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Anonyme Korrespondenz

In einer der langweiligen Berliner Vorstadt-Konditoreien, wo die Mohrenköpfe und Pfannkuchen noch einmal so groß sind wie Unter den Linden und in der Leipzigerstraße, saß ein junger Herr, der preußische Assessoren-Typus mit den enganliegenden, bestrupften Beinkleidern, dem pomadisierten, in der Mitte gescheitelten und über den oberen Ohrrand vorgebürsteten Haupthaar; sauber rasiert, – nett, aber nicht elegant gekleidet: eine unmoderne, etwas geschmacklose weiß und gelbgestreifte Plastronkravatte über dem »Jäger«-Hemd, Stiefel mit breiten Spitzen und hohen Hacken an den nicht eben allzu zierlichen Füßen. Am Zeigefinger der Rechten trug er einen Siegelring – es giebt kaum einen geschmackloseren Einfall – und dabei sah er noch zeitweise mit einer Art Wohlgefallen auf den also geschmückten Finger, während er die Zeitung – ein in einen schweren Holzprügel geklemmtes Berliner Tagesjournal durchforschte. Nachdem er seine durch einen Kneifer geschärften Blicke eine Weile in den kleinen Anzeigen spazieren geführt hatte, ließ er das Konvolut der von der ganzen Woche gesammelten Zeitungen in den Schoß sinken; er blickte gedankenvoll vor sich hin, über den mit ausgiebigen und nahrhaften Näschereien befrachteten Ladentisch, hinter dem ein blasses Ladenmädchen mit roten Händen emsig an einem Tischläufer stickte; sie schien den Blick zu fühlen, denn sie wandte den Kopf nach dem stillen Gast, der nun die Zeitung noch einmal erhob und mit unwillkürlicher leiser Bewegung der Lippen ein kleines Inserat ein zweites und ein drittes Mal vor sich hinlas:

»Ich bin ein junges Mädchen, das ohne Anregung, ohne Verkehr mit edleren und schönen Seelen, im sandigen Wurzelboden einer kleinen Provinzialstadt verblühen und welken muß. Im Banne kleinstädtischer Beschränktheit, lächerlichen Philistertums und thörichter Vorurteile verlangt mein Geist nach freiem Flug, nach einem Gedankenaustausch mit einem bevorzugteren und gleichgestimmten Wesen, das in anderen würdigeren Sphären zu leben so glücklich ist; ich sehne mich nach Anregung, nach Abwechslung in der lähmenden Monotonie meiner Tage. Bedingung für den Briefwechsel ist unbedingte Anonymität auf beiden Seiten. Briefe nimmt die Expedition der Zeitung entgegen unter › Schattenblume‹«.

Assessor Daniel – als den ich meinen Helden dem Leser vorstellen will – zog bedächtig ein Messer mit vielen Klingen aus der Tasche und suchte das kleine, etwas schwierig zu handhabende Scheerchen. Ziemlich ungeniert, als wirtschafte er in seinem Eigentum, schnitt er mittelst der Miniaturscheere das interessante Inserat aus dem Journal heraus. Dann betrachtete er den Ausschnitt noch einmal, außerhalb des Zusammenhangs mit den prosaischen Angeboten von Lehrern und Lehrerinnen, Heiratsanträgen und Wohnungsgesuchen. Ein merkwürdiges Inserat! Entweder ein alberner, frivoler Scherz eines Provinzgänschen, oder aber … Ja was? Nun das wäre ja leicht zu ergründen. – Der kleine Papierstreif wanderte in ein besonderes Fach seines Visitenkartentäschchens. Er hing den Zeitungsprügel wieder an den Nagel an der Wand, fuhr in seinen Paletot, legte den Betrug für eine nicht allzu würzige Tasse Kaffee auf den runden Gummiteller am Ladentisch und schritt mit einem gedankenlosen, seitens der Ladenmamsell mechanisch erwiderten Gruß der Thüre zu.

Die »Schattenblume« beschäftigte seine Phantasie sehr lebhaft. Auch er war in einer kleinen Stadt von damals nicht ganz 9000 Einwohnern aufgewachsen, er besuchte das Gymnasium seiner Vaterstadt, kam dann auf die Universität in eine nicht gar viel größere Stadt und zuletzt nach Berlin; aber er war ein Kleinstädter geblieben, und auch in der riesenhaft emporgewachsenen Hauptstadt konstruierte er sich ein Kleinstadtleben zwischen seiner »Bude«, seinem Amt, der Konditorei, der Kneipe, im Verkehr mit ein paar engeren Landsleuten und Freunden entfernt vom großen und lärmenden Treiben der jungen Weltstadt, von der er am Ende nicht viel mehr erfuhr, als sich in den Zeitungen wiederspiegelt. Die für moderne Menschen so verlockenden Schlagworte »reges geistiges Leben«, »Kampf der Geister«, »belebender Hauch der Großstadtluft« etc. galten ihm nicht viel mehr, als Redensarten, und wenn der Winter dahingegangen war und die Frühlingsstimmung in den späten Nachmittagsstunden sich wie ein Fremdling in die unendlichen, lärmenden Straßen mit den dichtbewohnten hohen, grauen Mietshäusern schlich, dann erfaßte ihn die Sehnsucht nach dem alten Glacis seiner Vaterstadt, mit der grünenden Promenade, den alten Buchen und den freundlichen Gartenhäuschen, von wo aus der Blick weit hinausschweifen konnte ins Land, nach den im Nebel der Entfernung verschwindenden bläulichen Höhenzügen des Gebirges. –

Stimmung, Stimmung, – die gabs hier nicht für den kontemplativen Kleinstädter; – Lärm, Kampf, Angst, und Not, – alles für ein Nichts; davon sah er sich vom Morgen bis zum Abend umgeben, bis er seine schlichte Bude betrat, die er einer Beamtenswitwe abgemietet hatte, einer jener Großstadtmärtyrerinnen, die irgendwo in einem stillen Erdenwinkel ein einfaches, bequemes Leben führen könnten, ohne gestoßen und gedrängt zu werden, ohne mit ihrer kleinen Habe in das vierte Stockwerk eines übervölkerten, luft- und lichtarmen Hauses flüchten zu müssen. Aber freilich, in jenen verrufenen kleinen Nestern, wo man das Gärtchen vor seiner Wohnung pflegt, und wenn man des Nachmittags am Fenster sitzt, alle Freunde und Bekannte vorübergehen sehen kann, da giebts keine Militärparaden, kein Gedränge, keine glänzenden Schaufenster, kein Spezialitätentheater, keine stilvollen Kneipen, in denen jetzt auch Damen das Gastrecht erworben haben, kaum eine »Sehenswürdigkeit«, keine Pferdebahn, und keine an den Häusern vorüberpolternde Stadtbahn, und keinen Grunewald mit seinen unübersehbaren Trinkanstalten, keine Kremserpartieen … o, es fehlen alle die Herrlichkeiten, von denen Frau Kreisig dem Assessor zeitweise, wenn sie einmal auf dem gemeinsamen Flur zusammentrafen, mit einer gewissen Begeisterung erzählte; freilich schimpfte sie dann in einem Atem über die Teuerung, über diesen und jenen Mißstand, über die hohen Steuern und am meisten beklagte sie ihren Knaben, der eine halbe Stunde bis zum Gymnasium hatte, und der mit dem »ollen Griechisch und Lateinisch« in unerhörter Weise »gepiesackt« wurde.

Assessor Daniel hatte ihr einmal den Rat gegeben, mit ihrem Jungen in eine kleine Stadt zu ziehen, aber darauf hatte sie ihm mit dem Dünkel der »Großstädterin« geantwortet: »Nicht wenn Sie mir tausend Thaler hinlegen!« – Damit war das letzte Wort über diesen Gegenstand zwischen den beiden gesprochen.

Der Assessor saß wieder in seiner Stube, an dem nur sehr oberflächlich aufgeräumten Schreibtisch, der mit Büchern der Rechtswissenschaft vollgekramt war, daß kaum genug Platz übrig blieb für die Petroleumlampe, die offenbar aus dem »Fünfzigpfennigbazar« stammende Schreibunterlage und das Tintenfaß aus blauem Glas; er hatte sich, die Hände im Schoß, in den Stuhl zurückgelehnt und überlegte.

Die kleine »Schattenblume« verdient eine Lektion – sagte er sich, – anstatt froh zu sein, daß sie im ruhigen, sicheren Hafen geborgen ist, ruft sie den draußen auf dem Meer mit allen Nöten Kämpfenden zu: »Nehmt mich mit! nehmt mich mit!« … Ein ziemlich neuer Zustand, diese Sehnsucht nach den »Segnungen« der großen Stadt; früher ist das gar niemandem eingefallen, und es hat auch Hauptstädte gegeben und beschauliche stille Nester, und die größten Geister haben im engen Bezirk solcher Kleinstädte ihre große Lebensbahn vollendet: Schiller, Goethe, Wieland, 2c. das ganze klassische Dichtergeschlecht … und Musiker und Maler nicht minder! … Aber so ein junges Fräulein, das in den Zeitschriften des Journal-Lesezirkels Wunderschilderungen von den bestrickenden Reizen des Berliner Lebens zu lesen bekommt, mit etwas geschmeichelten Abbildungen dazu, das vielleicht auch noch aus einem der modernen Berliner Romane ganz überflüssige Belehrungen über die Vorurteilslosigkeit der reichshauptstädtischen »oberen Zehntausend« und über das bunte, abenteuerreiche und interessante Leben und Weben der Gesellschaft schöpft, so ein unwissender Naseweis meint dann gleich, er sei zu gut für die kleine Stadt, und das sei nur der Boden für indolente Philisternaturen, für beschränkte Schlafmützen und sitzengebliebene alte Tanten … Das ungefähr war sein Gedankengang, als er der »Schattenblume« brieflich seine Meinung sagte, mit Humor und Laune zwar, aber doch ganz bestimmt und unzweideutig.

… »Es war mir ein Bedürfnis, das einmal niederzuschreiben – schloß er – und die Gelegenheit, es einem schönen Ohre zu predigen, ist mir um so erwünschter. Ich kann nur wohl denken, daß das, was und wie ich es Ihnen sage, nicht den Erwartungen entspricht, die Sie, mein unbekanntes Fräulein, in die gewünschte Korrespondenz setzen, und ich darf nicht hoffen, daß Sie mich einer Widerlegung, oder auch nur einer Antwort würdigen werden. So danke ich Ihnen wenigstens eine mich persönlich befriedigende Stunde, in der ich (aus Ihrem Gesichtspunkte höchst ketzerisch) diese unbedeutenden aber überzeugungsvollen und tiefgefühlten Ansichten zu Papier brachte, die ich im Mittelpunkte des »geistigen Lebens« ohnedies nicht laut werden lassen dürfte, ohne gesteinigt zu werden. Ich bin eben kein moderner Weltstadtmensch, ich bin, wie mich meine Freunde ironisch nennen, und als die ich mich Ihnen verbindlichst empfehle

Eine Privatnatur.« …

Trotzdem ermangelte er nicht, für den sehr unwahrscheinlichen Fall einer Antwort, eine Chiffre hinzuzufügen, und mehrere Tage darauf frug er sogar auf dem bezeichneten Postamt nach einem postlagernden Brief. – Und siehe da, die »Schattenblume« hatte geschrieben, acht Seiten lang, sehr ausführlich, sehr anregend, mit einer Handschrift, die man gern ein zweites und ein drittes Mal liest. Die Schrift ist das, was im persönlichen Verkehr die Stimme bedeutet, der Wohllaut eines weiblichen sanften und biegsamen Organes berührt ebenso einschmeichelnd und sympathisch, wie eine charakteristische deutliche Schrift ohne Künstelei; ich möchte das so nebenbei den Damen gesagt haben, sofern sie überhaupt Briefe schreiben, an deren Beurteilung ihnen etwas liegt.

