Adolf Schmitthenner
Heidelberger Erzählungen
Adolf Schmitthenner

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Vergessene Kinder

Großvater, laß mich laufen! Die Kinder sind schon alle dort, und gleich wird es losgehen!«

»Willst du artig sein!«

Und der alte blinde Mann drückte die widerspenstige kleine Hand immer fester und zäher, wie wenn seine Fingerknochen ein Schraubstock wären.

Die Enkelin seufzte und gab den Widerstand auf. Da ließ auch der Zwang des Schraubstockes nach, und die langen weißen Finger streichelten das blaßgewordene Händchen, in dessen aufschwellendes Polsterchen jetzt das rote Blut floß.

»Hat nicht dein Fräulein gesagt: drei Uhr?«

»Ja, es hat auch schon drei Uhr geschlagen. Du hast es nur nicht gehört, weil gerade die Elektrische vorüberkam. Aber ich seh's doch; auf dem Petriturm ist es drei vorüber.«

»Die Uhr auf dem Petriturm geht falsch, meine geht richtig«, sagte der Blinde.

»Um Gottes willen, jetzt bleibt er auch noch stehen! Großvater! Großvater!«

Die kleine Dirn trippelte vor Ungeduld und fing zu weinen an.

»Da, nimm meinen Stock«, sagte der Alte, knüpfte seinen Rock auf, holte die Uhr aus der Westentasche, ließ das Glas aufspringen und griff nach den Zeigern.

»Es sind noch drei Minuten bis drei Uhr, und in anderthalb Minuten sind wir auf dem Platz.«

Nachdem er mit großem Umstand die Uhr wieder an ihren Platz getan und seinen schwarzen Rock zugeknöpft hatte, ergriff er die Hand seines Enkelkindes und ging weiter. Er beschleunigte etwas seine Schritte.

»Großvater, o laß mich laufen! Eben gehen sie fort. Großvater, ich seh's ja doch, sie schwenken schon nach dem Berge!«

»Das ist nicht möglich«, sagte er und lauschte. »Das sind andere Kinder. Das sind die Kinder von Sankt Marien.«

»Nein, nein«, meinte die Kleine, »ich seh' doch meine Lehrerin.«

»Das ist deine Lehrerin nicht. Sie sieht ihr nur ähnlich. Alle Lehrerinnen sehen sich ähnlich.«

»Großvater, laß mich, laß mich! Es sind ja gar keine anderen Kinder sonst auf dem Platz. Du bist schuld, wenn ich nicht mitkomme.«

»Sei ruhig, Anna; sie stehen hinter dem Platz in der Schillerstraße. Natürlich; hier waren sie dem Verkehr im Weg. Und meinst du, sie gingen ohne dich davon?«

Er ließ ihre Hand los und fuhr ihr mit seinen schmalen Fingern liebkosend über die Stirn.

»So, jetzt sind wir an meiner Bank. Jetzt springe in Gottes Namen! Grüß deine Lehrerin schön, und empfiehl mich dem Herrn Stadtpfarrer. Vergiß nicht, dich schön zu bedanken! Gib auf dein Hütchen acht, wenn ihr durch die Hecken schlüpfet. Und verlier dein Spitzentaschentüchelchen nicht, es ist von deiner seligen Mutter. Und nun geh mit Gott, liebes Kind. Küsse mich! Ich werde der Sonne nachrutschen von Bank zu Bank, und bis ihr wiederkommt, werde ich wohl auf der ersten Bank sitzen, am Stadtgarten. Nun viel tausend Wünsche!«

Jetzt endlich ließ er die kleinen Hände los.

»Adieu, Großvater!« hauchte die Enkelin und lief, so schnell sie konnte, dem Zuge der Kinder nach.

Es war von ihm nichts mehr zu sehen, aber Anna wußte, welchen Weg sie eingeschlagen hatten. Sie lief wie der Wind am Stadtgarten vorbei auf dem breiten Weg in den Wald hinein. Über sich sah sie die Spitze des Zuges aus dem Gebüsche kommen.

