Adolf Schmitthenner
Heidelberger Erzählungen
Adolf Schmitthenner

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Bei Frau Holle

Nirgends in der ganzen Welt wachsen so schöne Weihnachtsbäume als im Roten Reisig. Darum hatte Frau Holle seit unvordenklichen Zeiten mit den Gemeinden Sensenbach, Wetbachhausen und Ettersbronn ein Abkommen getroffen, wonach sie das Recht hatte, in den sechs Tagen zwischen Andreas und Nikolaus im Roten Reisig tausend Tannen und eine zu fällen. Sie war jedoch verpflichtet, auf das Gedeihen des Waldes Bedacht zu nehmen. Ehe es eine obrigkeitliche Forstaufsicht gab, sorgte Frau Holle nach eigenem Ermessen für eine dem Nachwuchs dienliche Auswahl. Seit aber in Sensenbach ein großherzoglicher Oberförster haust, wird alljährlich in der Forstkanzlei ein Plan ausgearbeitet, der dann zur Prüfung und Genehmigung an die Oberbehörde geschickt wird. Am Abend vor Andreas legt der Ratsschreiber von Sensenbach das umfangreiche Aktenstück in das Ratszimmer auf den großen Tisch, öffnet das Fenster und klingelt mit der Ortsschelle hinaus. Anderntags ist das Schreiben verschwunden, und die Bäume werden genau nach der obrigkeitlichen Anweisung gefällt.

Am Morgen nach Sankt Nikolaus liegen drei Beutel auf dem großen Tisch in der Ratskanzlei zu Sensenbach, für jede Gemeinde einer; nur darf der Ortsdiener nicht vergessen, am Abend zuvor das Fenster zu öffnen. Außer dem wohlabgezählten Geld für den Gemeindesäckel liegen in jedem Beutel noch einige besondere Päckchen, zum Dussöhr, wie man zu Sensenbach sagt. Frau Holle zeigt sich erkenntlich. Sie ist unsere nobelste Kundschaft, pflegt der Ortsdiener von Wetbachhausen zu behaupten.

Es war ein uralter Brauch im Forstbezirk, daß die Verwaltung für die sechs Tage zwischen Andreas und Nikolaus keine eigenen Arbeiten anordnet, sondern Frau Holle ungestört im Roten Reisig walten läßt.

Nun war es einmal geschehen, daß der Oberförster von Sensenbach vergessen hatte, in seinem Amtskalender diese Woche als gesperrt einzuklammern, und darum hatte er die Waldhüter der drei Gemeinden angewiesen, mit fünfzig Holzmachern zur Stelle zu sein, um den Schlag zu beginnen; und zwar gerade für denselben Tag, an dem Frau Holle ihre Bäume zu fällen anhub. Erst am Nachmittag vor Andreas fiel dem Oberförster sein Versehen ein. Er wurde sehr zornig und fluchte nicht wenig und warf den Amtskalender an die Wand. Aber was half das? Derweilen schmierten sich die Holzfäller schon die Stiefel. Was tun? Abbestellt konnten sie nicht mehr werden. Endlich beruhigte sich der Herr Oberförster, setzte sich an den Schreibtisch und verfaßte eine Eingabe an Frau Holle. Er bat Wohldieselbe, in Anbetracht der langjährigen Dienstfreundschaft das diesseitige Versehen wohlgeneigtest entschuldigen zu wollen; er bewies, daß sich die beiderseitigen Arbeiten nicht stören könnten, da seinerseits vom Schlagen der Nadelhölzer Umgang genommen werde, bat zum Schluß um Fortdauer des jenseitigen Wohlwollens und erklärte sich zu Gegendiensten gern bereit. Nachdem das Schreiben versiegelt und der Umschlag mit dem Vermerk »Portofreie Dienstsache« bestempelt war, brachte es der Oberförster auf das Rathaus. Der Ortsdiener legte es auf den großen Tisch in der Kanzlei, und als es Nacht geworden war, öffnete er das Fenster und läutete mit der Ortsschelle zu den Sternen hinauf. Am anderen Morgen war das Schreiben verschwunden. Auf dem Tische aber lag ein goldenes Haar; das wickelte der Herr Oberförster um seinen linken Zeigefinger, und den ganzen Tag hörte er nicht auf zu lächeln.

Als am Morgen von Andreas der erste Trupp Holzfäller in den Roten Reisig zog, begegnete den Arbeitern auf dem grasigen Weg ein freundlicher alter Mann mit einem langen braunen Rock und einem eisgrauen Bart, der schob einen Karren vor sich her und hatte eine Baumsäge im Gürtel hängen. Auf dem Karren lagen fünf oder sechs Bäumchen. Schon von ferne lachte der Mann über das ganze Gesicht, und beim Vorübergehen hörte er nicht auf, mit dem Kopfe zu nicken und mit den kleinen lustigen Äuglein zu grüßen. Geradeso begegnete er jedem anderen Trupp, und als sich dann die Leute zerstreuten, kam ihnen auf jedem neuen Weg immer wieder derselbe Mann entgegen, den Schiebkarren vor sich her, mit dem langen grauen Bart und mit dem lachenden Gesicht. Wohin er die Tännchen brachte, konnte niemand sagen, und auch beim Baumabsägen hat ihn keiner getroffen, wiewohl sie sich durch den ganzen Wald verteilt hatten.

Am elf Uhr herum wischte sich jeder Holzmacher den Schweiß von der Stirn, knüpfte den Wams zu, legte das Beil auf die Schulter und schlenderte nach einer sonnigen Mulde in der Mitte des Waldes, woselbst der Sammelplatz war. Ein Feuer wurde angezündet, und die Männer und Burschen setzten sich rings herum in die trockene Laubstreu. Sie holten Brot und Speck aus der Tasche und hielten ihr Mahl. Dabei ließen sie einen Steinkrug kreisen, darinnen war Birnenmost. Wer von seinem Nachbar den Krug empfing, hob ihn alsbald an den Mund und tat drei kräftige Züge; dann gab er ihn weiter.