Der Assessor las die Epistel mit vergnügtem Lächeln ein paarmal durch. Er hatte keinen leichten Stand, das war gleich zu erkennen, denn das Provinzgänschen, das er unter der »Schattenblume« verborgen glaubte, schlug im Federkriege eine tapfere Klinge. Da hieß es:

»Ich erwarte mir von dem Ideenaustausch mit Ihnen das meiste, denn unter allen Korrespondenten, die meinen Notschrei hörten und beantworteten, sind Sie, meine geehrte »Privatnatur«, der einzige, der mir opponiert. Alle anderen reichen mir theilnahmsvoll und mitleidig im Geist ihre Retterhand. Aber Sie werden nicht verlangen, daß ich auf den ersten Streich falle, und wenn mich Ihre Belehrungen unterhalten, so erreichen Sie nebenbei auch noch den Zweck, mich zu bessern und mit meinem Schicksal zufriedener zu machen. Darum verbrenne ich den übrigen Wust Briefe und biete Ihnen vor Beginn des Turniers die Hand, wie es unter ehrlichen Kämpfern Sitte ist.« …

Daran schloß sich eine Widerlegung der Behauptung, die der Assessor in seinem ersten Brief ausgesprochen hatte; es gelang ja nicht in allen Punkten, aber die Versuche waren mit Verstand und sogar mit Logik unternommen, dazwischen eine kindliche Anschauung, ein nicht ganz korrektes Citat und – sogar ein orthographischer Fehler! Im Affekt kann das wohl passieren! Unten am Rand stand: »Nachschrift: – Keine.«

»Ein reizender Brief!« sagte der Assessor, und er las ihn einem Kollegen vor, der sich nicht minder darüber amüsierte. Nach einigen Tagen fand er Muße, der Unbekannten zu antworten, ebenfalls im Umfang von acht Seiten. Er fühlte dabei, daß er sich zwingen mußte, den Ton seines ersten Briefes festzuhalten und von seinen Waffen so rücksichtslosen Gebrauch zu machen, wie es die unbekannte Gegnerin ausdrücklich verlangte. Sie war eben doch eine Gegnerin, vielleicht eine schöne? Das dichtgeschlossene Visier gestattete nicht einmal Vermuthungen über diesen Punkt, aber die optimistische Phantasie stattet eine Unbekannte, zu der man in geistige Beziehung getreten ist, eine anonyme Korrespondentin, eine Maske, die mit uns während einer Ballnacht ein Intriguenspiel getrieben, gar zu gern mit den angenehmsten Eigenschaften und Reizen aus. – Wer mag sie sein, wie mag sie aussehen? frug sich der Assessor wiederholt; er betrachtete den Brief, das tote Blatt, welches das Geheimnis kannte, auf dessen Fläche die Hand der rätselhaften Schreiberin geruht hatte, von allen Seiten, er prüfte den Geruch des schlichten, ganz unverzierten Briefpapiers – ein Parfüm hat schon manches zarte Geheimnis verraten – aber hier war auch dafür keine Aussicht, denn einmal schien ein schwacher Heliotropgeruch seinem Sinn zu schmeicheln, am nächsten Tag war auch diese Spur verflogen, und es kam ihm plötzlich wieder vor, als dufte das Papier ein wenig nach Reseda. Er trug den Brief stets bei sich, in der Brusttasche.

»Hast Du einen zuverlässigen Geruchssinn?« frug er bei nächster Gelegenheit einen Freund. »Gewiß!« – »Bitte, sag nur, wonach der Brief riecht?« – Der Freund entschied kurz: »Nach Cigarren!« – Und er hatte Recht. Von dem Tag an verwahrte der Assessor die Ergüsse der »Schattenblume« in einer von seinem täglichen Cigarrenproviant getrennten Tasche.

Es bot sich keine Aussicht für die Lüftung des interessanten Geheimnisses. Die vorsichtige Korrespondentin ließ ja sogar die Briefe auf ein Berliner Postamt schicken, wo sie von einer Vertrauten, einer ins Geheimnis gezogenen Cousine, behoben und in die entfernte, unbekannte Kleinstadt weiterbefördert wurden, deren Name nicht verraten werden sollte.

Dieser Briefwechsel vollzog sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit, zuerst in achttägigen Intervallen, dann – nach einigen Wochen ging Assessor Daniel schon am fünften Tage zur Post, um nachzufragen und seine Ungeduld wurde befriedigt, es war bereits ein Brief da. Einer glich dem anderen, immer dasselbe Papier, dieselbe violette Tinte, die wohlbekannte sympathische Schrift mit den vielfach ausgestreuten großen Anfangsbuchstaben in lateinischem Charakter – wie der Assessor sich tiefsinnig erklärte, vermutlich eine Folge des Studiums fremder Sprachen; – es war, als wären alle Briefe der »Schattenblume« an einem Tage geschrieben. Natürlich waren sie auch, um das Geheimnis zu hüten, durch die erwähnte Vertraute der Briefschreiberin nicht am Ursprungsort, sondern in Berlin aufgegeben worden. Der Umfang der Briefe nahm von Woche zu Woche zu. Mit acht Seiten fing es an, dann wurden achteinhalb daraus, und neun; hieraus eine Zwischenstation des Grollens mit drei Seiten, eine versöhnende Aufklärung des Mißverständnisses mit zehn Seiten und alsbald drohte der Gummiring, den der Assessor um die Briefe der »Schattenblume« geschlungen hatte, zu zerreißen.

Der Schlachtruf »hier Groß-, hier Kleinstadt« war nahezu verklungen, er hallte nur noch in persönlichen Bemerkungen nach; der Ausgang des Meinungswechsels war unbestimmt; dem mutigen Streiter waren die Waffen entsunken, einem so liebenswürdigen, unschuldigen Vorurteil gegenüber.

»Wie beneide ich Sie – schreibt sie einmal –, um den Genuß von ›***‹, (hier wird ein im Hoftheater zum ersten Mal aufgeführtes Schauspiel genannt), ich habe alles gelesen, was die zwei Berliner Blätter, die Papa hält, darüber schreiben. Aber ich finde, die Zeitungen widersprechen sich. Im *blatt heißt es: ›Der Dichter schöpft aus dem Vollen, er stellt lebfrische, warmblütige Menschen auf die Bühne, die aus unserer Mitte auf das Theater gesprungen zu sein scheinen …‹ und die *-Zeitung behauptet … ›Wie schade, daß der Autor die Welt nur so kennt, wie sie sich seinem Kopfe darstellt, so bietet er uns nur Marionetten, sehr täuschend agierende, redegewandte, temperamentvolle – aber doch nur Marionetten‹ Verzeihen Sie, geehrte ›Privatnatur‹, aber diesen Zwiespalt verstehe ich nicht, welches Urteil haben Sie? Gerade für diesen Dichter interessiere ich wich ganz besonders. Ich besitze, nebenbei bemerkt, ein sehr sinniges Autogramm von ihm, ein Vorzug, den ich mit sehr vielen teile, ich weiß es und kann Ihnen das Vergnügen, mich in dieser Umsicht wieder zu enttäuschen, nicht bereiten«

Assessor Daniel hatte das Stück nicht gesehen, aber er wollte es nicht eingestehen und beeilte sich, zur nächsten Wiederholung einen Sitz zu bestellen. Dann schrieb er der Unbekannten sehr eingehend, viele Seiten lang über das neue Drama und ihren Lieblingsdichter.

So gestaltete sich der Ideenaustausch immer anregender, es entstand ein persönlicher Rapport zwischen den beiden, die Briefe nahmen eine gewisse Vertraulichkeit an und die allgemeinen Themata traten mehr und mehr in den Hintergrund; eigene Erlebnisse bildeten den Gegenstand der Mitteilungen und der Unterhaltung. Aber wie ängstlich bewahrte »Schattenblume« das interessante Geheimnis, nicht die leiseste Andeutung über ihren Namen, ihren Wohnort oder andere Umstände, die auf die Spur führen konnten, gönnte sie dem unbekannten Freunde … »Vielleicht liegt nicht zum mindesten darin der Reiz dieses Verkehrs – schrieb sie einmal – und ich bitte Sie neuerdings, mir die Freude nicht zu zerstören, die ich über unser Einverständnis empfinde; denn ich weiß, daß, träten wir beide aus unserer Anonymität heraus – schrieben Sie fortan nicht mehr der »Schattenblume«, sondern einer gewissen Anna Lehmann in Quedlinburg und Sie wären dann für mich nicht mehr die nebelhafte interessante ›Privatnatur‹, sondern Herr Friedrich Schmidt in Berlin, Wasserthorstraße 13; ich weiß (verzeihen Sie den unendlichen Satz!), daß dann das schillernde Farbenspiel der Seifenblase verlöschen würde, und bald darauf wäre es mit dem Vergnügen ganz vorüber. Es ist besser so, und bitte, machen Sie keinen Versuch mehr, mich zur Demaskierung zu bewegen. Sagen Sie selbst, hätte es irgend einen Zweck? …«

So blieb es bei dem Inkognito.

Der Frühling kam. Der Assessor hielt mit seinen Klagen über die Freudlosigkeit und Dürftigkeit des Berliner Frühlings nicht zurück, er sehnte sich wieder nach dem alten Wall der Vaterstadt, nach dem mit frischem Grün bezogenen Glacis, auf dem die Jungens mit den blauen Schülermützen die Drachen steigen lassen, während die Mütter mit ihren Handarbeiten vor den kleinen Gartenhäusern sitzen.

