erkennt, da es nur als solches der Wirklichkeit angehört, welche allein für ihn Interesse, d. h. Beziehungen zu seinem Willen hat. Der Grad, in welchem Jeder im einzelnen Dinge nur dieses, oder aber schon ein mehr oder minder Allgemeines, bis zum Allgemeinsten der Gattung hinauf, nicht etwan denkt, sondern geradezu erblickt, ist der Maaßstab seiner Annäherung zum Genie. Diesem entsprechend ist auch nur das Wesen der Dinge überhaupt, das Allgemeine in ihnen, das Ganze, der eigentliche Gegenstand des Genies: die Untersuchung der einzelnen Phänomene ist das Feld der Talente, in den Realwissenschaften, deren Gegenstand eigentlich immer nur die Beziehungen der Dinge zu einander sind.

Was im vorhergegangenen Kapitel ausführlich gezeigt worden, daß nämlich die Auffassung der Ideen dadurch bedingt ist, daß das Erkennende das reine Subjekt der Erkenntniß sei, d. h. daß der Wille gänzlich aus dem Bewußtseyn verschwinde, bleibt uns hier gegenwärtig. – Die Freude, welche wir an manchen, die Landschaft uns vor Augen bringenden Liedern Goethe's, oder an den Naturschilderungen Jean Paul's haben, beruht darauf, daß wir dadurch der Objektivität jener Geister, d. h. der Reinheit theilhaft werden, mit welcher in ihnen die Welt als Vorstellung sich von der Welt als Wille gesondert und gleichsam ganz davon abgelöst hatte. – Daraus, daß die Erkenntnißweise des Genies wesentlich die von allem Wollen und seinen Beziehungen gereinigte ist, folgt auch, daß die Werke desselben nicht aus Absicht oder Willkür hervorgehen, sondern es dabei geleitet ist von einer instinktartigen Nothwendigkeit. – Was man das Regewerden des Genius, die Stunde der Weihe, den Augenblick der Begeisterung nennt, ist nichts Anderes, als das Freiwerden des Intellekts, wann dieser, seines Dienstes unter dem Willen einstweiten enthoben, jetzt nicht in Unthätigkeit oder Abspannung versinkt, sondern, aus eine kurze Weile, ganz allein, aus freien Stücken, thätig ist. Dann ist er von der größten Reinheit und wird zum klaren Spiegel der Welt: denn, von seinem Ursprung, dem Willen, völlig abgetrennt, ist er jetzt die in einem Bewußtseyn koncentrirte Welt als Vorstellung selbst. In solchen Augenblicken wird gleichsam die Seele unsterblicher Werke erzeugt. Hingegen ist bei allem absichtlichen Nachdenken der Intellekt nicht frei, da ja der Wille ihn leitet und sein Thema ihm vorschreibt.

Der Stämpel der Gewöhnlichkeit, der Ausdruck von Vulgarität, welcher den allermeisten Gesichtern ausgedrückt ist, besteht eigentlich darin, daß die strenge Unterordnung ihres Erkennens unter ihr Wollen, die feste Kette, welche beide zusammenschließt, und die daraus folgende Unmöglichkeit, die Dinge anders als in Beziehung auf den Willen und seine Zwecke aufzufassen, darin sichtbar ist. Hingegen liegt der Ausdruck des Genies, welcher die augenfällige Familienähnlichkeit aller Hochbegabten ausmacht, darin, daß man das Losgesprochenseyn die Manumission des Intellekts vom Dienste des Willens, das Vorherrschen des Erkennens über das Wollen, deutlich darauf liest: und weil alle Pein aus dem Wollen hervorgeht, das Erkennen hingegen an und für sich schmerzlos und heiter ist; so giebt dies ihren hohen Stirnen und ihrem klaren, schauenden Blick, als welche dem Dienste des Willens und seiner Noth nicht unterthan sind, jenen Anstrich großer, gleichsam überirdischer Heiterkeit, welcher zu Zeiten durchbricht und sehr wohl mit der Melancholie der übrigen Gesichtszüge, besonders des Mundes, zusammenbesteht, in dieser Beziehung aber treffend bezeichnet werden kann durch das Motto des Jordanus Brunus: In tristitia hilaris, in hilaritate tristis.

Der Wille, welcher die Wurzel des Intellekts ist, widersetzt sich jeder auf irgend etwas Anderes als seine Zwecke gerichteten Thätigkeit desselben. Daher ist der Intellekt einer rein objektiven und tiefen Auffassung der Außenwelt nur dann fähig, wann er sich von dieser seiner Wurzel wenigstens einstweilen abgelöst hat. So lange er derselben noch verbunden bleibt, ist er aus eigenen Mitteln gar keiner Thätigkeit fähig, sondern schläft in Dumpfheit, so oft der Wille (das Interesse) ihn nicht weckt und in Bewegung setzt. Geschieht dies jedoch, so ist er zwar sehr tauglich, dem Interesse des Willens gemäß, die Relationen der Dinge zu erkennen, wie dies der kluge Kopf thut, der immer auch ein aufgeweckter, d. h. vom Wollen lebhaft erregter Kopf seyn muß; aber er ist eben deshalb nicht fähig, das rein objektive Wesen der Dinge zu erfassen. Denn das Wollen und die Zwecke machen ihn so einseitig, daß er an den Dingen nur das sieht, was sich daraus bezieht, das Uebrige aber theils verschwindet, theils verfälscht ins Bewußtseyn tritt. So wird z. B. ein in Angst und Eile Reisender den Rhein mit seinen Ufern nur als einen Queerstrich, die Brücke darüber nur als einen diesen schneidenden Strich sehen. Im Kopfe des von seinen Zwecken erfüllten Menschen sieht die Welt aus, wie eine schöne Gegend auf einem Schlachtfeldplan aussieht. Freilich sind dies Extreme, der Deutlichkeit wegen genommen: allein auch jede nur geringe Erregung des Willens wird eine geringe, jedoch stets jenen analoge Verfälschung der Erkenntniß zur Folge haben. In ihrer wahren Farbe und Gestalt, in ihrer ganzen und richtigen Bedeutung kann die Welt erst dann hervortreten, wann der Intellekt, des Wollens ledig, frei über den Objekten schwebt und ohne vom Willen angetrieben zu seyn, dennoch energisch thätig ist. Allerdings ist dies der Natur und Bestimmung des Intellekts entgegen, also gewissermaaßen widernatürlich, daher eben überaus selten: aber gerade hierin liegt das Wesen des Genies, als bei welchem allein jener Zustand in hohem Grade und anhaltend Statt findet, während er bei den Uebrigen nur annäherungs- und ausnahmsweise eintritt. – In dem hier dargelegten Sinne nehme ich es, wenn Jean Paul (»Vorschule der Aesthetik«, §. 12) das Wesen des Genies in die Besonnenheit setzt. Nämlich der Normalmensch ist in den Strudel und Tumult des Lebens, dem er durch seinen Willen angehört, eingesenkt: sein Intellekt ist erfüllt von den Dingen und den Vorgängen des Lebens: aber diese Dinge und das Leben selbst, in objektiver Bedeutung, wird er gar nicht gewahr; wie der Kaufmann aus der Amsterdammer Börse vollkommen vernimmt was sein Nachbar sagt, aber das dem Rauschen des Meeres ähnliche Gesumme der ganzen Börse, darüber der entfernte Beobachter erstaunt, gar nicht hört. Dem Genie hingegen, dessen Intellekt von: Willen, also von der Person, abgelöst ist, bedeckt das diese Betreffende nicht die Welt und die Dinge selbst; sondern es wird ihrer deutlich inne, es nimmt sie, an und für sich selbst, in objektiver Anschauung, wahr: in diesem Sinne ist es besonnen.