»Jesu, geh voran
Auf der Lebensbahn«,

fingen die jungen Kehlen zu singen an. Das paßte freilich schlecht, denn wer den Kindern voranging, das war niemand anders als der alte Orgeltreter an der Petrikirche, der in seinem geschwollenen Rucksack die Butterbrote schleppte.

»Führ uns an der Hand
Bis ins Vaterland!«

sang die Schar, und doch wollten die Kleinen für heute nur auf die Waldwiese am Kirschbrunnen.

Aber Gesang ist Gesang, und die Kinder waren so darein vertieft, daß keines von ihnen die arme Anna bemerkte, die sich durch Hecken und Dornen den Wald hinaufarbeitete.

Der Studiosus Engelmann hätte sie sehen können, denn er schaute beständig in den Wald hinunter, um durch die schlanke Lehrerin, die dicht vor ihm ging, nicht in der Andacht seines Gesanges gestört zu werden. Aber er war so kurzsichtig, daß er Annas roten Hut für einen blühenden Fuchsienstock hielt, wobei er sich nicht im geringsten darüber verwunderte, daß Fuchsien im Walde wachsen.

Annas Hut war nämlich im Gestrüpp hängengeblieben. Das weinende Kind lag auf den Knien und löste das Band von den Dornen los. Jetzt hatte sie den Hut befreit. Sie hielt ihn in der Hand und schaute den Berg hinauf. Noch war die Hoffnung da, den Zug einzuholen; denn der alte Orgeltreter hatte sich auf einen Baumstamm niedergelassen und ruhte aus, während die Kinder unter dem Gesang:

»Führst du uns auf rauhe Wege,
Gib uns auch die nöt'ge Pflege«

an ihrem Butterbrotlieferanten vorüberzogen.

Habe ich nur einmal den Rucksack erreicht, dann hab' ich's gewonnen, dachte das Kind und fing an, tapfer hinaufzusteigen. Da fiel ihr das Spitzentaschentuch ein. Sie griff an das Kleid: es war nimmer darinnen; sie suchte in der Tasche; wirklich, es war nimmer da.

Jetzt aber fing sie bitterlich zu weinen an und wandte sich zurück, das verlorene Tüchlein zu suchen. Sie hatte es bald gefunden. Es lag am Anfang des Waldweges dicht am Ende des Stadtgartens. Ihre Tränen versiegten, und sie freute sich ein wenig. Aber die Hoffnung, die anderen zu erreichen, gab sie jetzt auf. War sie doch noch niemals im Walde gewesen, obgleich er zu allen Gassen ihrer Vaterstadt hereinschaute. Sie kannte keine anderen Wege, als die sie ihren Großvater leitete, und sie wäre vor Angst vergangen bei einem einsamen Schritt in den Wald hinein. So kehrte sie in tiefer Traurigkeit in die Anlagen zurück und setzte sich auf die erste Bank, von der aus sie ihren Großvater sehen konnte.

Auch nicht einen Augenblick kam ihr in den Sinn, zu ihm zu laufen. Sie wußte, daß er außer sich käme vor Leid, wenn er erführe, wie es ihr ergangen wäre. Er hatte sich auf diesen Spaziergang der Sonntagsschule schon seit Wochen gefreut, und seit geraumer Weile redete er von nichts anderem. Bei ihm stand es fest, daß sein Enkelkind der Liebling seiner Lehrerin sei und in jedem Gottesdienst durch seine guten Antworten und sein freundliches Wesen die Aufmerksamkeit des Stadtpfarrers auf sich lenke. Den heutigen Spaziergang stellte er sich als einen Triumphzug seines Lieblings vor, und der kleinen Anna war es angst darauf gewesen, was er alles von ihr werde hören wollen, wenn sie zurückkomme. Sie konnte jetzt nur seinen Rücken sehen, aber sie stellte ihn sich vor, wie er einmal über das andere vor sich hin lächelte, weil er sich ausmalte, welche Auszeichnungen ihr zuteil würden. Und wenn sie sich nun seine Enttäuschung dachte und seine ingrimmigen Vorwürfe gegen sich selbst, dann tat dem guten Kinde das Herz weh. Darum war es ihr, ohne daß sie einen Entschluß zu fassen brauchte, eine gewisse und notwendige Sache, daß ihr Großvater in seinem Wahne erhalten bleibe, und sie nahm sich vor, sich still in seiner Nähe herumzutreiben, bis die Ausflügler zurückkämen, und sich dann, wie wenn sie sich aus dem Zug losgelöst hätte, zu ihm zu gesellen. Sie dachte nach, was sie ihm erzählen wolle; darüber kam sie mit ihren Gedanken wieder zu ihren Genossinnen in den Wald, malte sich ihre Spiele auf der Wiese aus, und ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen.