»… Sie Undankbarer – beginnt die Kritik der ›Schattenblume‹ – haben Sie denn nicht den schönen Berliner Tiergarten mit den geputzten Frauen, die nebenbei gesagt auch schöner sind, als ihr Ruf von ihnen meldet. Bietet Ihnen die herrliche alte Allee, die nach Charlottenburg hinausführt, nicht reichlichen Ersatz für die engbegrenzte Kleinstadtpromenade vor dem Stadtthor, wo die Frau Sanitätsrat ihre Frühlingstoilette von ›Anno Schnee‹ und ihre schiefgewachsenen, zu ewigem Sitzenbleiben verurteilten drei Töchter spazieren führt? – Apropos, spielt der Leierkastenmann aus dem ›großen Stern‹ noch immer das Gebet aus dem ›Freischütz‹? Ich habe es jeden Abend gehört, als ich vor einem Jahre in dem schönen, reizenden Berlin war, und es kam mir damals ganz stimmungsvoll vor. Und dann in den ›Zelten‹, da ist doch Leben, lauter Menschen, die man nicht kennt, die man zum ersten Mal sieht und vielleicht nie wieder …

Giebt es nicht ein Gedicht von Geibel oder Heine das anfängt ›Schön ist's abends in den Zelten …‹? Und ein Dichter muß sich doch darauf verstehen? Aber Sie verschließen vermutlich Ihre starre ›Privatnatur‹ in einem faustischen ›Museum‹ in Berlin N oder O und warten mit eigensinnigem Trotz darauf, daß der holde Lenz Sie aufsuchen werde, ja dann begreife ich Ihre Klagen …«

Bald darauf antwortete Assessor Daniel:

»… Ich war gestern abend mit Ihnen, Arm in Arm mit dem lieblichen Phantasiebild, das ich mir von der ›Schattenblume‹ konstruiert habe, im Tiergarten, und ich bin in die Charlottenburger Chaussee eingebogen, um den Zauber des schönen Frühlingsabends auf mich wirken zu lassen. Ebendenselben Weg sind Sie gewandelt, an der Seite einer Mama, einer Tante oder einer lieben Freundin, vielleicht der liebenswürdigen Cousine, die der gute und dienstbare Genius unseres Briefwechsels ist. Die welken Blätter vom vorigen Jahr, die jetzt zwischen dem keimenden Grün noch an den Zweigen hängen, haben Sie gesehen, sie könnten mir von Ihnen erzählen, Sie beschreiben – und der Sand, auf dem ich in gedankenvollen, langsamen Schritten dahinwandelte, hat den Abdruck Ihres Fußes empfangen, aber leider nicht bewahrt, und er würde sich ja auch nicht erraten lassen, obwohl er wahrscheinlich der zierlichste ist. Ich empfand eine eigentümliche Befriedigung denselben Weg zu gehen, der mir vielleicht darum viel interessanter erschien. Schon von der Ferne hörte ich die klagenden Harmonien eines Leierkastens, das Gebet aus Webers ›Freischütz‹, dieselben Töne, die damals Ihr Ohr trafen. Ich war lange nicht hier. Man kommt nicht dazu, und der Berliner, wie sich nach einiger Zeit der geborene Breslauer, Frankfurter, Insterburger, Posener, Merseburger oder Stettiner hier mit Stolz nennt, ist kein Flaneur und kein Spaziergänger. Die eigene persönliche Neigung hält nicht lange stand, das ›Heerdentier‹ bewährt sich auch in dieser Beziehung, einer thut's dem anderen nach und lebt sein Leben; das ist die nivellierende Kraft der Teilnehmerschaft an einer großen menschlichen Gemeinschaft. – Aber Sie haben Recht, es ist ein hübscher Weg, und wenn man ein Dichter wäre, man brauchte nicht erst, wie Seume, um die Welt zu gehen, um poetische Anregung zu finden, ich glaube, ich bin selber – irre ich nicht, so war's in der Gegend des Neuen Sees – in eine mir völlig fremde Feiertags-Stimmung geraten, in der poetische und metrische Gedanken reifen … es kommt eben nur auf die Umstände an, und wenn Geibel, den ich über alles liebe und verehre – sogar die nicht eben allzu romantische Szenerie in den Zelten mit den damaligen Wirtshäusern poetisch verherrlichen konnte, so muß wohl etwas dran sein. Freilich die nächsten Zeilen jenes Gedichtes geben die Erklärung … Lesen Sie sie gefälligst nach. Ich bin sogar auf dem Rückweg eingekehrt und habe mich etwas abseits von der Menge, die die Plätze vor dem Orchesterpavillon bevorzugt, an einem einsamen Tisch niedergelassen. Die alten schlichten Restaurationsgärten haben sich in luxuriöse, großartige ›Etablissements‹ verwandelt, in denen es, wie mir scheint, nicht gemütlicher geworden ist, trotz der Überladung mit Dekorationen, die unsere modernen Architekten schon in jede kleine Kneipe getragen haben. Die Musik ist schlecht, und sie hat mich eher vertrieben, als gefesselt. Und dieses ›Familienleben‹ vor den Bierkrügen und der Qualm schlechter Cigarren, der sich über den Häuptern der Menge zum Abendhimmel erhebt! Die Frauen, sogar die Damen immer »mit bei«, wie man hier sagt, und auch die unerwachsenen Kinder! – Ich bereute den Abschluß meiner stimmungsvollen Wanderung, auf der ich mich mit dem dürftigen Berliner Frühling bereits zu versöhnen begann. Nächsten Donnerstag, abends zwischen sechs und sieben reiche ich Ihnen wieder im Geiste den Arm zu einem Gang vor's Brandenburger Thor, – sind Sie dabei? …« –

So folgte Brief auf Brief, in kürzeren oder längeren Intervallen, je nach den Umständen und nach den gegebenen Anregungen, es war offenbar beiden eine liebe Gewohnheit geworden, ihre freiwillige und unfreiwillige Abgeschlossenheit durch einen reizvollen Meinungsaustausch, dem noch dazu die Würze des Geheimnisvollen anhaftete, erträglicher zu machen.

*

Die volle Frühlingspracht war ins Land gezogen, der Sommer kam, und die Spiegelscheiben an den schönen Villen in der Tiergartenstraße begannen hinter den entfalteten Wetterrouleaux zu verschwinden, oder die Jalousien waren die ganze Fensterfront entlang herabgelassen, die Bewohner dieser mitten im Grün stehenden Prachtbauten, auf die der kleinbürgerliche Sonntagsspaziergänger mit einem Seufzer stillen Neids hinüberblickt, können die Zeit kaum erwarten, um ins »Bad« zu kommen und ihrem luxuriösen, prächtigen Heim zu entrinnen. Die Riesenstadt begann sich zu entleeren, auch die minder Wohlhabenden, ja selbst solche, die noch vor fünfzehn Jahren und unter denselben Erwerbsverhältnissen von Badeaufenthalt und Sommerreise nicht geträumt hatten, halten jetzt eine Kur in einem der bekannteren Badeorte, eine Restaurierung der Nerven an der See oder im Gebirge für ein Gebot der Wohlanständigkeit, für eine Verpflichtung, die man seinen Bekannten oder der »Gesellschaft« gegenüber erfüllen muß.

Nicht aus diesen eitlen, und ziemlich thörichten Gründen, sondern weil sich dem Assessor die Gelegenheit zu einem mehrwöchentlichen Urlaub förmlich aufdrängte, kündigte er der erstaunten Frau Kreising eines Tages an, daß er der »Bude« für ein paar Wochen entrinnen wolle. Sie begriff nicht, wie man gerade vor dem Schützenfest das herrliche Berlin verlassen könne, – der Assessor war eben ein »Sonderling«.

Der Koffer war bald gepackt und adieu Berlin!

Vierzehn Tage lang durchstreifte er in Gesellschaft eines ehemaligen Universitätskollegen, den er in München, draußen im neuen »Löwenbräukeller« wiedergefunden hatte, die Berge in langen, fröhlichen Fußwanderungen nach Studentenart, bis ein paar hartnäckige Regentage in Berchtesgaden energisch Halt geboten. Und als sie eines Abends in der gedeckten Veranda des Gasthofes zur »Post« beim Bierkrug saßen, während der Regen in prasselnden Strömen an die Scheiben schlug, lümmelte der alte Korpsbruder über dem etwas abgegriffenen Band der Reichenhaller Kurliste.

»Ach das ist gut!« rief er plötzlich, zu dem Assessor aufsehend, »da hätte ich wirklich Lust hinüberzufahren, meine Tante ist drüben in Reichenhall mit Gretel und Martha … Lieber Alter, die müßtest Du sehen …«

»So?« erwiderte der Assessor, »gut, fahr doch hinüber!«

»Natürlich – wird gemacht – aber Du kommst mit; – wirst Dich großartig amüsieren, ich sage Dir, das sind zwei Mädels …«

Er küßte den vor dem Mund zusammengelegten Daumen und Zeigefinger, und sagte »fein-fein«.

»Hübsch?«

»Ach was, ›hübsch‹ – ein Traum! Und gescheidt, und witzig, und amüsant; na Du wirst ja sehen. Da müssen wir allerdings unser Sonntagsg'wandel aus dem Koffer herausholen, denn so wie wir da sitzen, als durchgeregnete Gebirgsstrolche, werden wir wie der Miller in ›Cabale und Liebe‹ sagt, ›kein Fressen fürs naschhafte Mädel‹ sein.«

»Wie kommen wir denn da hinüber?«

»Sehr einfach, mit der Post werden wir stolz einfahren, Coupéplätze gleich hinter dem Kutscher – Du kennst die Ramsau nicht? Ach, da wirst Du Dich wundern!« …

Der Hausknecht erhielt sofort den Auftrag, gleich in aller Frühe »Außenplätze« zu bestellen; dann bezahlten sie die Rechnung, um am Morgen nicht aufgehalten zu sein, und der Wirt wünschte ihnen »gutes Wetter und gute Unterhaltung«.

Der erste Teil dieses Wunsches schien sich zu erfüllen, die Morgensonne zeigte zum ersten Male seit so und so viel Tagen ihr unverhülltes, strahlendes Antlitz. – Seelenvergnügt kletterten die beiden Freunde auf den nicht gerade komfortablen Bock des Postwagens, von dem Postillon in der weißen Lederhose und mit dem blauen Tressenfrack freundlich begrüßt. Der Mann blies sein Liedel schlecht und recht in den Morgen hinaus und die beiden dicken Gäule liefen im behaglichen Trab dahin.

*

In dem großen alten Garten des Kurhauses spielte die Kurkapelle. Was Reichenhall zur Zeit an eleganten Frauen, schönen Mädchen und männlichen Badelöwen besaß, hatte sich auf der langen Terrasse des Restaurants und in der Gegend der Wandelbahn versammelt, denn die Sonne brannte vom Julihimmel hernieder, und der Trommelschläger des Orchesters fuhr sich, während er Pausen hatte, wiederholt mit dem Rücken der Hand über die feuchte Stirne. Es war alles in den Schatten geflüchtet und auch hier machte sich die Hitze noch sehr fühlbar. Da war ein beleibter Herr im weißen Flanell-Anzug während der Lektüre des »Gil-Blas« eingeschlummert, die fetten, rundlichen Hände, die manchmal nervös zuckten, waren in den Schoß gesunken, der Kopf schien auf dem Fettpolster des zweifach abgestuften Kinns wohlig zu ruhen; die meisten Damen hatten ihre Handarbeiten zur Seite geschoben und sich bequem in den Stuhl zurückgelehnt, dahin und dorthin mit einem müden Kopfnicken grüßend; man hatte die duftigsten Toiletten angelegt, weiß und helle Farben, die zartesten Gewebe und die leichtesten Hüte gewählt, und die nach englischer Sportmode gekleideten Herren hatten sich von der beengenden Weste emanzipiert.