Diese Besonnenheit ist es, welche den Maler befähigt, die Natur, die er vor Augen hat, treu aus der Leinwand wiederzugeben, und den Dichter, die anschauliche Gegenwart, mittelst abstrakter Begriffe, genau wieder hervorzurufen, indem er sie ausspricht und so zum deutlichen Bewußtseyn bringt; imgleichen Alles, was die Uebrigen bloß fühlen, in Worten auszudrücken. – Das Thier lebt ohne alle Besonnenheit. Bewußtseyn hat es, d. h. es erkennt sich und sein Wohl und Wehe, dazu auch die Gegenstände, welche solche veranlassen. Aber seine Erkenntniß bleibt stets subjektiv, wird nie objektiv: alles darin Vorkommende scheint sich ihm von selbst zu verstehen und kann ihm daher nie weder zum Vorwurf (Objekt der Darstellung), noch zum Problem (Objekt der Meditation) werden. Sein Bewußtseyn ist also ganz immanent. Zwar nicht von gleicher, aber doch von verwandter Beschaffenheit ist das Bewußtseyn des gemeinen Menschenschlages, indem auch seine Wahrnehmung der Dinge und der Welt überwiegend subjektiv und vorherrschend immanent bleibt. Es nimmt die Dinge in der Welt wahr, aber nicht die Welt; sein eigenes Thun und Leiden, aber nicht sich. Wie nun, in unendlichen Abstufungen, die Deutlichkeit des Bewußtseyns sich steigert, tritt mehr und mehr die Besonnenheit ein, und dadurch kommt es allmälig dahin, daß bisweilen, wenn auch selten und dann wieder in höchst verschiedenen Graden der Deutlichkeit, es wie ein Blitz durch den Kopf fährt, mit »was ist das Alles?« oder auch mit » wie ist es eigentlich beschaffen?« Die erstere Frage wird, wenn sie große Deutlichkeit und anhaltende Gegenwart erlangt, den Philosophen, und die andere, ebenso, den Künstler oder Dichter machen. Dieserhalb also hat der hohe Beruf dieser Beiden seine Wurzel in der Besonnenheit, die zunächst aus der Deutlichkeit entspringt, mit welcher sie der Welt und ihrer selbst inne werden und dadurch zur Besinnung darüber kommen. Der ganze Hergang aber entspringt daraus, daß der Intellekt, durch sein Uebergewicht, sich vom Willen, dem er ursprünglich dienstbar ist, zu Zeiten losmacht.

Die hier dargelegten Betrachtungen über das Genie schließen sich ergänzend an die im 22. Kapitel enthaltene Darstellung des in der ganzen Reihe der Wesen wahrnehmbaren, immer weitern Auseinandertretens des Willens und des Intellekts. Dieses eben erreicht im Genie seinen höchsten Grad, als wo es bis zur völligen Ablösung des Intellekts von seiner Wurzel, dem Willen, geht, so daß der Intellekt hier völlig frei wird, wodurch allererst die Welt als Vorstellung zur vollkommenen Objektivation gelangt. –

Jetzt noch einige die Individualität des Genies betreffende Bemerkungen. – Schon Aristoteles hat, nach Cicero ( Tusc., I, 33) bemerkt, omnes ingeniosos melancholicos esse; welches sich, ohne Zweifel, auf die Stelle in des Aristoteles Problemata, 30, 1, bezieht. Auch Goethe sagt:

Meine Dichtergluth war sehr gering,
So lang ich dem Guten entgegenging;
Dagegen brannte sie lichterloh,
Wann ich vor drohendem Uebel floh. –
Zart Gedicht, wie Regenbogen,
Wird nur auf dunkeln Grund gezogen;
Darum behagt dem Dichtergenie
Das Element der Melancholie.

Dies ist daraus zu erklären, daß, da der Wille seine ursprüngliche Herrschaft über den Intellekt stets wieder geltend macht, dieser, unter ungünstigen persönlichen Verhältnissen, sich leichter derselben entzieht; weil er von widerwärtigen Umständen sich gern abwendet, gewissermaaßen um sich zu zerstreuen, und nun mit desto größerer Energie sich auf die fremde Außenwelt richtet, also leichter rein objektiv wird. Günstige persönliche Verhältnisse wirken umgekehrt. Im Ganzen und Allgemeinen jedoch beruht die dem Genie beigegebene Melancholie darauf, daß der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt. – Die so häufig bemerkte trübe Stimmung hochbegabter Geister hat ihr Sinnbild am Montblanc, dessen Gipfel meistens bewölkt ist: aber wann bisweilen, zumal früh Morgens, der Wolkenschleier reißt und nun der Berg vom Sonnenlichte roth, aus seiner Himmelshöhe über den Wolken, auf Chamouni herabsieht; dann ist es ein Anblick, bei welchem Jedem das Herz im tiefsten Grunde aufgeht. So zeigt auch das meistens melancholische Genie zwischendurch die schon oben geschilderte, nur ihm mögliche, aus der vollkommensten Objektivität des Geistes entspringende, eigenthümliche Heiterkeit, die wie ein Lichtglanz auf seiner hohen Stirne schwebt: in tristitia hilaris, in hilaritate tristis. –