Während des Mahles hatten sie's von dem alten Mann und stritten darüber, ob es immer derselbe sei, oder ob es ihrer viele wären. Auf einmal rief ein Bursche:

»Gucket doch! Dort oben steht er!«

Alle schauten hinauf und sahen den Mann, wie er sich gerade vor ihren Blicken hinter eine Buche versteckte.

»Komm herunter und trink eines!« rief derselbe, der ihn zuerst bemerkt hatte, und er hob ihm den Steinkrug zu, den er just empfing. Da kam der Mann eilfertig den Abhang heruntergelaufen, trat in den Kreis, gab einem jeden die Hand, wie die Kinder tun, und als er damit fertig war, ging er zutraulich zu dem Ältesten und setzte sich neben ihn auf eine Moosbank.

»Da, trink einmal!« rief der Bursche von vorhin und brachte ihm den Krug herbei. Der Fremde hielt ihn an die Lippen, aber sobald er den sauren Trank geschmeckt hatte, setzte er ab und schnitt ein entsetzliches Gesicht. Die Männer lachten, und er selber lachte mit, sobald er sich von seinem Schrecken erholt hatte. Ein Bursche stieß jetzt mit einer Stange die Kartoffeln aus der Glut. Eine rollte vor den Alten und lag aufgeplatzt zu seinen Füßen. »Nimm und iß!« rief man ihm zu. Da hob er den rußigen Knollen auf und schaute, wie es die anderen machten. Er hatte bald begriffen, drückte das duftende weiße Mehl aus der schwarzen Schale und verspeiste es aufs zierlichste. Die Männer richteten mancherlei Fragen an ihn: wie er heiße, woher er komme, ob noch jemand mit ihm sei, wieviel Lohn er kriege, und dergleichen. Er lachte jeweils den Frager an, aber eine Antwort gab er keinem. Mit der größten Aufmerksamkeit achtete er auf alles, was die Holzfäller taten, und über alles mußte er lachen. Als sich ein Bursche auf ettersbronnisch schneuzte, machte er es alsbald nach, und wenn die Männer in einen Busch gegangen waren, um allda allein zu sein, mußten ihn die anderen abhalten, sonst wäre er hinterher gelaufen.

Die Mittagsstunde war vorüber, der Älteste gab das Zeichen zum Aufbruch, und ein jeder ging an seine Arbeit. Der sonderbare Waldmann verließ zuletzt den Platz. Zögernd ging er den Hügel hinauf, schaute den verschiedenen Gruppen nach und trieb sich noch eine Weile unter den Bäumen herum am Rande der Mulde, bis er endlich forttrottelte und im Walde verschwand.

Als die Sonne untergegangen war, wurde es finster zwischen den Bäumen, und die Männer machten Schluß. Sie warteten aufeinander an den Kreuzwegen und riefen die Spätlinge mit ihren Pfeifchen herbei, ein Trupp holte den anderen ab, und schließlich zogen drei Scharen zum Walde hinaus. Der größte Haufe ging nach Sensenbach, ein fast so großer nach Wetbachhausen, der kleine Rest schlug den Weg nach Ettersbronn ein. Unter diesen war der Altvater, neben dem der Fremdling gesessen hatte.

Wenn man zum Walde heraus ist, zieht sich der Forst noch eine Weile links an dem Wege hin, der nach Ettersbronn führt. »Morgen kriegen wir Schnee!« sagte ein Bursche. »Morgen noch nicht, aber bald!« antwortete ein anderer. »Gucket, dort steht er!« rief der dritte. Und richtig, hinter dem letzten Baume stand er.

Einer aus der Schar bot ihm die Zeit; da kam er hinter dem Baum hervor, und als die Männer an ihm vorüber waren, gesellte er sich ihnen zu, als ob es so sein müsse.

Manch einem ward es unheimlich. Sie schlossen sich enger aneinander, und keiner wagte zurück zu bleiben, aus Sorge, der Fremde werde ihm Gesellschaft leisten. Endlich faßte sich einer das Herz und fragte: »Wo willst du denn hin?« Der Mann antwortete so viel wie vorher, nichts, und ging strebsam des Wegs, wobei er sich, was auch seine Nachbarn anfingen, immer geschickt mitten im Haufen zu halten wußte. Um sich das Grauen zu vertreiben, fing einer der Burschen ein Soldatenlied an, andere fielen ein, alle gingen im Takt. Da warf das Männlein seine Beine lang, und bald hatte er das Marschieren gelernt. Sein Röcklein flog hinter ihm her. Manchmal machte er zwei Schritte für einen, aber im Takte blieb er. So kamen die Holzfäller nach Ettersbronn. Alle waren begierig, wohin ihr Begleiter ginge, darum blieb der ganze Trupp beieinander, so daß die Leute die Fenster aufmachten und ihnen verwundert nachschauten.

Nur der Älteste, der wie immer vorangeschritten war, kümmerte sich nichts um den Zugänger, und als er an seiner Hütte angelangt war, sagte er gute Nacht! und ging hinein. »Gute Nacht!« riefen die anderen. Das Männlein aber schaute weder rechts noch links, sondern ging hinterher durch die Haustür, wie wenn er hier daheim wäre.