In den vordersten Tischreihen saß eine ältere Dame mit zwei jungen Mädchen, deren geschwisterliche Aehnlichkeit eine verblüffende war, und doch bei näherer Prüfung stellte sich mehr als eine ganz bestimmte Verschiedenheit heraus. Martha war mehr nach der Mutter, während Grete mehr die Züge des Vaters tragen mochte; beide besaßen das schöne reichliche dunkle Haar, das auf dem Scheitel der Mutter bereits zu erbleichen begann. Diese Mama konnte selbst noch für eine schöne Frau gelten, und wenn die verblühten, alternden Damen, die sich neben ihren jugendlichen Töchtern zeigen, sehr häufig zum Nachteil dieser Menschenblüten die deutliche Vorstellung heraufbeschwören, wie auch sie aussehen werden, wenn der Frühling und der Sommer über sie dahingegangen sein wird, so fiel ein solcher Vergleich hier viel günstiger aus. Man hatte nicht den Gedanken, das ist das Zukunftsbild dieser Mädchen, sondern den: so sah die Mutter einst aus.

Grete, die jüngere, arbeitete an einer kunstvollen bunten Stickerei, die ein bißchen an die gewissen Paradestücke erinnerte, die nie fertig werden, trotz des heuchlerischen Eifers, mit dem während der paar Wochen Badeaufenthalt daran herumgestichelt wird; die Schwester hatte sich in den Stuhl zurückgelehnt und las, den durch den blühweißen Battist durchschimmernden schönen Arm mit der linken Hand stützend, in einem kleinen Goldschnittbändchen, das einem Gedichtbuch ähnlich sah.

»Oho«, rief die Mama plötzlich sehr lebhaft, den Kopf erhebend und nach dem Musikpavillon ausblickend, »der sieht doch gerade wie Max aus …«

Martha ließ das Buch langsam in den Schoß gleiten und folgte den Blicken der Mama. »Wo denn?«

»Da, gerade vor uns – einer der beiden, die jetzt hinter den Fliedersträuchen hervorkommen!«

Die Schwestern sahen beide mit etwas emporgerichtetem Oberkörper nicht allzu interessiert nach der bezeichneten Richtung; sie brauchten sich keine Mühe zu geben, denn der Vetter befreite in diesem Augenblick seine Rechte aus Assessor Daniels Arm und zog mit lebhaftem Schwenken grüßend den Hut. Darauf faßte er den Freund am Ärmel und mit den Worten: »Da sind sie, – ja natürlich, – komm!« zog er ihn über den schattenlosen Weg nach der Terrasse, die Stufen hinauf.

»Wie kommst denn Du nach Reichenhall?« rief die Mama, dem Neffen mit freundlichem Willkomm die Hand reichend, die dieser rasch an seine Lippen drückte; es sah beinahe aus, als wolle er dieser Pflicht so schnell wie möglich genügen, um die jugendlichen Cousinen etwas weniger ceremoniell, aber ebenso herzlich mit Händedrücken zu begrüßen.

»Das Rätsel werde ich Euch sofort lösen – erlaube zuvor, daß ich Dir meinen Reisebegleiter vorstelle, einen alten Korpsbruder, Assessor Daniel – meine Tante, Frau von Klammroth, meine schönen Cousinen Martha und Gretel.«

Die beiden Mädchen machten eine entsprechende Kopfbewegung, freundlich, ohne die gnädige Herablassung, durch die viele Modefräulein ihre hohe Frauenwürde zu bekunden pflegen.

»Ich habe Eure Namen in der Kurliste gelesen und da dachte ich mir, wir können die Regentage angenehmer zusammen verbringen; nun haben wir Euch aber das allerschönste Wetter mitgebracht …« sagte der lebhafte Vetter – »Euch geht's sehr gut, wie ich sehe, – Du inhalierst hier, Tante?«

»Ja, ein bischen …«

»Wie lange bleibst Du noch hier?«

»Vielleicht vierzehn Tage …« und mit einem Blick auf den Assessor fuhr sie fort: »Wollen Sie auch die Kur gebrauchen?«

Assessor Daniel hörte nicht, er stand zwischen und hinter den beiden Mädchen, die ihre Beschäftigung unterbrochen hatten und studierte die Schönheit dieser bildhübschen Schwestern.

Der Freund stieß ihn an. »Ob Du eine Kur gebrauchst«, meint Tante; »na, ich denke, wir verkneifen uns das; – Kur ›machen‹ höchstens!« antwortete er an Stelle Daniels, mit einem drolligen Schwerenöterausdruck.

Der Assessor stand mitten im schmalen Gang zwischen den Tischreihen, den Kellnern im Wege, die sich wiederholt still grollend an ihm vorüberdrängten, um ihn von der Unhaltbarkeit dieser Position zu überzeugen. Umsonst. Glücklicherweise erkannte Frau von Klammroth die schwierige Situation und ein paar Augenblicke später saßen die beiden Herren, ihrer Einladung folgend, am Tisch. Der Assessor zwischen Martha und Mama, der Vetter neben Gretel, die wieder ihre interessante Buntstickerei erhoben hatte und jetzt noch öfter als früher darüber hinwegsah, obwohl ihr der Vetter gar nicht viel Zeit zu stillen Beobachtungen ließ. Seit ihren ersten Backfischjahren machte er ihr scherzhaft und neckend den Hof, ohne jeden Hintergedanken, wie Kinder miteinander spielen; an die ernsthaftere Martha hatte er sich nie herangetraut. »Mit der ist nur vernünftig zu sprechen« – sagte er immer, »bei Gretel bringt man auch höheren Blödsinn an, ohne daß sie's übel nimmt, und gescheidte Menschen brauchen gelegentlich ein bischen Blödsinn zu ihrer Erholung … je mehr, je besser …«

Frau von Klammroth führte das Gespräch in den konventionellen Bahnen. Es giebt ja ein förmliches Schema für die sommerliche Badekonversation: Wie lange sind Sie schon hier? – Wie lange gedenken Sie zu verbleiben? – Wie gefällt es Ihnen? – Sind Sie das erste Mal da? – Was haben Sie in X für Wetter gehabt? – Wo wohnen Sie hier? u. s. w.

Martha mischte auch eine oder die andere Frage dazwischen oder eine Bemerkung, die zu einer Fortführung der Unterhaltung Anlaß gab, und manchmal frug sie ganz direkt, indem sie Daniel gerade ansah, wie Männer untereinander sprechen, ernsthaft, ohne Versteckenspielen, nicht nur um Worte zu machen, und doch die mädchenhafte Anmut keinen Augenblick verleugnend.

Assessor Daniel konnte den Blick nicht von ihr wenden, er studierte dieses edle ausdrucksvolle, eher bleiche als rosige Gesicht mit den glänzenden dunklen Augen, er zeichnete im Geist die edle Biegung des feinen Näschens nach, das ganz tadellos war, er schien die paar blaßgelben Sommersprossen zählen zu wollen, die über den Nasenflügeln verstreut waren, und er bewunderte den süßen Mund mit den roten, vollen und glatten frischen Lippen. Das reichliche, dunkle Haar, das in kunstlosem Arrangement, an die antiken Frisuren erinnernd, in leichtgewellten Büscheln in die Stirne wehte und sich über dem Scheitel in einen einfachen Knoten verschlang, verlief allmählich im Nacken. Und dieser Hals, so rund, so glatt, nur vorn links eine ganz kleine Stelle, – nicht größer wie die Spur der Lippen nach einem sanften Kuß, – die etwas dunkler gefärbt war. Es war kaum zu sehen, aber der Assessor zergliederte diese Mädchenschönheit, und er sah scharf durch seinen spiegelnden Kneifer. Selbst diese kleinen Fehler erschienen ihm unendlich pikant.

Die Musikanten zogen mit ihren dunklen Geigensärgen, mit ihren schwarzverhüllten Blasinstrumenten, sich des Feierabends freuend, endlich ab; die Terrasse bekam ein anderes Aussehen. Ein großer, der größte Teil der Gäste hatte sich zurückgezogen, einige hatten den Tisch, an welchem die drei Damen mit den beiden Herren saßen, grüßend passiert, oberflächliche Badebekanntschaften, die man schon nach ein paar Wochen wieder aus dem Gedächtnis verliert. Aus Frauen- und Mädchenaugen fielen bei dieser Gelegenheit ein paar kritische Blicke auf die Kavaliere der Damen, die ja schon als Neuangekommene Interesse erweckten.

Wer kann das sein? Brüder, Verwandte, zukünftige Freier oder erklärte Verlobte? Die Damen lieben es, sich über die Beziehungen und den Zusammenhang zwischen den Personen einer Gesellschaft in Kombinationen zu ergehen, wenn dieser Punkt erledigt ist, oder schon früher, befassen sie sich mit der Auffindung von »Ähnlichkeiten«.

Die Kellner räumten das Kaffeegeschirr, die Eistassen und Wassergläser von den leeren Tischen, der alte Franzose hatte sein Journal schmal zusammengefaltet in die Tasche seiner gestreiften Flanelljacke gesteckt und durchquerte in Gesellschaft eines kränklich aussehenden Landsmannes die Parkwege zwischen den frischbesprengten Wiesen, die eine erquickende Kühlung ausatmeten, viele begaben sich auf ihre Zimmer, um sich umzuziehen, andere traten mit Überkleidern und Tüchern ausgerüstet die Abendpromenade an, und als sich – bei Gelegenheit einer Unterhaltungspause – die Mama der beiden Grazien zufällig umsah, war sie betroffen darüber, daß sie nahezu die letzten waren. Sie gab das Zeichen zum Aufbruch.

Martha und Gretel packten ihre Kleinigkeiten: Stickerei, Scheerchen, Buch, den kleinen, elfenbeinernen Aufschneider, Seidenfäden, Stickvorlage und was sonst auf dem Tisch herumlag, in den spitzenbesetzten Arbeitssack, dann ergriffen sie ihre Sonnenschirme; Vetter Max und der Assessor hatten sich bereits erhoben, um sich dienstbar zu zeigen, es war freilich keine Gelegenheit dazu, nicht einmal etwas zu tragen gab es. Die Damen waren ja auch hier zu Hause.

An der Treppe trennte man sich, mit der Verabredung für den Abend: gemeinschaftliches Forellensouper drüben jenseits des Mühlbaches, womöglich im Freien.