»Jetzt werden sie wohl unter den Bäumen sitzen und Butterbrot essen und Himbeerwasser trinken«, seufzte sie laut und verspürte, daß sie Hunger habe.

Da fiel ihr ein, daß ihr der Großvater für alle Fälle zehn Pfennige geschenkt hatte. »Brauchst du's nicht für dich«, hatte er gesagt, »so schenk's einem Kinde, das ärmer ist als du und nicht hat mitdürfen« – so hatte er gesagt, als er das Geldstück am Rande prüfte und in ihr Händchen legte. Sie hatte es in einen Knoten ihres Taschentuches gebunden und vorhin mit ihrem Tüchlein selbst wiedergewonnen. Vergnügt knüpfte sie den Zipfel auf und holte ihren Schatz heraus. Ihr gegenüber auf der anderen Seite der Straße war ein Sodawasserhäuschen, in dem auch allerlei Obst, Brötchen und Leckereien zu haben waren.

Sie schaute sich um, ob niemand im Begriff sei, an das Häuschen zu treten, denn sie wollte ganz allein sein bei ihrem Einkauf. Niemand näherte sich. Da sprang sie durch den Schatten der Lindenbäume und stand vor dem Schenktisch.

»Was wollen Sie, Fräuleinchen?« fragte das Mütterchen und schaute über ihren Strickstrumpf aus dem Häuschen heraus.

»Was kostet ein Glas Himbeersaft mit Brausewasser?«

»Zehn Pfennig.«

»Ooh! Und was kosten dort die schönen braunen Hörnchen?«

»Stück für Stück fünf Pfennig.«

»Ich will ... ich will ... ich möchte gern ...«

Sie ließ ihre Augen über die Herrlichkeiten schweifen.

»Nun, was möchtest du gern, mein Liebling? Gelt, Wahl macht Qual?«

»Ich möchte gern ein Hörnchen«, sagte sie flugs, »uuund so viel Kirschen, als man für fünf Pfennig kriegt.«

Anna schob ihren Nickel über den Tisch bis vor den Strickstrumpf.

»Da hast du dein Hörnchen, das größte und braunste und röscheste; es hat auch am allermeisten Kümmel und Salz.«

Dann holte das Mütterchen eine Tüte von der Seitenwand herab und füllte hellrote Kirschen hinein, bis sie oben herausquollen wie aus einem Füllhorn.

»Das sind für gut acht Pfennig Kirschen, weil du's bist. Gelt, du bist dem alten blinden Organisten sein Enkelkind?«

»Ja«, sagte Anna und preßte ihre Schätze an die Brust. Sie machte einen Knicks und sagte: »Ich danke auch viel tausendmal!« Und sie ging vorsichtig und überglücklich auf ihr Bänkchen zurück.

Sie kniete nieder in den Sand und schüttete die Kirschen auf das Brett. Sie teilte sie hälftig und stellte sie in Reih und Glied an den beiden Enden der Bank auf; dann setzte sie sich in die Mitte zwischen ihre zwei Heere, nahm ihr Hörnchen in die Hände und lächelte glückselig.