Ach, wie die Leute in der Stube erschraken, als der sonderbare Gast hereinkam und sich mir nichts dir nichts zu dem Altvater auf die Ofenbank setzte! Die Kinder kreischten auf und flüchteten sich in die Kammer, Vater und Mutter schrien ihn an, wer er sei, und was er wolle, bis ihnen der Altvater Schweigen gebot. Dann erzählte er, was er wußte, und sagte zum Schlusse: »Tut ihm nichts zu leid, er gehört zu Frau Holles Gesinde. Lasset ihn heute nacht hier bleiben. Er soll neben mir in der anderen Bodenkammer schlafen unter dem Welschkorn. Morgen früh bring' ich ihn wieder in den Wald hinaus.«

So geschah es denn auch. Aber Frau Holles Knechtlein machte sich nicht an seine eigene Arbeit, sondern half den Holzschlägern bei der ihren. Er hatte die Kraft von sechsen, und in der letzten Stunde ging es ihm noch gerade so von der Hand wie in der ersten. Dabei hielt er sich immer an den Ältesten, und als der Lohn ausbezahlt wurde (es war ein Samstag) und die Reihe an ihn kam, rührte er das Geld nicht an, bis endlich der Altvater den Tagelohn zu seinem eigenen in die Tasche steckte. Während des Mittagsmahls war er lustig und guter Dinge gewesen und hatte den Holzschlägern in allen Stücken also auf die Finger und auf den Mund geschaut, daß er den Käse aufs Brot schmieren und breit einbeißen konnte, wie irgendeiner aus Sensenbach oder Ettersbronn.

Als an jenem Tage die Holzmacher heimzogen, wich Frau Holles Knechtlein seinem Alten nicht von der Seite, und wenn dieser einmal langsam ging, zog er ihn am Kittel vorwärts. Dann und wann warf er einen scheuen Blick hinter sich. Da ging es wild genug zu: im Roten Reisig raste der Sturm, die alten Tannen knarrten, und zuweilen gellte es aus dem Wald wie ein zorniger Ruf. Da blieb dann der Mann stehen, schüttelte heftig den Kopf und machte eine wegwerfende Handbewegung nach hinten. Dabei aber zitterte er vor Angst und drängte und trieb vorwärts. Erst als sie unter der vordersten Straßenlaterne von Ettersbronn durchgezogen waren, wurde er ruhig und ließ den Wams des Alten los.

Der Bauer murrte freilich, als der sonderbare Gast wiederkam. Aber der Großvater erzählte, was er für ein gewaltiger Schaffer sei und ein gar geringer Esser, und wie er sich nichts um das Geld kümmere, und er holte den doppelten Lohn aus der Tasche und setzte auf das eine Häuflein das andere. Da sagte der Bauer: »Wir wollen ihn behalten.« Und so blieb er da.

Am muntersten war er bei der Arbeit im Wald und im Feld. Er brachte so viel zustande wie fünf gelernte Bauernknechte, denn obgleich er keine Silbe sprach, war er so hellverständig, daß er zu allem zu gebrauchen war. Nach dem Geld, das er verdiente, sah er sich nicht um. Der Bauer steckte es in seinen Strumpf und kaufte sich eine fette Wiese um die andere.

Im Hause war er gut zu haben. Er saß neben dem Altvater auf der Ofenbank und war niemand im Weg. Die Kinder verloren allmählich alle Scheu vor ihm und wurden zutraulich. Er aber kümmerte sich um sie ebensowenig wie um sonst irgend jemand. Die Mutter konnte ihr altes Grauen nicht überwinden.

Zuweilen war er auch unheimlich genug. In klaren Neumondnächten, wenn die Sterne so recht feurig funkelten, kam über ihn eine Unruhe, daß er weder sitzen noch liegen konnte. Rastlos ging er im Hause umher, in die Küche, in den Stall, in die Kammer hinauf und in die Stube zurück, legte sich auf die Ofenbank, stand wieder auf, stellte sich ans Fenster und fing die Wanderung von vorne an. So trieb er's die Nacht hindurch, bis die Hähne krähten.

»Was hat denn der Hollemann?« fragten die Kinder. »Seid still«, sagte der Altvater; »es tut ihm andt.«

»Es tut ihm andt« ist ettersbronnisch und heißt: Er hat Heimweh.

Es verging eine geraume Weile. Das Häuslein war noch ebenso klein, aber der Bauer gehörte zu den reichsten im Dorf. Da widerfuhr der Mutter eine große Freude: sie genas eines Söhnleins, das war schön und gesund, und es gedieh und wurde so hold, daß es jedem eine Wonne war, es anzuschauen. Die Mutter dankte dem lieben Gott täglich für dieses Kind, und der Großvater lebte wieder auf. Nur der Bauer selber hatte keine Zeit, sich über sein Hänslein zu freuen, denn er wollte Gemeinderat werden, und der Hollemann kümmerte sich um das jüngste Söhnchen so wenig als um die übrigen Leute im Haus.

Als das Kind entwöhnt war, brachte ihm sein Großvater ein Lämmchen. Das war nun der liebste Gespiele des heranwachsenden Knaben. Es lief ihm nach, wohin er ging, und wenn die Mutter ihr Hänslein zu Bett brachte, legte sich das Lämmchen unten an die Bettstatt und schlief da, bis sein Kamerad es morgens aufweckte.

Nun geschah es einmal in klarer Winterszeit, daß der Hollemann mit Einbruch der sternfunkelnden Nacht wieder überaus unruhig wurde. Man hatte sich im Hause daran gewöhnt und achtete seines Umtriebs nicht weiter. Aber als nach dem Abendessen die Mutter ihr Hänslein wusch, strich der Hollemann zweimal dicht an ihnen vorüber, und es kam ihr vor, als ob sein düsterer Blick auf das Kind gefallen sei, so oft er zur Tür hereinkam. Deshalb behielt sie ihn den Abend über im Auge, und als sie sich schlafen legte, nahm sie das Hänslein aus seinem Bettchen und legte es zwischen sich und ihren Mann. Türschlösser gab es damals in Ettersbronn noch nicht, sonst hätte sie die Kammertür zugeschlossen.