»Nun, habe ich Dir zuviel gesagt?« rief der Korpsbruder, als sie wieder allein waren, »nicht wahr –?« und indem sie aus dem Thor auf die Straße traten, fuhr jener, einer hohen, stattlichen Blondine nachsehend, fort: »Donnerwetter, hast Du die gesehen? …«

Assessor Daniel nickte gleichgültig, er hatte diejenige, die neuerdings den Enthusiasmus seines leichtblütigen Freundes auflodern machte, kaum beachtet. Dieser schwieg von der Tante und den hübschen Cousinen und fand auf dem Weg zum Gradierwerk und zum Sudhaus am Ende der Stadt noch vielfach Gelegenheit zum Ausbruch seiner Begeisterung. – »Wer tanzen will, dem ist bald gegeigt« lautet ein Sprichwort und wer durch die Brille des Frohsinns schaut, der sieht ein grandioses, elegantes und heiteres Badeleben, eine unvergleichliche wildromantische Natur, schöne Frauen in blendenden Toiletten, einen wunderbaren Sommerabend mit der Aussicht auf hunderterlei noch verborgene Genüsse – wo der andere, der die thörichte Klugheit begeht, sich um all das zu betrügen, nur einen dräuenden Abendhimmel, kranke, in der langweiligen Hauptstraße umherwandelnde Opfer der schwermütigen Langweile, eine »mäßige« Gebirgsgegend erkennt, und die Ahnung eines Aufenthaltes in dem primitiven, überfüllten Gasthof, wahrscheinlich mit hustenden Zimmernachbarn rechts und links, an seinem Gemüte nagen läßt.

Das Souper im Freien war vorzüglich gelungen. Ein Doktor der Chemie aus Breslau, der sich den Damen in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes angenehm zu machen gesucht hatte, nahm daran teil; als er aber sah, daß der Assessor es verstand, Fräulein Martha mit seinen ernsthaften Unterhaltungen über Dinge, die sonst nicht in die galante Konversation gezogen werden, zu interessieren, während der fidele Vetter aus München mit Gretel den harmlosesten Unsinn trieb, so daß die Mama der gutmütigen Ermahnungen kein Ende fand, da sank seine Zuversicht, und auf dem Nachhauseweg bot der aus dem Sattel gehobene Ritter resigniert Frau von Klammroth den Arm. Wenn er überhaupt Hoffnungen genährt hatte, mußte er sich sagen: Verspielt! –

»Du, ich glaube, Du gefällst meiner Cousine Martha«, sagte Max am nächsten Tag, als sie sich zum Nachmittagskonzert auf ihrem gemeinschaftlichen Zimmer zurecht machten, so ganz beiläufig, während er eine helle Atlaskravatte in einen Knoten schlang und sich mit zurückgebeugtem Kopf und einer schmerzlichen Grimasse vor dem Spiegel abquälte.

Assessor Daniel antwortete nicht, er stand in Hemdsärmeln an dem nach dem Hof führenden Fenster und prüfte mit bedenklicher Miene die Handschuhe, die er aus den untersten Tiefen des Koffers ans Tageslicht gefördert hatte.

»Weißt Du, was sie mir gesagt hat – heute drüben im Kurgarten –« fuhr Max fort, indem er vom Spiegel zurücktrat, um den Effekt des Kravattenknotens aus einiger Entfernung zu beurteilen, – »Deinen Backenbart findet sie scheußlich …«

»Wie?«

»Na, so hat sie sich gerade nicht ausgedrückt, aber ähnlich, – offen gestanden, steht Dir auch nicht gut, zu philisterhaft, meinst Du nicht auch? …«

Eine halbe Stunde später schritten die beiden alten Korpsbrüder in einer Toilette, die viel sorgfältiger war, wie jene, in der sie gestern aus dem Postwagen in Reichenhall eingefahren waren, den baumbepflanzten Weg zum Kurgarten entlang. Der Backenbart war gefallen. Die drei Damen hatten eine der Bänke eingenommen, die das hohe Gradierwerk umsäumen, wo sich alles zusammendrängt, um die kühle, flimmernde, salzige Luft einzuatmen, die die triefende, salzkrystallbehangene Reisigwand beständig umweht.

Die beiden Mädchen trugen, der kühleren Temperatur entsprechend, dunkelgrüne Tuchkleider, ganz glatt und die jugendlichen Formen knapp umschließend, sogenannte Tirolerhüte aus feinem grünen Filz auf dem dunklen Haar; sie sahen wieder entzückend aus, und die Damen, die unter sich beständig eine Jury bilden, wandten im Vorübergehen den Kopf nach Martha und Gretel, und dann gaben sie in der ziemlich ungenierten Weise untereinander ihr Urteil ab: Wie schön! – Es war immer derselbe Refrain, – in allen Sprachen.

Der Assessor fühlte die neidischen Blicke, die ihn streiften, und ein hellgekleidetes Badegigerl mit einem französisch zugestutzten Zwickelbart und langen gelben Schuhen machte zu seinem Begleiter im Vorübergehen die anzügliche Bemerkung »Provinz!« Er aber hörte nicht und beachtete nicht, was um ihn herum vorging, was gingen ihn jetzt die faden Badebummler an!

»Ich wußte gar nicht, daß der Assessor so amüsant sein kann, auf unserer Tour hat er stundenlang nichts geredet!« sagte der Vetter, die schöne Cousine und den aufgeräumten Freund, der eben wieder mit Geberden etwas sehr angelegentlich erklärte, wohlgefällig betrachtend. Dieser achtete nicht auf den leisen Spott und begann, in seiner Erklärung fortfahrend, auf der Rückseite eines Briefes einen Situationsplan von dem Stück Berlin: Brandenburger Thor, Königgrätzer Straße, Reichstagstraße, Spreekanal mit wenigen Bleistiftstrichen zu entwerfen.

»Was für eine Veränderung haben Sie mit sich vorgenommen?« frug Martha plötzlich dazwischen.

Er zögerte einen Augenblick, dann antwortete er: »Ach, der Backenbart, – ja Ihr Vetter meinte …«

Martha errötete leicht und warf einen leise zürnenden Blick auf den Vetter, der bedeutungsvoll mit dem Kopf nickte und unter Lachen der kleinen Gretel was ins Ohr flüsterte.

»Abscheulicher Mensch!« sagte diese, indem sie sich abwandte und mit Mama sehr ernsthaft eine vorüberrauschende Dame in auffallender Toilette kritisierte.

Der Abend fand die drei Damen und die beiden Herren wieder vereint, der Chemiker aus Breslau hatte sich respektvoll zurückgezogen, und sonst hatten sie, einen harmlosen alten Hypochonder aus der Heimat abgerechnet, in den paar Tagen, die sie vor Ankunft der beiden jungen Herren in Reichenhall zugebracht hatten, mit niemandem verkehrt.

Die drei Tage, die Assessor Daniel und der Universitätsfreund hier zu verleben gedachten, waren vorüber und sogar schon überschritten. Anstatt vom Abschied zu sprechen, plante man einen gemeinsamen Ausflug nach dem Königssee, eine kleine Gebirgstour auf die nahen Höhen, die sich auf den Rechnungen des Kurhauses allerdings in etwas übertriebener »Gletscherhaftigkeit« präsentieren; man sprach von einer Fußwanderung über die bayerisch-österreichische Grenze und von einem gemeinsamen Besuch des kleinen Reichenhaller Bade-Theaters, in welchem das Ensemble des Salzburger Landestheaters den neuesten Wiener Operettenblödsinn aufführte, vor ziemlich dürftig besetzten Bänken. Vetter Max hatte seinen Enthusiasmus für Reichenhall bereits etwas reduziert, er wurde schweigsamer und ließ ab und zu eine abfällige Bemerkung über die Monotonie des Badelebens laut werden, er störte die fleißige Grete viertelstundenlang nicht, wenn sie auf ihrer Stickerei eines der steifen Blümchen ans andere reihte, und den großen Plänen gegenüber, die von den anderen besprochen wurden, verhielt er sich ziemlich kühl.

Als die Freunde den Damen Gute Nacht gesagt hatten, schlenderten sie an den Kolonnaden vorüber nach einer der kleinen Konditoreien, wo sich die »Nachtvögel« zu einem Schlaftrunk einzufinden pflegen, und nachdem sie eine kleine Weile schweigend einander gegenüber gesessen hatten, sagte Max plötzlich: »So, das wäre Reichenhall gewesen, und wenn's Dir recht ist, fahren wir übermorgen hinüber nach Salzburg …«

Der Assessor machte ein verdutztes Gesicht.

»Du kennst Salzburg nicht? O, da wirst du dich wundern, die Veste, und der Kapuzinerberg, großartig; da oben ein Frühschoppen, das ist Poesie zur dritten Potenz erhoben, und dann der Peterskeller, und Hellbronn – das giebt's nicht wieder!«

»Ja, ja. Du magst recht haben«, erwiderte der Assessor, »aber wir sind nun doch genug herumgestiegen und es thut wahrhaftig wohl, ein bischen zu rasten!«

Der Freund sah ihn von der Seite an, der Assessor schien, indem er mit den Fingern die Rinnen des Bierseidels nachfuhr, sehr angelegentlich den dickflüssigen Inhalt mit den Blicken zu untersuchen. Jener unternahm noch einen zweiten Ansturm, den er mit der Beschreibung einer Fahrt auf den Gaisberg unterstützte – aber mit demselben MißerfoIg. Der Bedrohte verteidigte sein: » J'y suis, j'y reste« mit Mannesmut. Er war nicht immer so energisch.

Und als sie, in ihrem Hotelzimmer angekommen, Anstalten machten, sich zu Bett zu begeben, sagte der Assessor wie zu sich selber: »Also morgen Königssee, es wird sehr hübsch werden …«

»Wirst sehr enttäuscht sein«, versetzte Max nach einer Weile.

Auf ein echt Berlinerisches »Nanu?« wußte der sichtlich Herabgestimmte nichts zu erwidern. Bald darauf trat in der Stube völlige Ruhe ein. Max hatte sich mit dem Gesicht zur Wand gedreht, und alsbald verriet ein leises, flüsterndes Schnarchen, daß er in das Reich der Träume hinübergegangen war.