Alle Pfuscher sind es, im letzten Grunde, dadurch, daß ihr Intellekt, dem Willen noch zu fest verbunden, nur unter dessen Anspornung in Thätigkeit geräth, und daher eben ganz in dessen Dienste bleibt. Sie sind demzufolge keiner andern, als persönlicher Zwecke fähig. Diesen gemäß schaffen sie schlechte Gemälde, geistlose Gedichte, seichte, absurde, sehr oft auch unredliche Philosopheme, wann es nämlich gilt, durch fromme Unredlichkeit, sich hohen Vorgesetzten zu empfehlen. All ihr Thun und Denken ist also persönlich. Daher gelingt es ihnen höchstens, sich das Aeußere, Zufällige und Beliebige fremder, ächter Werke als Manier anzueignen, wo sie dann, statt des Kerns, die Schaale fassen, jedoch vermeinen, Alles erreicht, ja, jene übertroffen zu haben. Wird dennoch das Mißlingen offenbar; so hofft Mancher, es durch seinen guten Willen am Ende doch zu erreichen. Aber gerade dieser gute Wille macht es unmöglich; weil derselbe doch nur auf persönliche Zwecke hinausläuft: bei solchen aber kann es weder mit Kunst, noch Poesie, noch Philosophie je Ernst werden. Auf Jene paßt daher ganz eigentlich die Redensart: sie stehen sich selbst im Lichte. Ihnen ahndet es nicht, daß allein der von der Herrschaft des Willens und allen seinen Projekten losgerissene und dadurch frei thätige Intellekt, weil nur er den wahren Ernst verleiht, zu ächten Produktionen befähigt: und das ist gut für sie; sonst sprängen sie ins Wasser. – Der gute Wille ist in der Moral Alles; aber in der Kunst ist er nichts: da gilt, wie schon das Wort andeutet, allein das Können. – Alles kommt zuletzt darauf an, wo der eigentliche Ernst des Menschen liegt. Bei fast Allen liegt er ausschließlich im eigenen Wohl und dem der Ihrigen; daher sie dies und nichts Anderes zu fördern im Stande sind; weil eben kein Vorsatz, keine willkürliche und absichtliche Anstrengung, den wahren, tiefen, eigentlichen Ernst verleiht, oder ersetzt, oder richtiger verlegt. Denn er bleibt stets da, wo die Natur ihn hingelegt hat: ohne ihn aber kann Alles nur halb betrieben werden. Daher sorgen, aus dem selben Grunde, geniale Individuen oft schlecht für ihre eigene Wohlfahrt. Wie ein bleiernes Anhängsel einen Körper immer wieder in die Lage zurückbringt, die sein durch dasselbe determinirter Schwerpunkt erfordert; so zieht der wahre Ernst des Menschen die Kraft und Aufmerksamkeit seines Intellekts immer dahin zurück, wo er liegt: alles Andere treibt der Mensch ohne wahren Ernst. Daher sind allein die höchst seltenen, abnormen Menschen, deren wahrer Ernst nicht im Persönlichen und Praktischen, sondern im Objektiven und Theoretischen liegt, im Stande, das Wesentliche der Dinge und der Welt, also die höchsten Wahrheiten, aufzufassen und in irgend einer Art und Weise wiederzugeben. Denn ein solcher außerhalb des Individui, in das Objektive fallender Ernst desselben ist etwas der menschlichen Natur Fremdes, etwas Unnatürliches, eigentlich Uebernatürliches: jedoch allein durch ihn ist ein Mensch groß, und demgemäß wird alsdann sein Schaffen einem von ihm verschiedenen Genius zugeschrieben, der ihn in Besitz nehme. Einem solchen Menschen ist sein Bilden, Dichten oder Denken Zweck, den Uebrigen ist es Mittel. Diese suchen dabei ihre Sache, und wissen, in der Regel, sie wohl zu fördern, da sie sich den Zeitgenossen anschmiegen, bereit, den Bedürfnissen und Launen derselben zu dienen: daher leben sie meistens in glücklichen Umständen; Jener oft in sehr elenden. Denn sein persönliches Wohl opfert er dem objektiven Zweck: er kann eben nicht anders; weil dort sein Ernst liegt. Sie halten es umgekehrt: darum sind sie klein; er aber ist groß. Demgemäß ist sein Werk für alle Zeiten, aber die Anerkennung desselben fängt meistens erst bei der Nachwelt an: sie leben und sterben mit ihrer Zeit. Groß überhaupt ist nur Der, welcher bei seinem Wirken, dieses sei nun ein praktisches, oder ein theoretisches, nicht seine Sache sucht; sondern allein einen objektiven Zweck verfolgt: er ist es aber selbst dann noch, wann, im Praktischen, dieser Zweck ein mißverstandener, und sogar wenn er, in Folge davon, ein Verbrechen seyn sollte. Daß er nicht sich und seine Sache sucht, dies macht ihn, unter allen Umständen, groß. Klein hingegen ist alles auf persönliche Zwecke gerichtete Treiben; weil der dadurch in Thätigkeit Versetzte sich nur in seiner eigenen, verschwindend kleinen Person erkennt und findet. Hingegen wer groß ist, erkennt sich in Allem und daher im Ganzen: er lebt nicht, wie Jener, allein im Mikrokosmos, sondern noch mehr im Makrokosmos. Darum eben ist das Ganze ihm angelegen, und er sucht es zu erfassen, um es darzustellen, oder um es zu erklären, oder um praktisch darauf zu wirken. Denn ihm ist es nicht fremd; er fühlt daß es ihn angeht. Wegen dieser Ausdehnung seiner Sphäre nennt man ihn groß. Demnach gebührt nur dem wahren Helden, in irgend einem Sinn, und dem Genie jenes erhabene Prädikat: es besagt, daß sie, der menschlichen Natur entgegen, nicht ihre eigene Sache gesucht, nicht für sich, sondern für Alle gelebt haben. – Wie nun offenbar die Allermeisten stets klein seyn müssen und niemals groß seyn können; so ist doch das Umgekehrte nicht möglich, daß nämlich Einer durchaus, d. h. stets und jeden Augenblick, groß sei:

Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht,
Und die Gewohnheit nennt er seine Amme.

Jeder große Mann nämlich muß dennoch oft nur das Individuum seyn, nur sich im Auge haben, und das heißt klein seyn. Hierauf beruht die sehr richtige Bemerkung, daß kein Held es vor seinem Kammerdiener bleibt; nicht aber darauf, daß der Kammerdiener den Helden nicht zu schätzen verstehe; – welches Goethe, in den »Wahlverwandtschaften« (Bd. 2, Kap. 5), als Einfall der Ottilie auftischt. –

Das Genie ist sein eigener Lohn: denn das Beste was Einer ist, muß er nothwendig für sich selbst seyn. »Wer mit einem Talente, zu einem Talente geboren ist, findet in demselben sein schönstes Daseyn«, sagt Goethe. Wenn wir zu einem großen Mann der Vorzeit hinaufblicken, denken wir nicht: »Wie glücklich ist er, von uns Allen noch jetzt bewundert zu werden«; sondern: »Wie glücklich muß er gewesen seyn im unmittelbaren Genuß eines Geistes, an dessen zurückgelassenen Spuren Jahrhunderte sich erquicken.« Nicht im Ruhme, sondern in Dem, wodurch man ihn erlangt, liegt der Werth, und in der Zeugung unsterblicher Kinder der Genuß. Daher sind Die, welche die Nichtigkeit des Nachruhmes daraus zu beweisen suchen, daß wer ihn erlangt, nichts davon erfährt, dem Klügling zu vergleichen, der einem Manne, welcher auf einem Haufen Austerschaalen im Hofe seines Nachbarn neidische Blicke würfe, sehr weise die gänzliche Unbrauchbarkeit derselben demonstriren wollte.

Der gegebenen Darstellung des Wesens des Genies zufolge ist dasselbe in sofern naturwidrig, als es darin besteht, daß der Intellekt, dessen eigentliche Bestimmung der Dienst des Willens ist, sich von diesem Dienste emancipirt, um auf eigene Hand thätig zu seyn. Demnach ist das Genie ein seiner Bestimmung untreu gewordener Intellekt. Hierauf beruhen die demselben beigegebenen Nachtheile, zu deren Betrachtung wir jetzt den Weg uns dadurch bahnen, daß wir das Genie mit dem weniger entschiedenen Ueberwiegen des Intellekts vergleichen.