Als am anderen Morgen das Hänslein über die Bettlehne guckte, war das Lämmchen verschwunden; und als die Familie in der Stube zusammenkam, fragte eines das andere: »Hat niemand den Hollemann gesehen?« Keiner wußte etwas von ihm; auch er war nimmer da.

Alle Räume des Hauses, der Stall und die Scheune wurden durchstöbert und alle Wege hinausgeschaut. Weder vom Hollemann noch von dem Lämmchen war eine Spur zu entdecken. Endlich fand sich die Familie wieder in der Stube zusammen, und man setzte sich zur Morgensuppe an den Tisch. Die Mutter hielt das Hänslein auf dem Schoß, aber es wollte sich nicht trösten lassen. Der Vater brummte wegen des verlorenen Verdienstes. Der Altvater aber sagte: »Er hat das Lämmchen der Frau Holle mitgebracht, damit sie ihn wieder aufnehme. Seid froh, daß ihr bei dem Handel so billig davongekommen seid.«

Während er noch sprach, hörte man ein zitterndes Mäh! Die Tür tat sich auf, und der Hollemann trat herein. Ach, aber wir sahen beide aus! Des Hollemanns Bart war zerzaust, seine Kutte hing in Fetzen, wie von scharfen Streichen zerschnitten; wo die bloße Haut zu sehen war, war sie mit Striemen bedeckt, und der ganze Mann war so verschimpfiert und abgejagt, daß es zum Erbarmen war. Und nicht minder jämmerlich sah das Lämmchen aus. Es war wund und zerschunden am ganzen Leibe und zitterte vor Erschöpfung und Schmerzen. Wimmernd schleppte es sich auf das Hänslein zu, das seinen Kameraden unter Tränen in die Arme schloß. Dann schaute das Tierchen seinen Freund noch einmal wehmütig an, streckte die Beine von sich und war tot.

»Die haben euch schön heimgeschickt!« rief der Vater. Der Altvater aber schüttelte den Kopf und sagte: »Frau Holles Gejaid hat sie gehetzt, weil ihr die Gabe mißfallen hat. Vielleicht hat er jetzt für immer genug; wo nicht, nehmt euer Kind in acht!« Die Mutter aber führte den Hollemann mitleidig an den Tisch, kühlte seine Striemen und flickte seinen Rock.

Für eine Weile war dem entlaufenen Knecht alles Heimweh vergangen. Aber nach Jahr und Tag fing die Unruhe wieder an, wenn in wolkenlosen schwarzen Nächten die Sterne funkelten.

Nun geschah dem Haus ein großes Unglück: Der Altvater legte sich hin und starb. Die Mutter und das Hänslein waren am betrübtesten, denn sie hatten ihn am liebsten gehabt. Der Hollemann ging hinter dem Sarg her so gleichgültig, wie wenn er mit dem Großvater auf die Wiesen ginge; und daheim war er so vergnügt und gleichmütig, als ob nichts geschehen wäre, und man merkte ihm an, daß er den alten Mann, der immer so gut gegen ihn gewesen war, nicht im geringsten vermißte. Da ward er der Mutter noch mehr zuwider als bisher. Sie hätte ihn gar gern losgehabt, aber der Vater wollte ihn nicht missen. So mußte sie ihn dulden und konnte nichts weiter tun, als ein sorgsames Auge auf ihr Hänslein haben.

Da kam eines Tages eines der älteren Kinder nach Hause mit der Nachricht: »Die böhmischen Musikanten sind wieder da.« Unter den böhmischen Musikanten aber war einer, den hatte die Bäuerin früher liebgehabt, aber sie hatte ihn nicht heiraten dürfen, weil er arm war. Lange hatte sie ihn im Herzen getragen, noch als junge Frau, dann war sein Bild allmählich erblaßt, aber ganz verschwunden war es nicht. Und als das Kind erzählte: »Die böhmischen Musikanten sind wieder da«, wurde die Bäuerin blutrot, und das Herz klopfte ihr gewaltig vor Schrecken und Freude. Zweimal schon nach ihrer Hochzeit waren die Musikanten im Dorf gewesen, und beidemal war er nicht dabei. Das eine Mal hatte er nicht kommen wollen, und das andere Mal lag er krank im Hospital in der Stadt. Dieses Mal ist er dabei, sagte ihr das ahnungsvolle Herz, und ist er dabei, so kommt er gewiß. Vor Verwirrung und Unruhe wußte sie sich nicht zu lassen, und sie lief im Hause umher geradeso friedlos, wie der Hollemann tat, wenn die Sterne ihn stachen. Der Bauer aber war über Feld, eine Zuchtkuh zu kaufen, und wollte erst am anderen Mittag wiederkommen.

Als die größeren Kinder zur Ruhe waren, saß der Hollemann verschlafen auf der Ofenbank, die Bäurin aber zog ihr Hänslein aus und wusch es und kleidete es in sein Nachthemdchen und preßte es ein Mal über das andere ans Herz und bedeckte sein Gesichtchen mit ihren Küssen und mußte auf einmal bitterlich weinen.

Da erklang draußen vor dem Fenster der wohlbekannte, heißgefürchtete und heißersehnte Geigenruf: »Gretelein, komm!« So hatte er sie dereinst zu sich hinausgelockt. Sie hob ihr Haupt, lächelte glückselig und antwortete im gleichen Ton: »Hans, ich komme!« Dann nahm sie ihr Söhnchen, trug es in die Kammer, legte es in sein Bettlein, drückte den Lockenkopf in das Kissen und huschte zur Tür hinaus ins Freie.