Der Assessor stand am Fenster, in Hemdsärmeln, die Hände in den Hosentaschen, und blickte auf die vom Mond hellbeschienenen Steinfliesen der wie im Schlummer daliegenden Promenade hinab. Wo waren die glänzenden Toiletten der Damen, die gleichsam ein Stück Weltstadtleben in diese Idylle verpflanzten, die Herren in den hellen Anzügen mit den Blumen im Knopfloch, die gewohnten, derben Gestalten der durchziehenden Touristen mit dem Rucksack auf dem Buckel? – Die große Generalpause im bunten Badegetriebe war eingetreten. Eine schwarze Katze schlich – räuberische Ziele verfolgend, über den Weg, dann hallte der mitternächtige Schlag der Turmuhr durch die Nacht. – Die kühle Nachtluft strich durchs Fenster herein und die Kerzenflamme flackerte. – Der Assessor schloß die beiden Fensterflügel und fuhr fröstelnd mit den Handflächen über die Arme. Wäre er weniger zerstreut gewesen, so hätte er einen Rock angezogen, ehe er sich an den Tisch setzte, an dem er, nach oberflächlicher Prüfung des Schreibgeräts, folgenden, an die »Schattenblume« gerichteten Brief entstehen ließ:

»In später Nachtstunde sammle ich mich zu einem Lebenszeichen, das diesmal freilich verspätet eintrifft, und ich mache mir Vorwürfe, wenn ich bedenke, daß Ihre Vertraute ein oder das andere Mal umsonst nach einem Brief für Sie auf dem Postamt gefragt hat. ›Das Schweigen ist der Gott der Glücklichen‹ … Ich kenne mich selber nicht mehr, und ich möchte jetzt die Briefe lesen, die ich Ihnen im Laufe des düsteren Berliner Winters geschrieben habe, nur um mich meiner Wiedergeburt so recht zu freuen. Wir kennen uns nicht und werden uns nie kennen lernen, denn Sie wünschen es nicht, und Sie haben alle Rücksichten einer jungen Dame aus guter Familie zu beobachten und durch die Kasteiung Ihrer Neugierde wollen Sie, wie Sie schreiben, vor Ihrem empfindlichen Gewissen die Thorheit wettmachen, der Sie sich anklagen, indem Sie in einer Anwandlung von Langweile, von Abenteuerlust und Romantik jenen Briefwechsel beginnen ließen.

Sie wissen, ich habe mich jener Bedingung gefügt, obwohl ich mehr als einmal nahe daran war, Sie in dem warmen Ton eines wahren Freundes um Aufhebung der Wesenlosigkeit unseres Verkehrs zu bitten. Aber ich habe mich bekämpft, so schwer es mir wurde, denn ich wiederhole es, ich verdanke diesem Briefwechsel viele Stunden der Freude, und mein Leben ist nicht zu reich daran. Und so lassen Sie mich einem unbekannten Ohr anvertrauen, daß ich seit ein paar Tagen unendlich froh und glücklich bin, mir ist die Sonne aufgegangen und ich sehe überall Licht, strahlendes, helles, warmes Licht. Ich bin verliebt, ernsthaft verliebt. Ich sage es nur Ihnen, und wenn Sie mich auslachen, erreicht mich Ihr Spott nicht, ich höre und sehe davon nichts. So furchtsam und ängstlich behüte ich mein Glück! – Ich bin verliebt – ich muß das Wort wenigstens niederschreiben; – und mein ganzes Wesen unterzieht sich einer Umwandlung, so daß ich oft befürchte, mich in lächerlicher Weise zu verraten. Die Bäume sind wieder grün, die Vögel, deren Gezwitscher mich sonst nur »nervös« machen konnte, singen, die Menschen lachen und ich lache mit und stecke jeden Morgen eine Rose ins Knopfloch. Zum Kuckuck mit dem ganzen philosophischen Kram. Die absolute Richtigkeit des Daseins zu zerfasern, was ist denn gewonnen dabei? Freilich derjenige, der allen Pessimisten zum Trotz in die Worte ausgebrochen ist ›Königin, das Leben ist doch schön!‹ war verliebt, vielleicht so verliebt wie ich, – das ist die Lösung. Über den Gegenstand meines vorläufig noch geheimen Entzückens will ich Ihnen keine anderen Andeutungen machen, als daß das reizende Geschöpf eine allerliebste Kleinstädterin mit einer großen Seele ist; daß sie mit allen Reizen der Jugend und Schönheit geschmückt ist, würden Sie als eine verliebte Übertreibung ansehen, wenn ich es behaupten wollte. Seien Sie nicht eifersüchtig: Ich kann nur sagen, daß ich, seit ich jenes süße Wesen kennen gelernt habe – nur an sie denke, wie auch jetzt, während ich Ihnen schreibe, daß ich nur sie vor mir sehe, und immer ihre Stimme, die alles in Musik verwandelt, höre; – aber in mir stecken allerlei wunderliche Heilige, die sich gerade zur Unzeit regen, ich bin auch ein Stück »Toggenburg«, und ich sehe es schon kommen: Wir werden – ach gar bald – mit einem stillen Händedruck auseinandergehen, wahrscheinlich, um uns nie wiederzusehen. Eine unbedeutende Sommererinnerung für sie, eine Herzenswunde für mich. Entsagen! – Du sollst entsagen!

Und warum? Könnte ich nicht eben so gut den Versuch machen, das Glück – das sich mir in der verführerischsten Gestalt darbietet – zu halten – wie es ganz sicher ein anderer, vielleicht kein besserer, nach mir thun wird? Was hindert mich daran? Nichts als meine blöde –, doch ich will nicht weitergehen in meinen beschämenden Bekenntnissen … Ich bin trotzdem überglücklich und spare mir die Stunden am Schlafe ab, um das Glück dieser Wirklichkeit voll und so reichlich wie möglich zu genießen. Bewahren Sie, bitte, diesen Jubelruf meiner beglückten Seele auf, ich könnte Sie einmal, wenn der Wonnemond den Winterstürmen gewichen ist, und wenn ich wieder in mein Brüten verfallen bin, sofern unser Briefwechsel dann noch besteht, bitten, mir diese Zeilen zur Erquickung und Aufrichtung meiner abgeschmackten, sentimentalen Seele zurückzugeben.

Ich begrüße Sie, wie immer, im Geiste aufs herzlichste und bin Ihre himmelhochjauchzende

Privatnatur.«

Nachdem er den Brief beim Schein der tief herabgebrannten Kerze noch einmal überlesen hatte, faltete er ihn zusammen, und mit seiner leserlichsten Schrift setzte er auf das Couvert die Adresse: »Postlagernd, Berlin W. 62, »Schattenblume«. – Dann suchte der Glückliche sein Lager auf.

*

Unter sorglosem Nichtsthun, reizvollen Ausflügen, gemeinschaftlichen Promenaden, mit unwichtigen Geschäften und in heiterer Unterhaltung vergingen die nächsten Tage. Vetter Max zog es immer mächtiger nach Salzburg, aber der Assessor wußte ihn mit der Schlauheit eines Verliebten in Schach zu halten; sogar Martha, die sich sonst nicht viel aus dem flüchtigen, oberflächlichen und wankelmütigen Vetter machte, behandelte ihn jetzt mit größerer Aufmerksamkeit. Jemand, der ein offenes, klarsehendes Auge mitgebracht hätte, würde erkannt haben, daß auch Martha mit aller Vorsicht wohl, aber doch unverkennbar, darauf bedacht war, den armen Kerl, der gegen seine Neigung in Reichenhall festgehalten wurde, bei guter Laune zu erhalten. Und so blieb er denn, innerlich widerstrebend, aber ohne den Humor zu verlieren. Nur einmal am Abend, als sie wieder in ihrem Gasthof angekommen waren, sagte er zu dem Freund: »Findest Du nicht, daß ich meinen Part als »Elephant« mit sehr viel Takt und Selbstlosigkeit durchführe?«

Assessor Daniel lachte und klopfte ihm mit dankbarer Herzlichkeit auf die Schulter.

»Nun ja, Du hast recht!« seufzte der aufopfernde Freund, »aber deshalb ist es doch ein himmelschreiendes Unrecht, daß wir bei dem Wetter nicht nach Salzburg hinüberfahren; – können ja dann wieder herüberkommen. Weißt Du, so ein Morgen auf dem Gaisberg …, na, Du wirst staunen! …« Und dann sprach er noch von der Aussicht, die man vom Kapuzinerberg genießt, er nannte die Anzahl der Seen, die man von dort aus überblickt, er schwärmte vom Peterskeller und prahlte mit allen Sehenswürdigkeiten dieser reizenden Stadt, wie er es schon mehr als einmal gethan. Und als er sich müde geredet hatte, schlief er ein.

Das dräuende Wetter des nächsten Tages hatte die geplante größere Exkursion vereitelt. Erst am Abend heiterte sich der Himmel auf, und die nahegelegenen Restaurants und Garten-Etablissements waren dicht gefüllt.

Unsere kleine Gesellschaft hatte den Abend in einem, ungeachtet seiner bevorzugten Lage nur wenig besuchten Gasthausgarten, der jenseits der Bahn auf einer sanften Anhöhe liegt, zugebracht. Frau von Klammroth hatte tagsüber mit ihrer Migräne zu thun gehabt und eher, als es sonst der Fall war, mahnte sie zur Heimkehr. Ohne Paare zu bilden, schritten sie den vom Vollmond hellbeleuchteten schönen Waldweg entlang, im ungezwungenen Geplauder. Vetter Max übte sich trotz der komischen Drohungen der Damen in Schüttelreimen mit furchtbaren Wortverrenkungen. Martha und Grete lachten laut, und der Assessor half, indem er die metrische Form, mit der Max höchst leichtfertig umsprang, kunstgerecht ausfeilte. Dann blieben ganz zufällig Mama, Grete und Max ein wenig zurück, der Assessor war an Marthas Seite getreten und hatte mit ihr, ohne es zu bemerken, einen kleinen Vorsprung gewonnen.

»Wie schön!« sagte er, den Kopf zurücklegend und zum Himmel aufblickend, der sich mit den zahllosen flimmernden Sternen überzogen hatte, – »wie schön! Und das ist in acht Tagen alles vorüber, und dann heißt's wieder ins gewohnte Joch und in die engen, abscheulichen Labyrinthe des großen Steinhaufens Berlin …, ich glaube, da blicken des Nachts überhaupt keine Sterne hinein – wozu auch – es sieht sie ja niemand an …«

»Sie lieben Berlin nicht?« versetzte Martha.

»Ich glaube, ich passe nicht recht dahin«, antwortete der Assessor, »man kommt nicht zu sich selber, das Leben verzehrt sich doppelt so schnell und ohne echten, edleren Genuß … Der Hexensabbath, den diese fin de siècle-Gesellschaft dort eingerichtet hat, ist ganz und gar nicht nach meinem Geschmack. Bedenken Sie, was die Leute alles brauchen, um es erträglich zu haben! Nichts als Kultur, Raffinement, Sensation und Aufregung. Was soll's?« Und er schwang den Stock, der sausend die Luft zerteilte.

Martha sah sich um, und als sie bemerkte, daß die anderen folgten, nahm sie das Gespräch wieder auf.

»Sie sind also auch eine »Privatnatur«?«

Assessor Daniel sah die Sprecherin mit einer raschen Kopfbewegung verwundert an.

»Was sagen Sie? – Wo haben Sie das Wort her?«

»Ich habe es gelesen!« antwortete Martha ganz unbefangen.

»In einem Buch?«

»Nein – in einem Brief.«

»In einem Brief?«

»Sogar in mehreren, aber was haben Sie denn?«

»Eine Freundin hat Sie diese Briefe lesen lassen?«

Martha schwieg.