Der Intellekt des Normalmenschen, streng an den Dienst seines Willens gebunden, mithin eigentlich bloß mit der Aufnahme der Motive beschäftigt, läßt sich ansehen als der Komplex von Drahtfäden, womit jede dieser Puppen auf dem Welttheater in Bewegung gesetzt wird. Hieraus entspringt der trockene, gesetzte Ernst der meisten Leute, der nur noch von dem der Thiere übertroffen wird, als welche niemals lachen. Dagegen könnte man das Genie, mit seinem entfesselten Intellekt, einem unter den großen Drahtpuppen des berühmten Mailändischen Puppentheaters mitspielenden, lebendigen Menschen vergleichen, der unter ihnen der Einzige wäre, welcher Alles wahrnähme und daher gern sich von der Bühne auf eine Weile losmachte, um aus den Logen das Schauspiel zu genießen: – das ist die geniale Besonnenheit. – Aber selbst der überaus verständige und vernünftige Mann, den man beinahe weise nennen könnte, ist vom Genie gar sehr und zwar dadurch verschieden, daß sein Intellekt eine praktische Richtung behält, auf die Wahl der allerbesten Zwecke und Mittel bedacht ist, daher im Dienste des Willens bleibt und demnach recht eigentlich naturgemäß beschäftigt ist. Der feste, praktische Lebensernst, welchen die Römer als gravitas bezeichneten, setzt voraus, daß der Intellekt nicht den Dienst des Willens verlasse, um hinauszuschweifen zu Dem, was diesen nicht angeht: darum läßt er nicht jenes Auseinandertreten des Intellekts und des Willens zu, welches Bedingung des Genies ist. Der kluge, ja der eminente Kopf, der zu großen Leistungen im Praktischen Geeignete, ist es gerade dadurch, daß die Objekte seinen Willen lebhaft erregen und zum rastlosen Nachforschen ihrer Verhältnisse und Beziehungen anspornen. Auch sein Intellekt ist also mit dem Willen fest verwachsen. Vor dem genialen Kopf hingegen schwebt, in seiner objektiven Auffassung, die Erscheinung der Welt als ein ihm Fremdes, ein Gegenstand der Kontemplation, der sein Wollen aus dem Bewußtseyn verdrängt. Um diesen Punkt dreht sich der Unterschied zwischen der Befähigung zu Thaten und der zu Werken. Die letztere verlangt Objektivität und Tiefe der Erkenntniß, welche gänzliche Sonderung des Intellekts vom Willen zur Voraussetzung hat: die erstere hingegen verlangt Anwendung der Erkenntniß, Geistesgegenwart und Entschlossenheit, welche erfordert, daß der Intellekt unausgesetzt den Dienst des Willens besorge. Wo das Band zwischen Intellekt und Wille gelöst ist, wird der von seiner natürlichen Bestimmung abgewichene Intellekt den Dienst des Willens vernachlässigen: er wird z. B. selbst in der Noth des Augenblicks noch seine Emancipation geltend machen und etwan die Umgebung, von welcher dem Individuo gegenwärtige Gefahr droht, ihrem malerischen Eindruck nach aufzufassen nicht umhin können. Der Intellekt des vernünftigen und verständigen Mannes hingegen ist stets auf seinem Posten, ist auf die Umstände und deren Erfordernisse gerichtet: ein solcher wird daher in allen Fällen das der Sache Angemessene beschließen und ausführen, folglich keineswegs in jene Excentricitäten, persönliche Fehltritte, ja, Thorheiten verfallen, denen das Genie darum ausgesetzt ist, daß sein Intellekt nicht ausschließlich der Führer und Wächter seines Willens bleibt, sondern, bald mehr bald weniger, vom rein Objektiven in Anspruch genommen wird. Den Gegensatz, in welchem die beiden hier abstrakt dargestellten, gänzlich verschiedenen Arten der Befähigung zu einander stehen, hat Goethe uns im Widerspiel des Tasso und Antonio veranschaulicht. Die oft bemerkte Verwandtschaft des Genies mit dem Wahnsinn beruht eben hauptsächlich auf jener, dem Genie wesentlichen, dennoch aber naturwidrigen Sonderung des Intellekts vom Willen. Diese aber selbst ist keineswegs Dem zuzuschreiben, daß das Genie von geringerer Intensität des Willens begleitet sei; da es vielmehr durch einen heftigen und leidenschaftlichen Charakter bedingt ist: sondern sie ist daraus zu erklären, daß der praktisch Ausgezeichnete, der Mann der Thaten, bloß das ganze und volle Maaß des für einen energischen Willen erforderten Intellekts hat, während den meisten Menschen sogar dieses abgeht; das Genie aber in einem völlig abnormen, wirklichen Uebermaaß von Intellekt besteht, dergleichen zum Dienste keines Willens erfordert ist. Dieserhalb eben sind die Männer der ächten Werke tausend Mal seltener, als die Männer der Thaten. Jenes abnorme Uebermaaß des Intellekts eben ist es, vermöge dessen dieser das entschiedene Uebergewicht erhält, sich vom Willen losmacht und nun, seines Ursprungs vergessend, aus eigener Kraft und Elasticität frei thätig ist; woraus die Schöpfungen des Genies hervorgehen.

Eben dieses nun ferner, daß das Genie im Wirken des freien, d. h. vom Dienste des Willens emancipirten Intellekts besteht, hat zur Folge, daß die Produktionen desselben keinen nützlichen Zwecken dienen. Es werde musicirt, oder philosophirt, gemalt, oder gedichtet; – ein Werk des Genies ist kein Ding zum Nutzen. Unnütz zu seyn, gehört zum Charakter der Werke des Genies: es ist ihr Adelsbrief. Alle übrigen Menschenwerke sind da zur Erhaltung, oder Erleichterung unserer Existenz; bloß die hier in Rede stehenden nicht: sie allein sind ihrer selbst wegen da, und sind, in diesem Sinn, als die Blüthe, oder der reine Ertrag des Daseyns anzusehen. Deshalb geht beim Genuß derselben uns das Herz auf: denn wir tauchen dabei aus dem schweren Erdenäther der Bedürftigkeit auf. – Diesem analog sehen wir, auch außerdem, das Schöne selten mit dem Nützlichen vereint. Die hohen und schönen Bäume tragen kein Obst: die Obstbäume sind kleine, häßliche Krüppel. Die gefüllte Gartenrose ist nicht fruchtbar, sondern die kleine, wilde, fast geruchlose ist es. Die schönsten Gebäude sind nicht die nützlichen: ein Tempel ist kein Wohnhaus. Ein Mensch von hohen, seltenen Geistesgaben, genöthigt einem bloß nützlichen Geschäft, dem der Gewöhnlichste gewachsen wäre, obzuliegen, gleicht einer köstlichen, mit schönster Malerei geschmückten Vase, die als Kochtopf verbraucht wird; und die nützlichen Leute mit den Leuten von Genie vergleichen, ist wie Bausteine mit Diamanten vergleichen.