Die Nacht war dunstig und völlig finster, aber von Nordosten wehte ein frischer Wind, und über dem Roten Reisig war es schon klar. Aber das sah die Bäurin nicht. Sie stand bei ihrem alten Geliebten. Sie hatten sich an den Händen gefaßt, die Frau senkte ihren Kopf auf die Brust, und er schaute sie wehmütig an. So standen sie lange, ohne daß eins ein Wort gesagt hätte. Dann gingen sie im leisen Gespräch unter den schwarzen Nußbäumen auf und nieder, auf dem abgelegenen Weg, der hinter dem Hause nach dem Roten Reisig führt. Er erzählte ihr, und sie erzählte ihm, und sie waren froh und traurig. So kam die Stunde des Scheidens. Sie begleitete ihn um das Haus herum bis zu dem finsteren Erlenbusch am Rosenbach. Da setzten sie sich nieder in den schwarzen Schatten. Nur für einen Augenblick sollte es sein. Sie erzählte ihm von ihrem Süßesten und Liebsten, ihrem Hänslein, und er fragte sie, wer dem Kind den Namen gegeben habe, ob der Vater oder die Mutter; als sie schwieg, zog er sie an seine Brust und fragte, nach wem das Hänslein heiße. Da beugte sie ihren Kopf und schloß die Augen, und er küßte sie, und sie küßte ihn.

Als sie die Augen wieder aufschlug, schaute sie an seinem Kopfe vorbei in das Erlenlaub hinein; siehe, da blitzte ihr durch das Gezweig ein Stern in die Augen. Da riß sie sich los, sprang auf die Füße und hinaus aus dem Schatten auf den freien Weg. Rings um sie lauter funkelklare Nacht.

»Gretelein, komm!« raunte er aus dem Gebüsch. »Wir haben doch nichts Böses getan!... Ich will brav sein!« – Dann griff er nach der Geige, und »Gretelein, komm!« lockte es hinter ihr her. Aber sie hörte nicht. In fliegender Eile lief sie dem Hause zu. Als sie die Umrisse unterscheiden konnte, war es ihr, als ob ein Schatten um die Ecke böge. Jetzt hatte sie die Haustür, jetzt war sie in der Stube, in der Kammer. Das Bettlein war leer, der Hollemann war nicht mehr da. Da lief sie hinaus und um das Haus herum, dem Schatten nach, den sie geschaut hatte. Der Räuber konnte noch nicht weit sein. Und sie lief und lief auf dem Weg gegen den Roten Reisig zu. Die schwarzen Schatten flogen an ihr vorbei, und zu ihren Häupten flimmerte die Sternennacht. Aber der Wald wollte nicht kommen und wollte nicht kommen. Und sie war doch auf dem rechten Weg, sie kannte ihn wie den Weg zu ihrer Kammer. Und hier war ihr Acker mit den sieben Birnbäumen, und jetzt alsogleich mußte der Wald auftauchen. Aber der Wald kam nicht und kam nicht. So lief sie Stunde um Stunde, bis die Sterne erbleichten im Dämmerlicht und die Wachtel rief. Die Gedanken waren ihr vergangen, und jetzt vergingen ihr auch die Sinne. Sie stürzte über einen Pflug, schlug zu Boden und blieb liegen.

So fanden sie die Musikanten, die vor Sonnenaufgang aufgebrochen waren, auf der Landstraße, die nach der Stadt führt, weit von Ettersbronn und noch weiter vom Roten Reisig. Sie brachten sie nach dem Dorf zurück. Vor dem ersten Hause stieg sie von dem Karren der Musikanten, und ohne ihrem alten Liebhaber einen Blick zu schenken, ging sie in ihre Wohnung, weckte die Kinder, und nun durchstöberten sie jeden Winkel. Der Bauer, der dazu kam, bot die Bürgerhilfe von Ettersbronn auf. Der Rote Reisig wurde von den Männern durchstreift. Alles vergeblich. Vom Hollemann und dem Kindlein fand sich keine Spur.

Anfangs tröstete der Bauer sein Weib: »Gib acht, sie werden ihn schon wieder heimschicken wie fern.« Er dachte dabei an den nützlichen Knecht. Da sah ihn die Bäurin mit großen Augen an. »So? Und wie ist es dem Lamm dabei ergangen? Ach nein! –« und sie lächelte in all ihrem Leid. »So geht's ihm nicht. Ein schöner Kind als unser Hänslein gibt es nicht. Das verschmäht die Frau Holle nimmermehr.«

Und so war es auch. – Drei, vier Jahre vergingen. Die Kinder hatten ihr Brüderchen vergessen, und der Vater sagte zufrieden: »Alles, was wahr ist; die Frau Holle ist eine anständige Frau.« Seit jenem Tage war nämlich noch auffälligeres Glück mit dem Hause. Wenn überall das Obst verdarb, die Bäume von Hänsleins Vater brachen schier unter der Last. Im Stall war alles Gedeihen, und wer aus dem Hause fischen ging, dem drängten sich die Forellen an die Angel.

Aber freilich die Mutter konnte bei alledem ihr Hänslein nicht vergessen, und wenn es niemand sah, weinte sie. So stahl sie sich auch einmal in einer hellen Sommernacht aus dem Bett und setzte sich an das offene Fenster und weinte und weinte, bis die Vöglein erwachten.