Nun biß sie das dunkelbraune mürbe Spitzchen ab; es war köstlich. Dann legte sie das Hörnchen in den Schoß, streckte beide Hände aus und ergriff die zwei Flügelmänner von den beiden hinteren Ecken der Bank, steckte sie zu gleicher Zeit in den Mund, ließ zuerst die beiden Stiele regungslos herausgucken und fing dann langsam an, mit Zünglein und Gaumen zu schwelgen, so lange als es nur immer möglich ist, in zwei saftigreifen Herzkirschen zu schwelgen.

»Pfui, du issest nicht hübsch«, sagte mit einem Male in dichtester Nähe ein glockenhelles, feines Stimmchen.

Anna erschrak, daß sie sich verschluckte. Sie holte mit der einen Hand die beiden grünen Stiele, deren Endchen schief aus dem Mund herausguckten, mit der anderen faßte sie ihr Hörnchen krampfhaft fest. Dann schluckte sie die beiden Kirschen samt den Steinen hinunter und riß ihre Augen weit auf.

Vor ihr stand ein kleines Persönchen, so merkwürdig, wie sie's nicht für möglich gehalten hätte. Es war ein Mädchen, etwa so alt wie sie selber. Aber wie sah es aus! Um die krausen schwarzen Locken war ein rotes Seidenband geschlungen. Aus dem feinen braunen Gesichtchen funkelten zwei schwarze, brennende Augen. Um den nackten Hals schlang sich eine Korallenkette. Sie hatte ein kurzes rotes Röckchen an und kurze weiße, spitzenbesetzte Höschen. Die Arme und die Knie waren nackt. Um die Knöchel über den schlanken braunen Händen schlangen sich silberne Armreife, und ihre Füßchen staken in hellgelben weichen Lederstrümpfen, die oben ausgezackt und mit goldenen Schellchen verziert waren. Bei jeder Bewegung klirrte es. So jetzt wieder, wo sie den rechten Fuß um die Ferse des linken schlang.

Das merkwürdige Ding stand dicht vor Anna und schaute zu ihr mit lachenden Augen hin. Anna wurde rot, dann lächelte sie, und schließlich lachten sie einander an.

»Ich will dir zeigen, wie man Kirschen ißt«, sagte der Fremdling und griff mitten hinein in die linke Armee und holte sich einen feisten Kameraden heraus. Sie lockerte den Stein in der Kirsche und hob ihn dann an dem Stiele heraus.

»So machen wir's auch«, sagte Anna. »Wir heißen das Butterfäßchen.«

»Butterfäßchen?« sagte die andere geringschätzig. »Wir sagen Ponyställchen.«

»Da hast du den Pony«, sagte sie jetzt und reichte der Gefährtin den Stiel mit dem Stein. »Halte den Zügel gut, daß er nicht davonläuft.«

Dann legte sie die Kirsche auf ihr braunes Händchen, so daß die rote offene Wunde nach oben schaute, streckte blitzschnell ihr Züngelchen in die Kirsche hinein und zog es mit seinem roten Käppchen an den blitzenden Zähnchen vorbei wieder in den Mund zurück. Sie stand eine Weile, den Kopf nach hinten gebeugt, die Arme übereinander gekreuzt, das geschlossene Mündchen in die Länge gezogen, in den Genuß versenkt. Dann löste sich die biegsame Gestalt, und sie sagte: »So muß man Kirschen essen.«

»Bekommst du oft Kirschen?« fragte Anna.

»Alle Tage, solange es gibt.«

»Habt ihr so viele?«

»Alle Kirschen an der Landstraße gehören uns.«

»An welcher Landstraße?«

Die Fremde besann sich eine Weile und sagte gedehnt:

»Vonnn ... Bordeaux bis Odessa. Aber ist das artig von dir, daß du allein auf der Bank sitzest mit deinen dummen Kirschen?«

Anna schob mit ihren Händen die Kirschen zu ihrer Rechten auf ein Häufchen zusammen, und der Wildfang setzte sich.