Der bloß praktische Mensch also gebraucht seinen Intellekt zu Dem, wozu ihn die Natur bestimmte, nämlich zum Auffassen der Beziehungen der Dinge, theils zu einander, theils zum Willen des erkennenden Individuums. Das Genie hingegen gebraucht ihn, der Bestimmung desselben entgegen, zum Auffassen des objektiven Wesens der Dinge. Sein Kopf gehört daher nicht ihm, sondern der Welt an, zu deren Erleuchtung in irgend einem Sinne er beitragen wird. Hieraus müssen dem damit begünstigten Individuo vielfältige Nachtheile erwachsen. Denn sein Intellekt wird überhaupt die Fehler zeigen, die bei jedem Werkzeug, welches zu Dem, wozu es nicht gemacht ist, gebraucht wird, nicht auszubleiben pflegen. Zunächst wird er gleichsam der Diener zweier Herren seyn, indem er, bei jeder Gelegenheit, sich von dem seiner Bestimmung entsprechenden Dienste losmacht, um seinen eigenen Zwecken nachzugehen, wodurch er den Willen oft sehr zur Unzeit im Stich läßt und hienach das so begabte Individuum für das Leben mehr oder weniger unbrauchbar wird, ja, in seinem Betragen bisweilen an den Wahnsinn erinnert. Sodann wird es, vermöge seiner gesteigerten Erkenntnißkraft, in den Dingen mehr das Allgemeine, als das Einzelne sehen; während der Dienst des Willens hauptsächlich die Erkenntniß des Einzelnen erfordert. Aber wann nun wieder gelegentlich jene ganze, abnorm erhöhte Erkenntnißkraft sich plötzlich, mit aller ihrer Energie, auf die Angelegenheiten und Miseren des Willens richtet; so wird sie diese leicht zu lebhaft auffassen, Alles in zu grellen Farben, zu hellem Lichte, und ins Ungeheure vergrößert erblicken, wodurch das Individuum auf lauter Extreme verfällt. Dies noch näher zu erklären, diene Folgendes. Alle große theoretische Leistungen, worin es auch sei, werden dadurch zu Stande gebracht, daß ihr Urheber alle Kräfte seines Geistes auf Einen Punkt richtet, in welchen er sie zusammenschießen läßt und koncentrirt, so stark, fest und ausschließlich, daß die ganze übrige Welt ihm jetzt verschwindet und sein Gegenstand ihm alle Realität ausfüllt. Eben diese große und gewaltsame Koncentration, die zu den Privilegien des Genies gehört, tritt nun für dasselbe bisweilen auch bei den Gegenständen der Wirklichkeit und den Angelegenheiten des täglichen Lebens ein, welche alsdann, unter einen solchen Fokus gebracht, eine so monstrose Vergrößerung erhalten, daß sie sich darstellen wie der im Sonnenmikroskop die Statur des Elephanten annehmende Floh. Hieraus entsteht es, daß hochbegabte Individuen bisweilen über Kleinigkeiten in heftige Affekte der verschiedensten Art gerathen, die den Andern unbegreiflich sind, als welche sie in Trauer, Freude, Sorge, Furcht, Zorn u. s. w. versetzt sehen, durch Dinge, bei welchen ein Alltagsmensch ganz gelassen bliebe. Darum also fehlt dem Genie die Nüchternheit, als welche gerade darin besteht, daß man in den Dingen nichts weiter sieht, als was ihnen, besonders in Hinsicht auf unsere möglichen Zwecke, wirklich zukommt: daher kann kein nüchterner Mensch ein Genie seyn. Zu den angegebenen Nachtheilen gesellt sich nun noch die übergroße Sensibilität, welche ein abnorm erhöhtes Nerven- und Cerebral-Leben mit sich bringt, und zwar im Verein mit der das Genie ebenfalls bedingenden Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des Wollens, die sich physisch als Energie des Herzschlages darstellt. Aus allem Diesen entspringt sehr leicht jene Ueberspanntheit der Stimmung, jene Heftigkeit der Affekte, jener schnelle Wechsel der Laune, unter vorherrschender Melancholie, die Goethe uns im Tasso vor Augen gebracht hat. Welche Vernünftigkeit, ruhige Fassung, abgeschlossene Uebersicht, völlige Sicherheit und Gleichmäßigkeit des Betragens zeigt doch der wohlausgestattete Normalmensch, im Vergleich mit der bald träumerischen Versunkenheit, bald leidenschaftlichen Aufregung des Genialen, dessen innere Quaal der Mutterschooß unsterblicher Werke ist. – Zu diesem Allen kommt noch, daß das Genie wesentlich einsam lebt. Es ist zu selten, als daß es leicht auf seines Gleichen treffen könnte, und zu verschieden von den Uebrigen, um ihr Geselle zu seyn. Bei ihnen ist das Wollen, bei ihm das Erkennen das Vorwaltende: daher sind ihre Freuden nicht seine, seine nicht ihre. Sie sind bloß moralische Wesen und haben bloß persönliche Verhältnisse: er ist zugleich ein reiner Intellekt, der als solcher der ganzen Menschheit angehört. Der Gedankengang des von seinem mütterlichen Boden, dem Willen, abgelösten und nur periodisch zu ihm zurückkehrenden Intellekts wird sich von dem des normalen, auf seinem Stamme haftenden, bald durchweg unterscheiden. Daher, und wegen der Ungleichheit des Schritts, ist Jener nicht zum gemeinschaftlichen Denken, d. h. zur Konversation mit den Andern geeignet: sie werden an ihm und seiner drückenden Ueberlegenheit so wenig Freude haben, wie er an ihnen. Sie werden daher sich behaglicher mit ihres Gleichen fühlen, und er wird die Unterhaltung mit seines Gleichen, obschon sie in der Regel nur durch ihre nachgelassenen Werke möglich ist, vorziehen. Sehr richtig sagt daher Chamfort: Il y a peu de vices qui empêchent un homme d'avoir beaucoup d'amis, autant que peuvent le faire de trop grandes qualités. Das glücklichste Loos, was dem Genie werden kann, ist Entbindung vom Thun und Lassen, als welches nicht sein Element ist, und freie Muße zu seinem Schaffen. – Aus diesem Allen ergiebt sich, daß wenn gleich das Genie den damit Begabten in den Stunden, wo er, ihm hingegeben, ungehindert im Genuß desselben schwelgt, hoch beglücken mag; dasselbe dennoch keineswegs geeignet ist, ihm einen glücklichen Lebenslauf zu bereiten, vielmehr das Gegentheil. Dies bestätigt auch die in den Biographien niedergelegte Erfahrung. Dazu kommt noch ein Mißverhältniß nach außen, indem das Genie, in seinem Treiben und Leisten selbst, meistens mit seiner Zeit im Widerspruch und Kampfe steht. Die bloßen Talentmänner kommen stets zu rechter Zeit: denn, wie sie vom Geiste ihrer Zeit angeregt und vom Bedürfniß derselben hervorgerufen werden, so sind sie auch gerade nur fähig diesem zu genügen. Sie greifen daher ein in den fortschreitenden Bildungsgang ihrer Zeitgenossen, oder in die schrittweise Förderung einer speciellen Wissenschaft: dafür wird ihnen Lohn und Beifall. Der nächsten Generation jedoch sind ihre Werke nicht mehr genießbar: sie müssen durch andere ersetzt werden, die dann auch nicht ausbleiben. Das Genie hingegen trifft in seine Zeit, wie ein Komet in die Planetenbahnen, deren wohlgeregelter und übersehbarer Ordnung sein völlig excentrischer Lauf fremd ist. Demnach kann es nicht eingreifen in den vorgefundenen, regelmäßigen Bildungsgang der Zeit, sondern wirft seine Werke weit hinaus in die vorliegende Bahn (wie der sich dem Tode weihende Imperator seinen Speer unter die Feinde), auf welcher die Zeit solche erst einzuholen hat. Sein Verhältniß zu den während dessen kulminirenden Talentmännern könnte es in den Worten des Evangelisten ausdrücken: Ό χαιϱος ὁ εμος ουπω παϱεστιν ὁ δε χαιϱος ὁ ὑμετεϱος παντοτε εστιν ἑτοιμος (Joh. 7, 6). – Das Talent vermag zu leisten was die Leistungsfähigkeit, jedoch nicht die Apprehensionsfähigkeit der Uebrigen überschreitet: daher findet es sogleich seine Schätzer. Hingegen geht die Leistung des Genies nicht nur über die Leistungs-, sondern auch über die Apprehensionsfähigkeit der Andern hinaus: daher werden diese seiner nicht unmittelbar inne. Das Talent gleicht dem Schützen, der ein Ziel trifft, welches die Uebrigen nicht erreichen können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht ein Mal zu sehen vermögen: daher sie nur mittelbar, also spät, Kunde davon erhalten, und sogar diese nur auf Treu und Glauben annehmen. Demgemäß sagt Goethe im Lehrbrief: »Die Nachahmung ist uns angeboren; der Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltner geschätzt.« Und Chamfort sagt: Il en est de la valeur des hommes comme de celle des diamans, qui, à une certaine mesure de grosseur, de pureté, de perfection, ont un prix fixe et marqué, mais qui, par-delà cette mesure, restent sans prix, et ne trouvent point d'acheteurs. Auch schon Bako von Verulam hat es ausgesprochen: Infimarum virtutum, apud vulgus, laus est, mediarum admiratio, supremarum sensus nullus (De augm. sc., L. VI, c. 3) Ja, möchte vielleicht Einer entgegnen, apud vulgus! – Dem muß ich jedoch zu Hülfe kommen mit Machiavelli's Versicherung: Nel mondo non è se non volgo; Es giebt nichts Anderes auf der Welt, als Vulgus. wie denn auch Thilo (über den Ruhm) bemerkt, daß zum großen Haufen gewöhnlich Einer mehr gehört, als Jeder glaubt. – Eine Folge dieser späten Anerkennung der Werke des Genies ist, daß sie selten von ihren Zeitgenossen und demnach in der Frische des Kolorits, welche die Gleichzeitigkeit und Gegenwart verleiht, genossen werden, sondern, gleich den Feigen und Datteln, viel mehr im trockenen, als im frischen Zustande. –