Am anderen Morgen war sie allein zu Hause. Sie setzte sich auf die offene Flur, denn da war es am kühlsten. Draußen glühte der Sommer. Sie zupfte Roßhaar, aber sie war todmüde, und der Schlaf kam über sie wie ein Gewappneter. Da war's ihr, zwischen Wachen und Träumen, als ob ihr einstmaliger Hausgenosse vor ihr stünde. Er war rund und fett, seine roten Backen glänzten, und sein Bart war geschnitten. »Frau Holle ist an deinem Fenster vorbeigegangen«, sagte er, »und hat deine Tränen gesehen. Komm heute nacht in den Roten Reisig auf die breite Wiese. Dort sollst du dein Hänslein sehen; wenn du willst, darfst du ihn rufen.«

Die Mutter sagte von ihrem Erlebnis keinem Menschen ein Wort. Als der Abend kam, trieb sie zum Nachtessen und zu Bett, und sobald sie sich überzeugt hatte, daß ihr Mann schlafe, schlüpfte sie von seiner Seite, zog Kleid und Schuhe an und schlich aus dem Haus.

Die Nacht kam süß und leise, lau und hell. Die Grillen zirpten am Raine, und die Falter surrten von den Blumen zu den Bäumen. Der Wald war totenstill und doch voll wundersamen Webens, der Pfad so licht wie am Tag, und im Gebüsch lagen Leuchtwürmchen wie glühende Funken. Kurz vor Mitternacht kam die Mutter an dem Orte an. Die Waldwiese lag breit im hellen Mondenschein, aber es war niemand auf ihr zu sehen. Die Mutter verbarg sich hinter einem Haselbusch und wartete.

Nicht lange dauerte es, da trat aus dem gegenüberliegenden Wald eine hohe, schöne Frau. Sie hatte ein weißes Gewand und lange goldene Haare. Langsam schwebte sie über die Wiese bis an das obere Ende. Dort setzte sie sich auf den Boden und klatschte in die Hände. Siehe, da sprangen eine Menge Kinder aus dem Wald auf die Wiese und spielten und tanzten, daß es eine Lust zu schauen war. Da hörte aller Gram in dem Herzen der Mutter auf. Wenn mein Hänslein bei diesen Kindern ist, dachte sie, dann will ich nie, nie mehr weinen. And sie strengte ihre Augen an, ihr Hänslein zu erschauen. Aber sie fand es nicht. Denn die Kinder sahen alle aus wie die lieben Engel, auch waren sie alle größer, als ihr Hänslein nach den Jahren sein mußte.

Als die Kinder genug getanzt und gespielt hatten, sammelten sie sich um Frau Holle, und diese schickte sie in einem langsamen Reigen rings um die ganze Wiese. So kamen die Kinder ganz nahe an der Mutter vorbei, und diese konnte jedes einzelne ganz genau betrachten. Der Zug war schon fast vorüber, da sah die Mutter zu allerhinterst ihr Hänslein, Hand in Hand mit einem anderen Kinde. Es war etwas kleiner als die anderen, aber viel größer, als es in seiner Mutter Haus gewachsen wäre. Wie war es so schön! Rot und weiß, mit hellen blauen Augen! Es sang so selig, und es schien das fröhlichste von den Kindern allen.

Wenn es mich nur nicht sieht, dachte die Mutter. Hier ist es tausendmal schöner als daheim bei uns. Und sie legte sich auf den Boden. Aber wie nun ihr Söhnchen an ihr vorüberwandelte, wallte ihr das Herz, und ohne es zu wollen, hatte sie schon gerufen: »Hänslein!«

Ach, wie erschrak sie, als sie ihre Stimme hörte! Sie schloß die Augen und hielt den Odem an. So lag sie eine Weile. Als sie endlich den Kopf hob und durch die Zweige spähte, sah sie den Zug der Kinder schon weit weg. Mitten zwischen dem Ende des Zuges und dem Busche, worinnen die Mutter steckte, stand das Hänslein mit seinem Kameraden. Sie schauten beide her; der andere deutete nach den Kindern, faßte das Hänslein bei der Hand und wollte es mit sich führen. Aber das Hänslein machte sich los und ging zweifelnd auf die Mutter zu. Mit einemmal streckte es seine Ärmlein aus und sprang herbei.

Da legte sich die Mutter wieder auf den Boden, schloß die Augen und hielt den Odem. Sie preßte die Hände auf ihr Herz und hörte ganz zu atmen auf. Sie spürte wieder und wieder, wie ihr Söhnchen an ihr vorbeikam, und sie hörte es schnaufen beim Suchen. Aber sie hatte sich zu gut versteckt, und ihr Herz war gehorsam. Endlich hörte sie, wie sich die Tritte entfernten. Sie hob den Kopf und schaute durch das Gezweig. Da sah sie ihr Kind zu Frau Holle zurückkehren, aber es ging zögernd und schaute immer wieder um; auch deuchte die Mutter, daß ihr Söhnlein traurig wäre.

»Er wird bald wieder lustig sein«, sagte sie zu sich, schlüpfte leise aus dem Busch und eilte zum Wald hinaus. Als sie ins Freie kam, wurde es im Osten hell; die Hähne krähten das Dorf entlang, als sie zu ihrem schlafenden Mann ins Bett schlüpfte.

Seit jener Nacht weinte die Mutter nimmer um ihr Hänslein. In den Stunden, wo früher ihre Tränen geflossen waren, saß sie jetzt in stillem Sinnen und lächelte in sich hinein.