»Nun will ich's auch versuchen wie du«, sagte Anna. Sie machte es gerade so, wie sie es vorhin gesehen hatte. Als sie aber bedächtig ihre Zunge herausstreckte, rief ihre Nachbarin:

»Oh, du kannst nicht, du kannst nicht. Du hast eine Zunge, so breit, wie unser Papagei eine hat. Schau, meine ist wie ein Schlänglein!«

Das zarte rote Spitzchen züngelte zwischen ihren blitzenden Zähnen.

Anna wurde rot und zog schnell ihr Züngelchen zurück, und es war gut, daß es angewachsen war, sonst wäre es hinuntergeflohen auf Nimmerwiedersehen vor lauter Schreck und Scham. Sein fester Halt gab ihm Besinnung und Selbstgefühl zurück, es wurde trotzig und bäumte sich.

»Ich kann aber, was du nicht kannst. Ich kann mit meiner Zunge ein Röhrchen machen. Sieh nur.«

Sie spitzte ihr Mündchen und schob langsam ein rosiges, dralles Kanälchen heraus.

»Das ist hübsch! Das kann ich nicht. Aber ich kann, was du nicht kannst, ich kann mit meinem Zünglein stechen!«

Blitzschnell warf sie ihre Arme um Annas Nacken und küßte sie hinter das Ohr.

Anna schrie auf. »Du hast mich gebissen!« Sie riß sich los und rieb die Stelle mit der Hand. Die Fremde lachte wie ein Kobold, und ihr Lachen klang so silbern und lockend, daß Anna wohl oder übel mitlachen mußte.

Als die Kinder ausgelacht hatten, griff Anna wieder in ihre Kirschen und schmauste eine.

»Hast du keine Lust? Greif nur zu.«

»Kirschen?« sagte die andere nachlässig. »Eigentlich mag ich keine. Doch – du kannst mir einige geben.«

Anna teilte ihren Vorrat und gab ihr die Hälfte in ihren Schoß hinüber.

Ihr Gast fing zu essen an.

»Weißt du«, meinte die Fremde, »von dem Zeug wird man nicht satt. Hunger hätte ich schon. Wenn ich Geld hätte, kaufte ich mir da drüben Bonbons und ein Stück Brot. Aber ich bin so arm wie unser Sambo.«

»Wer ist denn euer Sambo?«

»Das ist unser Neger.«

»Ihr habt einen Papagei und einen Neger?«

»Oh, wir haben noch viel. Sage, hast du kein Geld bei dir?«

»Ach nein, ich habe nichts mehr. Aber ich muß mein Hörnchen noch haben. Wo ist das hingekommen?«

»Da, unter der Bank liegt es«, sagte das fremde Kind, hob das Backwerk auf und legte es in Annas Schoß.

»Wir wollen es redlich teilen«, sagte Anna.

»Oh, du wirst wohl allein damit fertig werden.«

»Aber du hast vielleicht größeren Hunger als ich.«

Anna schaute auf und sah die brennenden Augen des Kindes, die das Brot verschlangen. »Seit wann hast du nichts gegessen?«

»Seit heute früh!«

»O du Arme, und ich hab' ein so gutes Mittagessen gehabt, Rindfleisch und Reis. Da hast du das Hörnchen.«

»Aber willst du denn gar nichts davon?«

»Wenn du erlaubst, so will ich hier das braune Gipfelchen herunterbeißen, das esse ich fürs Leben gern. So, alles andere gehört dir.«

»Du bist ein süßer Schatz. Soll ich dich küssen?«

»Nein, nein, nein!« rief Anna und setzte sich an das andere Ende der Bank.

Und nun wurde es für ein Weilchen still unter der Akazie. Anna schmauste ihre Kirschen, und das fremde Kind stillte seinen Hunger.

»Wie kommt es denn, daß du heute nichts zu Mittag bekommen hast?« fragte Anna, als beide fertig waren.

»Ach, das ist eine dumme Geschichte. Sie sind fort und haben mich vergessen.«

»Wer ist fort? Dein Vater und deine Mutter?« fragte Anna erschrocken.

»Ach nein, der Chef und die Onkels und die Madame und die Ponys und der Sambo und die große Pauke und der Papagei und alles miteinander.«

Anna machte große Augen.