»Ich bitte Sie, Fräulein Martha – antworten Sie.«

»Aber Sie stellen ja förmlich ein Verhör mit mir an?«

»Verzeihen Sie – aber es ist für mich von der größten Wichtigkeit.«

»Nun denn, jene Briefe hat niemand anders gelesen als ich …«

»Also sie waren an Sie gerichtet?«

Martha nickte.

»Es ist ja nicht möglich – ganz undenkbar …« stieß der Assessor heraus – »wenn diese Briefe an Sie gerichtet waren, dann sind Sie ja die » Schattenblume«?«

Martha fuhr zusammen, sie blieb plötzlich wie gebannt stehen und eine tiefe Röte überzog ihr Gesicht. Aber sie wußte sich zu beherrschen, und die Verlegenheit, in die sie die Entdeckung ihres Geheimnisses versetzt hatte, wich nach wenigen Augenblicken.

»Sie haben einen Brief in dem Buch, das ich Ihnen gestern geliehen habe, gefunden?«

»O nein!«

»Ja, aber woher kennen Sie denn dann? …«

»Woher ich die Briefe kenne, und woher ich Sie kenne – mein Gott, ich kann ja selbst nicht daran glauben, aber es stimmt ja alles – alles … Machen Sie sich auf das Unglaublichste gefaßt, Fräulein Martha – die »Privatnatur« bin ja ich

Martha schlug die Hände zusammen, sie biß sich auf die Unterlippe und sah den Assessor mit langsamem Kopfschütteln groß an. Nun war es mit ihrer Fassung doch zu Ende.

»Und wir korrespondieren seit sechs Monaten miteinander, erst vor vier Tagen habe ich Ihnen geschrieben …«

»Und ich vorgestern! – Wissen Sie, daß das ganz reizend ist?« sagte sie, sich schnell ermannend.

»Nein, ich bin außer mir!« rief der Assessor und fuhr wieder mit dem Stock durch die Luft, aus Verlegenheit, denn er wußte nicht, was er sagen sollte.

»Also alte Freunde!« nahm Martha das Wort, sichtlich bestrebt, einen möglichst unbefangenen Ton anzuschlagen, und indem sie ihren Begleiter von oben bis unten ansah, fuhr sie in demselben heiteren Ton fort: »Ja es stimmt, ungefähr so habe ich Sie mir vorgestellt – vielleicht einen halben Kopf kleiner – und ich weiß nicht, warum ich mir einen Spitzbart dazu dachte …«

»Und Sie, wie dachten Sie wohl, daß ich aussehe?«

»Ach Gott, ich hatte mir ja gar keine Darstellung von Ihnen machen können, Sie gaben mir ja nicht den kleinsten Anhaltepunkt dafür, – für die Hände, die diese schöne Schrift schreibt, habe ich immer geschwärmt; ich habe mir sie so vorgestellt wie sie sind, aber daß auch noch eine solche Summe von Schönheit …«

»Nein so etwas!« unterbrach Martha – »so ein Zufall!«

»Ich kann noch immer nicht daran glauben.«

»Wann haben Sie meinen letzten Brief bekommen?« fragte der Assessor plötzlich, und er senkte den Kopf um Marthas Miene beobachten zu können.

»Heute sandte mir Erna wieder einen Brief, – aber ich habe ihn in meine Schreibmappe eingesperrt, ich habe ihn noch nicht gelesen … Sie wissen ja, man kommt hier zu nichts, – aber ich werde ihn noch heute lesen, – gleich wenn wir nach Hause kommen.«

»Ich bitte Sie darum!« erwiderte Assessor Daniel langsam und mit Wichtigkeit.

»Aber jetzt müssen wir warten«, sagte Martha plötzlich mit einer seltsamen Zaghaftigkeit, – »wo sind denn nur die anderen?«

»Fräulein Martha, wenn Sie den Brief gelesen haben, – bitte ich Sie, – morgen früh – –« stieß der Assessor heraus, aber er kam nicht zu Ende.

»Wo bleibt Ihr denn?« rief Martha, den gerade mit die Ecke Biegenden zu.

Vetter Max kam mit großen Sprüngen, die sein langbeiniger Schatten mitmachte, heran. Es sah sehr grotesk aus, und er hatte sich eine komische Wirkung versprochen. Die beiden schienen den Spaß gar nicht bemerkt zu haben. Martha stützte sich etwas nach vorn gebeugt auf ihren Schirm und blickte, in Gedanken vertieft, zu Boden, und der undankbare Freund schien überhaupt den Verstand verloren zu haben, denn er starrte in das Innere seines Strohhutes, wischte sich die Stirne und schüttelte dabei den Kopf.

Frau von Klammroth und Grete waren gefolgt. Vetter Max schloß sich Martha an, der Assessor ging zwischen Grete und der Mama. Aber die Unterhaltung wollte nicht mehr recht in Fluß kommen. Der Assessor mußte, um seine Einsilbigkeit zu entschuldigen, die konventionelle Lüge vom Kopfschmerz gebrauchen, und Martha gab dem gutmütigen Max, der bereits sein Bestes zum allgemeinen Amüsement gethan hatte, auch nur ziemlich trockene Antworten, oder sie mußte gar zweimal fragen, was er gesagt habe.

Eine gewisse Abspannung schien alle ergriffen zu haben, und mit einer ziemlich unbestimmten Verabredung verabschiedeten sich die beiden Parteien vor dem Kurhaus. Ein verständnisvoller, freundlicher Blick der zwischen »Schattenblume« und »Privatnatur« gewechselt wurde, passierte, ohne von den anderen entdeckt zu werden.

Als Martha in dem Hotelzimmer, das sie mit der Schwester teilte, angekommen war, eilte sie auf ihre verschlossene Schreibmappe zu, und ohne den Hut abzusetzen, öffnete sie hastig den Brief, denselben Brief, den der Assessor vor ein paar Tagen in Reichenhall, kaum 500 Schritte von ihr getrennt, geschrieben hatte, und ein leises Zittern bemächtigte sich ihrer Hände, als sie bis zu der Unterschrift gelesen hatte. Sie fing wieder von vorne zu lesen an, ihre Lippen bewegten sich manchmal ein wenig und ihre Augen leuchteten.

Endlich faltete sie den Brief zusammen und mit gleichsam traumhaften Bewegungen legte sie das Blatt in ein besonderes Fach der Mappe. Dann saß sie noch lange am Tisch, starr vor sich hinsehend, und langsam zog sie die bis zum Armgelenk reichenden Handschuhe von den Fingern. Grete schloß das Fenster und ließ die grünen Jalousien herab. Sie richtete eine Frage an die Schwester, – diese antwortete nicht.

»Willst Du denn mit dem Hut zu Bett gehen?« frug Grete nach einer Weile.

*

Am anderen Morgen pochte der Briefträger an der Thür der beiden Freunde, die soeben erst erwacht waren und angesichts des Regens, der in reichlichen Güssen vom Himmel strömte, beschlossen hatten, den Aufenthalt in den Federn etwas auszudehnen.

Der Assessor hatte ein paar Postkarten, das Preisverzeichnis einer Weinfirma – und einen kleinen zierlichen Brief erhalten, der die wohlbekannte Hand der »Schattenblume« auf der Adresse verriet. Die Post hatte, seinem Auftrag gemäß, die für »Privatnatur« einlaufenden postlagernden Briefe an den »Assessor Daniel, Berlin, Landsbergerstraße 46« expediert, heute stand »Nachzusenden Reichenhall« auf der Rückseite des Couverts. Mit einem Riß zerteilte er den Briefumschlag und eifrig überflog er die Zeilen der – noch vor vierundzwanzig Stunden – »großen Unbekannten«.

Sie schrieb:

»Ich befinde mich seit kurzem in einem Badeort, Sie wissen, das zwecklose – aber äußerst amüsante und interessante Leben an solchen Orten stellt mannigfaltige Anforderungen, man unterläßt das Wichtigste und thut das Überflüssigste. Außerdem könnte ich mein Säumen vielleicht noch anders entschuldigen, – ich glaube, ich … o hätte Ihre freudenhassende Seele eine Ahnung von dem geheimen Glück … aber verzeihen Sie, der Wagen ist für 2 Uhr bestellt, es ist ½1 Uhr, – ich habe noch nicht Toilette gemacht und Mittagbrot sollen wir auch noch essen.

Noch Eines. Sie verrieten mir einmal, daß Sie Jurist sind, – nicht wahr? Ist Ihnen zufällig ein Assessor Daniel bekannt, der in Berlin am Landgericht I. angestellt ist? Ein großer hübscher Mann mit blondem Schnurrbart, goldenem Kneifer, Hiebnarbe auf der Stirne. Bitte mir womöglich alles zu schreiben, was Sie von ihm wissen – ich glaube, er ist sehr nett. Sie würden einer meiner Freundinnen einen Dienst erweisen, Sie sind Menschenkenner und Ihr Urteil wird für meine Freundin maßgebend sein … Aber ganz offen und ehrlich, wenn ich bitten darf …«

Der Assessor lachte laut auf.

Der Vetter erhob seinen Kopf aus den Kissen. »Glücklicher Mensch«, sagte er, »Du bekommst Briefe, über die Du lachen kannst und ich nur Rechnungen und freche Mahnbriefe.« Dabei formte er aus einem Brief ingrimmig eine Kugel, die er im weiten Bogen nach der Ecke, wo der Ofen stand, schleuderte.

Mit einem vor Heiterkeit strahlenden Gesicht las Assessor Daniel den Brief der heuchlerischen, verlogenen, verliebten »Schattenblume« noch einmal durch, dann sprang er, mit beiden Beinen gleichzeitig, aus dem Bette.

In diesem kritischen Moment klopfte es wieder. Max lachte laut auf, – der geistesgegenwärtige Freund aber trat in demselben Augenblick den Rückzug nach dem bergenden Lager an, verkroch sich, daß nur der Kopf hervorsah, und dann riefen sie beide »herein!«

Der Hausknecht vom Kurhaus trat ein, er nahm die Mütze, auf der in leuchtenden Metallbuchstaben die Firma prangte, unter den Arm und zog ein kleines Briefchen aus der Tasche.

»Welcher ist denn der Assessor Daniel?« frug der biedere, erst am Beginn der städtischen Kultur stehende Sohn der Berge mit seinem naivsten Gesichte.

»Der dort!« rief Max, auf den Freund zeigend, der übrigens schon den Arm ausstreckte.

Der Assessor langte nicht ohne Mühe nach den Beinkleidern, zog die Börse heraus und reichte dem Abgesandten, der sich wieder mit seiner Mütze bedeckte und grüßend zum Gehen wandte, ein Fünfzig-Pfennigstück. Verliebte sind generös.

Das Billet kam von Fräulein Martha von Klammroth, von wem auch sonst? Es enthielt übrigens nur einige Zeilen, in denen freilich jedes Wort unterstrichen war, sie besaß überhaupt eine Vorliebe für das Unterstreichen.

» Die ›Schattenblume‹ bittet Sie dringend, ihren letzten Brief uneröffnet in ihre Hände zurückzugeben; – auf keinen Fall zu lesen

Der Assessor drückte das kleine, goldgeränderte Billet an seine Lippen.