Eines Tages fragte das zweitjüngste Töchterchen: »Mutter, warum weinst du denn gar nimmer?« – »Weil es bei der Frau Holle viel schöner ist als bei uns.« – »Mutter, so bring mich auch zur Frau Holle.« – »Schweig still, dich mag sie nicht, du Unart!«

Als sie dies gesagt hatte, nahm sie ein Büschelchen Weiden, um die Reben hinter dem Hause anzubinden. Als sie um die zweite Mauerecke gebogen hatte, trieb es sie, um die Holzbeuge herumzugehen und den Weg hinauszuschauen, der nach dem Roten Reisig führt. Wie sie zwischen der Holzbeuge und dem Gartenzaun hindurchschlüpft und die niederhängenden Zweige von dem Holunderbusch mit der linken Hand in die Höhe schiebt, wer kommt ihr entgegen? Der Hollemann mit dem Hänslein.

Vor Staunen und plötzlicher Freude und Sorge sank die Mutter in die Knie, sie legte die Weiden neben sich auf den Boden und wußte nicht, was sie tun und sagen sollte. Aber das Hänslein war schon auf sie zugesprungen und hatte die Arme um ihren Hals gelegt.

»Kind, warum kommst du zurück?« stammelte sie und wagte nicht, es in den Arm zu nehmen.

»Mutter, Mutter, du hast mich ja gerufen.«

Da preßte sie das Hänslein an ihr Herz und sah zweifelnd an seinem Gewändlein vorüber nach dem Hollemann. Der lachte die Mutter freundlich an, aber gleich darauf machte er ein verdrießliches Gesicht und sagte:

»Frau Holle kann ihn nimmer brauchen, weil er immer traurig ist, seit –«

Die Mutter hörte nichts mehr. Sie schlang die Arme wieder um das Hänslein und schluchzte: »Kind, Kind!« Und das Hänslein preßte sich an sie und flüsterte: »Immer, immer bleib' ich bei dir.«

So war denn das Hänslein wieder da. Die Freude war groß in Ettersbronn. Alle wollten es sehen und verwunderten sich, wie schön und groß, wie gescheit und lieb es war. Wenn man es fragte, wie es ihm ergangen sei, und was es erlebt habe, dann schüttelte es den Kopf und sah die Leute mit großen Augen an; eine Antwort gab es keinem. Seiner Mutter hätte es vielleicht erzählt, ganz im geheimen; aber die allein fragte es niemals.

Wenn die Nachbarfrauen ihr Glück priesen, schwieg sie still, und war sie allein, dann seufzte sie ein Mal über das andere. Sie merkte wohl, daß ihr Hänslein niemals mehr so lustig war, als sie es auf der Wiese gesehen hatte, auch kam es ihr vor, als ob sein Gang nimmer so leicht und fröhlich sei als bei der Frau Holle. Und als ihr einmal das Hänslein in dem Schlupf zwischen der Holzbeuge und dem Gartenzaun wieder entgegenlief, da sah sie mit Schrecken, wie es so bleich aussah. Jetzt hatte sie ein noch schärferes Auge auf ihr Kind. Sie bemerkte, wie es im Winter mühsam atmete in der dumpfen heißen Stubenluft. Hundertmal machte die Mutter das Fenster auf, aber jedesmal machte es der Vater wieder zu. Wenn die Familie um den Tisch herum saß, und die anderen in das Dürrfleisch und die Kartoffeln einhieben, saß das Hänslein dabei wie ein fremder Gast, der sich nicht zuzulangen traut, und jedesmal wenn der Metzger kam und eines der runden Schweine stach, lief das Hänschen mit entsetzten Augen im Hause herum wie in einem qualvollen Gefängnis.

Endlich war der traurige Winter vorbei, die Nachtigallen kamen und brachten die wundervollen Nächte mit. Da wurde es ein klein wenig besser um das Hänschen, aber die Mutter hörte nicht auf zu sorgen und sich zu kümmern.

Nach einem schönen Junitag – es hatte gegen Abend ein wenig gewittert – ging die Sonne hinter einer schwindenden Wolkenbank blutrot unter. Und dann leuchtete der Abendstein auf, so hell und nah, wie wenn er zu greifen wäre.

Vater und Mutter und Kinder waren zu Bett gegangen. Die Mutter machte das Kammerfenster auf, der Vater brummte und machte es wieder zu, aber als er still in seinen Kissen lag, öffnete es die Mutter leise von neuem, legte sich in das Bett und lag wachend. Da hörte sie, wie das Hänslein sich aufrichtete. Sie hob den Kopf und schaute. Ihr Kind kniete in seinem Bettlein und breitete die Arme aus nach dem Fenster, dem Sterneschwall entgegen. Lange, lange war es so. Da kam es der Mutter vor, als ob etwas das Bett schütterte. Sie lauschte krampfhaft und vernahm, wie ihr Hänslein lautlos in sich hinein schluchzte.

Das konnte die Mutter nimmer mit ansehen. Leise schlüpfte sie aus dem Bett, schlang ihre Arme um das Kind und flüsterte: »Sei mäuschen-, mäuschenstill, wir gehen zur Frau Holle auf die Wiese.«

»Gehst du mit?« hauchte Hänslein. Die Mutter nickte auf seine Achsel.

In fliegender Eile zog sie Hänslein an. Das Kind zitterte vor Freude, und die Mutter zitterte auch.

»Wart in deinem Bettlein, bis ich fertig bin.«

Sie schlüpfte in ihr Kleid und in ihre Schuhe und knüpfte die Bändel. Dann hob sie das Kind aus dem Bett.

»Sag deinem Vater Behütgott!«

Das Kind warf dem Schlafenden eine verlorene Kußhand zu. Dann schlichen beide zur Stube und zum Hause hinaus.

Der Mond war aufgegangen, und auf der Straße wechselte schwarzer Schatten und lichter Schein. Hänslein lief an der Hand seiner Mutter, und wenn sie in die Finsternis eines Hauses traten, hielt es sich auch noch mit der anderen Hand an der Mutter fest. Als sie aber hinauskamen ins freie Feld, da wurde das Kind voll Fröhlichkeit und drängte hastig vorwärts, und als sie gar in den hellen Wald getreten waren, da fing Hänslein an zu lachen und zu singen, und die Mutter sang mit, um nicht zu weinen, und sie spielten Fangen auf dem klaren grasigen Weg.