Wenn wir nun endlich noch das Genie von der somatischen Seite betrachten; so finden wir es durch mehrere anatomische und physiologische Eigenschaften bedingt, welche einzeln selten vollkommen vorhanden, noch seltener vollständig beisammen, dennoch alle unerläßlich erfordert sind; so daß daraus erklärlich wird, warum das Genie nur als eine völlig vereinzelte, fast portentose Ausnahme vorkommt. Die Grundbedingung ist ein abnormes Ueberwiegen der Sensibilität über die Irritabilität und Reproduktionskraft, und zwar, was die Sache erschwert, auf einem männlichen Körper. (Weiber können bedeutendes Talent, aber kein Genie haben: denn sie bleiben stets subjektiv.) Imgleichen muß das Cerebralsystem vom Gangliensystem durch vollkommene Isolation rein geschieden seyn, so daß es mit diesem in vollkommenem Gegensatz stehe, wodurch das Gehirn sein Parasitenleben auf dem Organismus recht entschieden, abgesondert, kräftig und unabhängig führt. Freilich wird es dadurch leicht feindlich auf den übrigen Organismus wirken und, durch sein erhöhtes Leben und rastlose Thätigkeit, ihn frühzeitig aufreiben, wenn nicht auch er selbst von energischer Lebenskraft und wohl konstituirt ist: auch dieses Letztere also gehört zu den Bedingungen. Ja, sogar ein guter Magen gehört dazu, wegen des speciellen und engen Konsensus dieses Theiles mit dem Gehirn. Hauptsächlich aber muß das Gehirn von ungewöhnlicher Entwickelung und Größe, besonders breit und hoch seyn: hingegen wird die Tiefendimension zurückstehen, und das große Gehirn im Verhältniß gegen das kleine abnorm überwiegen. Auf die Gestalt desselben im Ganzen und in den Theilen kommt ohne Zweifel sehr viel an: allein dies genau zu bestimmen, reichen unsere Kenntnisse noch nicht aus; obwohl wir die edle, hohe Intelligenz verkündende Form eines Schädels leicht erkennen. Die Textur der Gehirnmasse muß von der äußersten Feinheit und Vollendung seyn und aus der reinsten, ausgeschiedensten, zartesten und erregbarsten Nervensubstanz bestehen: gewiß hat auch das quantitative Verhältniß der weißen zur grauen Substanz entschiedenen Einfluß, den wir aber ebenfalls noch nicht anzugeben vermögen. Inzwischen besagt der Obduktionsbericht der Leiche Byron's In Medwin's Conversations of L. Byron, p. 333, daß bei ihm die weiße Substanz in ungewöhnlich starkem Verhältniß zur grauen stand; desgleichen, daß sein Gehirn 6 Pfund gewogen hat. Cuvier's Gehirn hat 5 Pfund gewogen: das normale Gewicht ist 3 Pfund. – Im Gegensatz des überwiegenden Gehirns müssen Rückenmark und Nerven ungewöhnlich dünn seyn. Ein schön gewölbter, hoher und breiter Schädel, von dünner Knochenmasse, muß das Gehirn schützen, ohne es irgend einzuengen. Diese ganze Beschaffenheit des Gehirns und Nervensystems ist das Erbtheil von der Mutter; worauf wir im folgenden Buche zurückkommen werden. Dieselbe ist aber, um das Phänomen des Genies hervorzubringen, durchaus unzureichend, wenn nicht, als Erbtheil vom Vater, ein lebhaftes, leidenschaftliches Temperament hinzukommt, sich somatisch darstellend als ungewöhnliche Energie des Herzens und folglich des Blutumlaufs, zumal nach dem Kopfe hin. Denn hiedurch wird zunächst jene dem Gehirn eigene Turgescenz vermehrt, vermöge deren es gegen seine Wände drückt; daher es aus jeder durch Verletzung entstandenen Oeffnung in diesen hervorquillt: zweitens erhält durch die gehörige Kraft des Herzens das Gehirn diejenige innere, von seiner beständigen Hebung und Senkung bei jedem Athemzuge noch verschiedene Bewegung, welche in einer Erschütterung seiner ganzen Masse bei jedem Pulsschlage der vier Cerebral-Arterien besteht und deren Energie seiner hier vermehrten Quantität entsprechen muß, wie denn diese Bewegung überhaupt eine unerläßliche Bedingung seiner Thätigkeit ist. Dieser ist eben daher auch eine kleine Statur und besonders ein kurzer Hals günstig, weil, auf dem kürzern Wege, das Blut mit mehr Energie zum Gehirn gelangt: deshalb sind die großen Geister selten von großem Körper. Jedoch ist jene Kürze des Weges nicht unerläßlich: z. B. Goethe war von mehr als mittlerer Höhe. Wenn nun aber die ganze den Blutumlauf betreffende und daher vom Vater kommende Bedingung fehlt; so wird die von der Mutter stammende günstige Beschaffenschaft des Gehirns höchstens ein Talent, einen feinen Verstand, den das alsdann eintretende Phlegma unterstützt, hervorbringen: aber ein phlegmatisches Genie ist unmöglich. Aus dieser vom Vater kommenden Bedingung des Genies erklären sich viele der oben geschilderten Temperamentsfehler desselben. Ist hingegen diese Bedingung ohne die erstere, also bei gewöhnlich oder gar schlecht konstituirtem Gehirn vorhanden; so giebt sie Lebhaftigkeit ohne Geist, Hitze ohne Licht, liefert Tollköpfe, Menschen von unerträglicher Unruhe und Petulanz. Daß von zwei Brüdern nur der eine Genie hat, und dann meistens der ältere, wie es z. B. Kants Fall war, ist zunächst daraus erklärlich, daß nur bei seiner Zeugung der Vater im Alter der Kraft und Leidenschaftlichkeit war; wiewohl auch die andere, von der Mutter stammende Bedingung durch ungünstige Umstände verkümmert werden kann.