Vetter Max hatte es mit angesehen, er hatte sich im Bette aufgerichtet und blickte etwas verdutzt auf den Glücklichen.

»Mensch – Assessor – Kommilitone!« rief er ihm mit wachsender Betonung zu, – »Du benimmst Dich ja wie ein Verliebter!«

»Ja Freund, ich komme mir selber so vor. Martha ist das süßeste Geschöpf, das die Erde trägt …« rief Daniel, mit den Armen gestikulierend.

Max hatte den Kopf wieder aufs Kissen gelegt. »Natürlich, sie ist das Mädchen aller Mädchen, alles andere ist »fauler Zauber« – ich habe ihr ja selber vor zwei Jahren den Hof gemacht, leider mit dem jämmerlichsten Erfolg … Die Frauen nehmen mich nicht ernst, das hat man davon, wenn man Witze macht. Zuletzt wird man selber ausgelacht. Apropos, wie ist es mit Salzburg?«

»Ach was, Salzburg!« rief der Assessor von seinem Lager herüber, »komm nur jetzt nicht mit solchen Plänen!«

Vetter Max schwieg eine kleine Weile. »Nun ja, Du hast ja recht«, sagte er dann, »Martha wäre mir ja auch lieber, wie der ganze Kapuzinerberg mit Hellbronn und Gaisberg dazu … aber was will ich denn machen? Na, ich werde jedenfalls meine Siebensachen packen …«

»Das wirst Du nicht thun!«

»Nun erlaube, wie lange soll ich Euch denn noch zusehen? Es mag ja ein »Schauspiel für Götter« sein, aber ich bin kein Gott, und offen gestanden, das wird mit der Zeit langweilig. Mit einem Wort, ich will nach Salzburg.«

»Aber wir könnten doch alle miteinander hinüber fahren?«

»Meinetwegen.«

»Ja, das ist ein Gedanke, wir wollen es den Damen gleich vorschlagen … Donnerwetter, halb zehn Uhr … wie lange willst Du denn noch im Bett bleiben! Komm, der Regen läßt nach, die Damen sind gewiß schon beim Frühstück …«

Die beiden Freunde verließen gleichzeitig ihr Lager. Assessor Daniel kleidete sich sehr sorgfältig an, ungeachtet der Mahnungen des ungeduldigen Freundes – er näherte sich seinem Äußeren nach, wirklich schon einem »Badegigerl«, sogar eine weiße Flanelljacke und eine ebensolche Weste hatte er sich in aller Eile am Ort machen lassen – vor vierzehn Tagen noch hätte er an eine solche »Narrheit« nicht geglaubt. Auch mit den Schuhen, die sein Schuster in der Landsbergerstraße für den Zweck größerer Gebirgstouren entsprechend solid gebaut hatte, war er nicht mehr einverstanden, so praktisch sie ihm damals erschienen waren.

Als er endlich fix und fertig dastand, sah ihn Max aus einiger Entfernung prüfend an, und mit gutmütigem Spott rief er: »So veredelt die Liebe auch äußerlich – übrigens gefällst Du mir so auch besser, wie bei unserem Zusammentreffen in München – besonders, daß Du den gräßlichen Herrensonnenschirm abgelegt hast, das rechne ich Dir hoch an … also komm, laß uns gehen, da lacht ja schon wieder die liebe Sonne Bayerns vom Himmel herab.«

Daniel prüfte im Hinuntergehen seine Erscheinung in dem großen Spiegel auf der Treppe.

Arm in Arm schlugen sie die Richtung nach dem beliebten Frühstücksplätzchen »Himmelreich« auf der Anhöhe über dem Kurhaus ein. Die gewöhnlichen Morgengäste hatten sich in das gedeckte Lokal zurückgezogen, nur diejenigen, die erst bei Sonnenschein heraufgekommen waren, saßen im Freien, an den appetitlich gedeckten Kaffeetischchen mit den bunten sauberen Tischtüchern.

»Lieber Alter«, begann der Assessor, – »ich bin Dir volle Aufrichtigkeit schuldig, denn Du bist der Vetter Marthas und der gute Genius, der, seit wir uns getroffen haben, über meinem Schicksal schwebt; ohne Dich säße ich jetzt vielleicht in irgend einem bayerischen Gebirgsdorf und spielte mit Schullehrer und Förster Skat oder Sechsundsechzig, oder ich wäre in dem öden Berchtesgaden hängen geblieben; – also kurz, ich habe Martha wahnsinnig lieb, und ein Zufall, der ihre mädchenhafte Zurückhaltung völlig vereitelt hat, verriet mir, daß sie mir auch gewogen ist …«

»Hab ich bereits bemerkt, ohne jenen Verrat – und mit einem Wort, Du frägst mich um meine Ansicht?«

»Fällt mir gar nicht ein, – nein, darüber bin ich mir vollständig klar; aber siehst Du, ich bin nicht allzu gewandt, und so etwas muß doch delikat und mit feinem Takt eingeleitet werden; wer weiß, ob ich der Mama passe, und da könntest Du als unbefangener dritter doch ein wenig auf den Busch klopfen, versteht sich, mit äußerster Schonung des Mädchens.«

»Hm, selbstverständlich – Du meinst, ich soll sozusagen für Dich anhalten?«

Der Assessor blieb einen Augenblick erschreckt stehen.

»Was fällt Dir ein, gleich »anhalten!« – das muß doch mit der größten Vorsicht angefaßt werden, ich meine, wenn Du ganz unabsichtlich, ganz leise anspielen wolltest.«

»Anspielen, o natürlich, – w. g., – wird gemacht!«

»Da sind sie!« frohlockte der Assessor, und er zog den Hut, noch ehe jene ihn und den Vetter erkennen konnten, und dann beschleunigte er seine Schritte, um die Anhöhe zu gewinnen. Der Freund faßte ihn am Rockschoß: »Nein, nein« – rief er – »das geht so nicht weiter, – jetzt wird nur die Sache unbequem, mäßige Dein wahnwitziges Tempo, oder …«

Martha sah blühender aus, denn je, eine leichte Röte flog über ihr Gesicht bis zum Hals, als der Assessor sich näherte, und zum ersten Mal zitterte ihre Hand leise, als er sie an seine Lippen führte. Vetter Max entdeckte die verräterische Bewegung, als er die Cousine nach jenem begrüßte. Er drückte die kleine weiche Hand verständnisinnig, indem er einen vielsagenden Seitenblick auf den Assessor warf.

Das Frühstück verlief schweigsamer als es gewöhnlich der Fall war; Martha wagte kaum aufzusehen, und Assessor Daniel heuchelte eine Unbefangenheit, die das schlaue Gretel und den mephistophelischen Vetter zu halb unterdrückten Heiterkeitsausbrüchen reizten. Frau von Klammroth war ernsthafter als sonst, es lag etwas in der Luft. –

Max zündete sich nach dem Kaffee die Morgencigarre an, dann rückte er an dem Stuhl herum und ein paarmal sah er die Tante prüfend an, wie ein Springer das Hindernis abmißt, das er zu übersetzen im Begriffe steht.

Plötzlich fuhr er heraus: »Ich möchte mir einen Vorschlag erlauben, fahren wir alle miteinander nach Salzburg hinüber und morgen wieder zurück, – – mit dem Sekt wird hier nicht viel los sein …«

»Wie kommst Du denn jetzt auf Sekt?« frug die Tante verwundert, und die beiden Mädchen sahen ihn gleichfalls fragend an.

»Nun«, antwortete er, die Cigarre vom rechten in den linken Mundwinkel schiebend – »das gehört doch dazu … Als sich die Gusti mit dem Professor verlobte, sind sieben Flaschen Heidsick getrunken worden, – waren auch nur fünf Personen, wie wir …«

Assessor Daniel hoffte den Fuß des diplomatischen Fürsprechers unter dem Tisch erreichen zu können, aber er warf dabei ziemlich geräuschvoll eine Fußbank um.

Frau von Klammroth schüttelte den Kopf, ein nicht ganz unbefangenes Lächeln verjüngte ihre Züge.

»Ah, Du willst Dich am Ende verloben?« … sagte sie, zu dem Neffen gewendet.

» Ich nicht, – aber der Assessor, – mit Martha – na Kinder, seid Ihr denn alle blind

In diesem Augenblick fuhr Martha von ihrem Sitz empor, hastig wandte sie sich ab und es schien, als wolle sie die Flucht ergreifen.

Aber ebenso rasch hatte sich der Assessor erhoben, daß der schwere Holzstuhl umschlug, – er haschte nach ihrer Hand und zog das widerstrebende Mädchen mit sanfter Gewalt an den Tisch.

Der glückliche Freier wußte der Situation, die in der That eine schwierige war, nicht allsogleich Herr zu werden, und als er sich des Flüchtlings wieder versichert hatte, stieß er ein verlegenes »Ja, … gnädige Frau!« … heraus. Es war ein Gemisch von Demut, Bitte, Kleinmütigkeit und Jubel, das in diesem unbeholfenen »Ja, gnädige Frau« zum Ausdruck kam, aber es war verständlich, und Marthas Blicke, die in dem edlen Naß der seligen Rührung zu verschwimmen begannen, lieferten einen Kommentar dazu, wenn es dessen noch bedurft hätte. –

*

In einem kleinen intimen Salon des Hotel Nellböck in Salzburg wurde noch am selben Abend die Verlobung des Assessors mit Martha offiziell begangen, – der kleine anmutige Badeort war ihnen zu eng geworden für ihr Glück, die »Reise« war auch das geeignetste Mittel, die Aufregung, die sich der kleinen Gesellschaft bemächtigt hatte, niederzukämpfen.

»Auf dem Bahnhof dürft Ihr Euch den ersten Kuß geben« – flüsterte Mama – »dort fällt es nicht so auf, – auf dem Perron wird immer geküsst, – aber hier würde gleich ganz Reichenhall darüber sprechen.«

*

Und als sie an dem mit Blumen geschmückten, festlich gedeckten Tisch in Salzburg saßen, da lüfteten die beiden auch das Geheimnis ihrer alten Freundschaft und ihrer anonymen Beziehungen, und Mama und Grete stießen abwechselnd die Verwunderungsrufe: »Martha!« – »Nein Martha!« – »Aber so was!« aus.

Zu einer mütterlichen Rüge war's zu spät.

»Merk' Dir das« – sagte Vetter Max zu Gretel – »kannst Du auch machen, den Witz mit der anonymen Korrespondenz, und wer weiß, ob wir nicht auf diesem Weg … ich und Du …«

»Ach, Du! …« rief Gretel, und dabei rückte sie ihm neckend den Hut tief in die Stirne.

*

Assessor Daniel führte ein paar Monate später die liebliche »Schattenblume« in den ersehnten goldenen Sonnenschein des Großstadtlebens.

Gotha – Stollbergsche Buchdruckerei


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