So gelangten sie an die Wiese, über die der Mondenschein strömte. Frau Holle und die Kinder waren schon da. Frau Holle saß am entgegengesetzten Ende, die Kinder standen ihr gegenüber in einer Reihe. Eines nach dem anderen sprang auf sie zu. Sie fing das Springerlein in ihren Armen auf, drückte es an ihr Herz und küßte es. Dann entließ sie es aus ihren mütterlichen Armen, und das Kind hüpfte zur Seite, wo es von seinen beiden Vorgängerlein an den Händen gefaßt und in den Reigen gezogen wurde.

Als die Mutter das alles gesehen hatte, sagte sie zu Hänslein: »Nun behüt dich Gott! Flugs! Spring zu deinen Kameraden!«

Aber das Hänslein rührte sich nicht.

Die Mutter neigte sich zu ihm nieder. Da fragte das Hänslein leise: »Bleibst du nicht da?«

»Ei wo! Ihr könnt doch keinen Hutzebutz brauchen und keine Vogelscheuch! So spring doch! Hurtig! Hol dir deinen Kuß! Das will ich noch sehen und dann –«

Das Hänslein stand unbeweglich. Es lächelte nach den Kindern zu, aber es hielt den Arm der Mutter mit beiden Händen fest.

»Ich will dich hinführen«, sagte die Mutter mit trockener Stimme und fast barsch. So gingen sie aus dem Wald auf den Wiesenplan.

»Warum gehst du denn so langsam, du Narr? Was stolperst du denn? Bist doch nicht müde? So lauf doch! Wart, wart, ich springe mit dir! Wir springen selbander.« Und die Mutter sprang, das Kind hinter sich herziehend, über die Wiese hin. Aber bald merkte sie, daß sie es nicht mehr zog, sondern schleifte.

Da hielt sie inne und blieb stehen. Das Kind lag auf den Knien, schlang seine Ärmchen um ihr Kleid und schluchzte: »Mutter, Mutter, Mutter!« Das Herz schwoll ihr vor Weh; und sie wurde zornig und sagte: »Willst du artig sein? Soll ich dir vor der Frau Holle Schläge geben?« Zugleich aber hob sie ihr Kind an ihre Brust und preßte ihre heißen Augen in seine Locken.

»Bleibe du auch da!« rief Hänslein. – »Sei still! Du wirst deine Mutter vergessen!« flüsterte sie ihm ins Ohr, und sie trug den Knaben auf dem Arm vollends zu den Kindern hin, stellte sich in die Reihe, und als die Ordnung an sie kam, sprang sie über die Wiese auf Frau Holle zu.

Als sie vor ihr stand, schaute die hehre Frau die Mutter fragend an. Hänslein sah mit strahlenden Augen der Königin ins Gesicht und hielt die Mutter am Busen fest. Diese küßte noch einmal ihr Kind auf den roten Mund, dann reichte sie es der Frau Holle hin und rief: »Hier bring' ich dir wieder meinen Sohn; mache du, daß er seine Mutter vergißt!«

Da schüttelte Frau Holle langsam ihr Haupt. Das Kind lächelte glückselig und griff zugleich mit der rechten Hand suchend zurück. Frau Holle hielt das Kind von sich ab und schaute wie unschlüssig vom Knaben auf die Mutter. Mit einem Male leuchtete ihr Antlitz in himmlischer Güte, sie breitete ihre Arme aus und preßte das Hänslein an ihre Brust. So hielt sie es lange, lange umschlungen. Dann beugte sie das Haupt zurück und küßte das Kind leise auf den Mund.

Als sie es aus den Armen ließ, sprang das Hänslein nicht wie die anderen Kinder auf die Seite in den Reigentanz, sondern glitt still auf den Boden nieder.

Die Mutter hob es auf und trug es hinüber zu den tanzenden Kindern. »Hänslein, tanze doch!« Aber Hänslein wollte nicht tanzen. Zwar lächelte es wie im fröhlichsten Tanz, aber das Köpfchen glitt ihm zur Seite, und die Arme fielen hinab. Da trug es die Mutter mitten in den Ringelreihen hinein und legte es auf den Boden. Und wie sie sich so über ihr Kind beugte, wurde ihr das Herz schwer wie ein Stein, der in den Boden fallen will, und sie stürzte über das Hänslein hin.

Der Reigen löste sich auf und schwebte langsam vorüber. Frau Holle führte ihre Kinder in den Wald und legte sie schlafen.

Aus der Wiese brodete weißer Dampf und legte sich über den schimmernden Boden. Und aus dem Walde kam ein zahlloses kleines Volk, halb Männlein, halb Käfer. Das waren der Frau Holle ihre Totengräberchen. Die schleppten die beiden Leichen in den Wald hinein. Denn nichts Totes darf auf der Wiese liegenbleiben.

Mitten im Roten Reisig ist ein Hügel. Kein Gesträuch und kein Baum war darauf; dickes Moos deckte ihn zu. In diesem Hügel wurden das Hänslein und seine Mutter begraben. Als das Geschäft besorgt war, zogen die Totengräberchen davon. Aber aus dem Gebüsche trat Frau Holles Knecht. Er trug ein wunderschönes Tännlein, das pflanzte er in den Gipfel des Hügels. Als er damit fertig war, schlug er die Arme übereinander und machte das sonderbarste Gesicht: er wollte gern weinen und konnte doch nicht.

Ende


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