Noch habe ich hier eine besondere Bemerkung hinzuzufügen über den kindlichen Charakter des Genies, d. h. über eine gewisse Aehnlichkeit, welche zwischen dem Genie und dem Kindesalter Statt findet. – In der Kindheit nämlich ist, wie beim Genie, das Cerebral- und Nervensystem entschieden überwiegend: denn seine Entwickelung eilt der des übrigen Organismus weit voraus; so daß bereits mit dem siebenten Jahre das Gehirn seine volle Ausdehnung und Masse erlangt hat. Schon Bichat sagt daher: Dans l'enfance le système nerveux, comparé au musculaire, est proportionnellement plus considérable que dans tous les âges suivants, tandis que, par la suite, la pluspart des autres systèmes prédominent sur celui-ci. On sait que, pour bien voir les nerfs, on choisit toujours les enfants (De la vie et de la mort, Art. 8, §. 6). Am spätesten hingegen fängt die Entwickelung des Genitalsystems an, und erst beim Eintritt des Mannesalters sind Irritabilität, Reproduktion und Genitalfunktion in voller Kraft, wo sie dann, in der Regel, das Uebergewicht über die Gehirnfunktion haben. Hieraus ist es erklärlich, daß die Kinder, im Allgemeinen, so klug, vernünftig, wißbegierig und gelehrig, ja, im Ganzen, zu aller theoretischen Beschäftigung aufgelegter und tauglicher, als die Erwachsenen, sind: sie haben nämlich in Folge jenes Entwicklungsganges mehr Intellekt als Willen, d. h. als Neigung, Begierde, Leidenschaft. Denn Intellekt und Gehirn sind Eins, und eben so ist das Genitalsystem Eins mit der heftigsten aller Begierden: daher ich dasselbe den Brennpunkt des Willens genannt habe. Eben weil die heillose Thätigkeit dieses Systems noch schlummert, während die des Gehirns schon volle Regsamkeit hat, ist die Kindheit die Zeit der Unschuld und des Glückes, das Paradies des Lebens, das verlorene Eden, auf welches wir, unsern ganzen übrigen Lebensweg hindurch, sehnsüchtig zurückblicken. Die Basis jenes Glückes aber ist, daß in der Kindheit unser ganzes Daseyn viel mehr im Erkennen, als im Wollen liegt; welcher Zustand zudem noch von außen durch die Neuheit aller Gegenstände unterstützt wird. Daher liegt die Welt, im Morgenglanze des Lebens, so frisch, so zauberisch schimmernd, so anziehend vor uns. Die kleinen Begierden, schwankenden Neigungen und geringfügigen Sorgen der Kindheit sind gegen jenes Vorwalten der erkennenden Thätigkeit nur ein schwaches Gegengewicht. Der unschuldige und klare Blick der Kinder, an dem wir uns erquicken, und der bisweilen, in einzelnen, den erhabenen, kontemplativen Ausdruck, mit welchem Raphael seine Engelsköpfe verherrlicht hat, erreicht, ist aus dem Gesagten erklärlich. Demnach entwickeln die Geisteskräfte sich viel früher, als die Bedürfnisse, welchen zu dienen sie bestimmt sind: und hierin verfährt die Natur, wie überall, sehr zweckmäßig. Denn in dieser Zeit der vorwaltenden Intelligenz sammelt der Mensch einen großen Vorrath von Erkenntnissen, für künftige, ihm zur Zeit noch fremde Bedürfnisse. Daher ist sein Intellekt jetzt unablässig thätig, faßt begierig alle Erscheinungen auf, brütet darüber und speichert sie sorgfältig auf, für die kommende Zeit, – der Biene gleich, die sehr viel mehr Honig sammelt, als sie verzehren kann, im Vorgefühl künftiger Bedürfnisse. Gewiß ist was der Mensch bis zum Eintritt der Pubertät an Einsicht und Kenntniß erwirbt, im Ganzen genommen, mehr, als Alles was er nachher lernt, würde er auch noch so gelehrt: denn es ist die Grundlage aller menschlichen Erkenntnisse. – Bis zur selben Zeit waltet im kindlichen Leibe die Plasticität vor, deren Kräfte späterhin, nachdem sie ihr Werk vollendet hat, durch eine Metastase, sich auf das Generationssystem werfen, wodurch mit der Pubertät der Geschlechtstrieb eintritt und jetzt allmälig der Wille das Uebergewicht erhält. Dann folgt auf die vorwaltend theoretische, lernbegierige Kindheit das unruhige, bald stürmische, bald schwermüthige Jünglingsalter, welches nachher in das heftige und ernste Mannesalter übergeht. Gerade weil im Kinde jener unheilschwangere Trieb fehlt, ist das Wollen desselben so gemäßigt und dem Erkennen untergeordnet, woraus jener Charakter von Unschuld, Intelligenz und Vernünftigkeit entsteht, welcher dem Kindesalter eigentümlich ist. – Worauf nun die Aehnlichkeit des Kindesalters mit dem Genie beruhe, brauche ich kaum noch auszusprechen: im Ueberschuß der Erkenntnißkräfte über die Bedürfnisse des Willens, und im daraus entspringenden Vorwalten der bloß erkennenden Thätigkeit. Wirklich ist jedes Kind gewissermaaßen ein Genie, und jedes Genie gewissermaaßen ein Kind. Die Verwandtschaft Beider zeigt sich zunächst in der Naivetät und erhabenen Einfalt, welche ein Grundzug des ächten Genies ist: sie tritt auch außerdem in manchen Zügen an den Tag; so daß eine gewisse Kindlichkeit allerdings zum Charakter des Genies gehört. In Riemers Mittheilungen über Goethe wird (Bd. I, S. 184) erwähnt, daß Herder und Andere Goethen tadelnd nachsagten, er sei ewig ein großes Kind: gewiß haben sie es mit Recht gesagt, nur nicht mit Recht getadelt. Auch von Mozart hat es geheißen, er sei zeitlebens ein Kind geblieben. (Nissens Biographie Mozarts: S. 2 und 529.) Schlichtegrolls Nekrolog (von 1791, Bd. II, S. 109) sagt von ihm: »Er wurde früh in seiner Kunst ein Mann; in allen übrigen Verhältnissen aber blieb er beständig ein Kind.« Jedes Genie ist schon darum ein großes Kind, weil es in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes, ein Schauspiel, daher mit rein objektivem Interesse. Demgemäß hat es, so wenig wie das Kind, jene trockene Ernsthaftigkeit der Gewöhnlichen, als welche, keines andern als des subjektiven Interesses fähig, in den Dingen immer bloß Motive für ihr Thun sehen. Wer nicht zeitlebens gewissermaaßen ein großes Kind bleibt, sondern ein ernsthafter, nüchterner, durchweg gesetzter und vernünftiger Mann wird, kann ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt seyn; nur nimmermehr ein Genie. In der That ist das Genie es dadurch, daß jenes, dem Kindesalter natürliche, Ueberwiegen des sensibeln Systems und der erkennenden Thätigkeit sich bei ihm, abnormer Weise, das ganze Leben hindurch erhält, also hier ein perennirendes wird. Eine Spur davon zieht sich freilich auch bei manchen gewöhnlichen Menschen noch bis ins Jünglingsalter hinüber; daher z. B. an manchen Studenten noch ein rein geistiges Streben und eine geniale Excentricität unverkennbar ist. Allein die Natur kehrt in ihr Gleis zurück: sie verpuppen sich und erstehen, im Mannesalter, als eingefleischte Philister, über die man erschrickt, wann man sie in spätern Jahren wieder antrifft. – Auf dem ganzen hier dargelegten Hergang beruht auch Goethe's schöne Bemerkung: »Kinder halten nicht was sie versprechen; junge Leute sehr selten, und wenn sie Wort halten, hält es ihnen die Welt nicht«. (Wahlverwandtschaften, Th. I, Kap. 10.) Die Welt nämlich, welche die Kronen, die sie für das Verdienst hoch emporhielt, nachher Denen aufsetzt, welche Werkzeuge ihrer niedrigen Absichten werden, oder aber sie zu betrügen verstehen. – Dem Gesagten gemäß giebt es, wie eine bloße Jugendschönheit, die fast Jeder Ein Mal besitzt ( beauté, du diable), auch eine bloße Jugend-Intellektualität, ein gewisses geistiges, zum Auffassen, Verstehen, Lernen geneigtes und geeignetes Wesen, welches Jeder in der Kindheit, Einige noch in der Jugend haben, das aber danach sich verliert, eben wie jene Schönheit. Nur bei höchst Wenigen, den Auserwählten, dauert das Eine, wie das Andere, das ganze Leben hindurch fort; so daß selbst im höhern Alter noch eine Spur davon sichtbar bleibt: dies sind die wahrhaft schönen, und die wahrhaft genialen Menschen.

Das hier in Erwägung genommene Ueberwiegen des cerebralen Nervensystems und der Intelligenz in der Kindheit, nebst dem Zurücktreten derselben im reifen Alter, erhält eine wichtige Erläuterung und Bestätigung dadurch, daß bei dem Thiergeschlechte, welches dem Menschen am nächsten stehet, den Affen, das selbe Verhältniß in auffallendem Grade Statt findet. Es ist allmälig gewiß geworden, daß der so höchst intelligente Orang-Utan ein junger Pongo ist, welcher, wann herangewachsen, die große Menschenähnlichkeit des Antlitzes und zugleich die erstaunliche Intelligenz verliert, indem der untere, thierische Theil des Gesichts sich vergrößert, die Stirn dadurch zurücktritt, große cristae, zur Muskelanlage, den Schädel thierisch gestalten, die Thätigkeit des Nervensystems sinkt und an ihrer Stelle eine außerordentliche Muskelkraft sich entwickelt, welche, als zu seiner Erhaltung ausreichend, die große Intelligenz jetzt überflüssig macht. Besonders wichtig ist, was in dieser Hinsicht Friedrich Cuvier gesagt und Flourens erläutert hat in einer Recension der Histoire naturelle des Erstern, welche sich im Septemberheft des Journal des Savans von 1839 befindet und auch, mit einigen Zusätzen, besonders abgedruckt ist unter dem Titel: Résumé analytique des observations de Fr. Cuvier sur l'instinct et l'intelligence des animaux, p. Flourens. 1841. Daselbst, S. 50, heißt es: »L'intelligence de l'orang-outang, cette intelligence si développée, et développée de si bonne heure, décroit avec l'âge. L'orang-outang, lorsqu'il est jeune, nous étonne par sa pénétration, par sa ruse, par son adresse; l'orang-outang, devenu adulte, n'est plus qu'un animal grossier, brutal, intraitable. Et il en est de tous les singes comme de l'orang-outang. Dans tous, l'intelligence décroit à mesure que les forces s'accroissent. L'animal qui a le plus d'intelligence, n'a toute cette intelligence que dans le jeune âge.« – Ferner S. 87: »Les singes de tous les genres offrent ce rapport inverse de l'âge et de l'intelligence. Ainsi, par exemple, l'Entelle (espèce de guenon du sousgenre des Semno-pithèques et l'un des singes vénérés dans la religion des Brames) a, dans le jeune âge, le front large, le museau peu saillant, le crâne élevé, arrondi, etc. Avec l'âge le front disparait, recule, le museau proémine; et le moral ne change pas moins que le physique: l'apathie, la violence, le besoin de solitude, remplacent la pénétration, la docilité, la confiance. »(Ces différences sont si grandes«, dit Mr. Fréd. Cuvier, »que dans l'habitude où nous sommes de juger des actions des animaux par les nôtres, nous prendrions le jeune animal pour un individu de l'âge, où toutes les qualités morales de l'espèce sont acquises, et l'Entelle adulte pour un individu qui n'aurait encore que ses forces physiques. Mais la nature n'en agit pas ainsi avec ces animaux, qui ne doivent pas sortir de la sphère étroite, qui leur est fixée, et à qui il suffit en quelque sorte de pouvoir veiller à leur conservation. Pour cela l'intelligence était nécessaire, quand la force n'existait pas, et quand celle-ci est acquise, toute autre puissance perd de son utilité.« – Und S. 118: »La conservation des espèces ne repose pas moins sur les qualités intellectuelles des animaux, que sur leurs qualités organiques.« Dieses Letztere bestätigt meinen Satz, daß der Intellekt, so gut wie Klauen und Zähne, nichts Anderes, als ein Werkzeug zum Dienste des Willens ist.

 


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