»So Sachen seid ihr? Und fürchtest du dich denn nicht, ganz allein zurückzubleiben?«

»Ah bah!«

Sie hatte einen Kirschenstein auf die Rücklehne der Bank gelegt und schleuderte ihn fort.

»Heute nacht ist Kleiderappell. Da merken sie's, daß ich fehle, und morgen früh kommt Onkel Abraham und holt mich ab.«

»Wer ist Onkel Abraham?«

»Unser erster Clown. Onkel Abraham ist ein Ehrenmann.«

»Hast du auch einen so sonderbaren Namen?«

»Hier heiße ich Anita.«

»Anita? Klingt das schön! Ich heiße nur Anna.«

»Vor drei Wochen habe ich Nikolajewna geheißen, da waren wir in Nancy. In vierzehn Tagen werde ich Ninon heißen, da sind wir in Warschau.«

»Ja, aber was ist denn dein wirklicher Name?«

»Einen wirklichen Namen, den habe ich gar nicht.«

»Wie sagt denn deine Mutter zu dir?« »Eine Mutter hab' ich nicht, Dummkopf! Freilich hab' ich eine Mutter gehabt. Jeder Mensch hat einen Vater und eine Mutter. Weißt du das noch nicht? Aber mein Vater ist da, und meine Mutter ist dort.«

Sie warf ihre beiden Händchen nach den entgegengesetzten Seiten.

»Ich hab' auch keine Eltern mehr«, sagte Anna. »Sie sind beide tot. Jeden Sonntag geh' ich mit dem Großvater auf ihr Grab ... Komm, Anita«, sagte sie plötzlich mit leiser, erschrockener Stimme. »Der Mann dort ist mein Großvater. Jetzt hat er sich auf die nächste Bank gesetzt, und in einer kleinen Weile kommt er zu unserer herüber. Sehen kann er nicht, aber er hört furchtbar gut. Siehst du, wie er aufhorcht? Er darf nichts von mir merken, wir wollen leise wegschleichen.«

Anita machte ein pfiffiges Gesichtchen und nickte. Die beiden Kinder faßten sich an der Hand und schlüpften in den Stadtgarten hinein. Sie flatterten wie zwei Vögelchen die Kieswege entlang, von Gebüsch zu Gebüsch. Erst als der ganze Park zwischen ihnen und dem Blinden lag, hörten sie auf zu huschen und wandelten nun Hand in Hand in aller Gemächlichkeit die Vorstadt hinaus.

»Da bin ich noch nie gewesen«, sagte Anna.

»Aber ich!« rief Anita. »Das große Haus dort ist eine Kaserne, und wenn wir daran vorbei sind, kommen die schönen Wiesen und der Fluß. Dort wollen wir hin und wollen baden.«

»Aber das ist verboten. Es ist uns in der Schule verkündigt worden, daß es verboten ist, im freien Fluß zu baden.«

»Das gilt nur denen, die sich erwischen lassen. Wer sich nicht erwischen läßt, darf alles tun, was verboten ist.«

»Ja, aber ...«

»Wenn unser Chef etwas verbietet, dann darf man es nicht tun, denn unser Chef erwischt jeden, er ist ein Genie. Aber wenn die Madame etwas verbietet, dann darf man es tun, denn die erwischt niemand. Wer hat es denn verboten, daß man nicht baden soll? Die Polizei?«

»Ja, wahrscheinlich.«

»Dann dürfen wir's tun, die Polizei erwischt uns nicht.«

»Aber mein Großvater würde mich schelten.«

»Dann dürfen wir's erst recht tun, denn der erwischt uns auch nicht, und wenn wir ihm vor der Nase ins Wasser plumpsen. O du! Warum bist du denn deinem Großvater durchgebrannt? Ich weiß warum. Weil du tun willst, was er dir verboten hat.«

»O nein«, erwiderte Anna heftig und schüttelte ihr Köpfchen. Und dann erzählte sie ihrer neuen Freundin, was ihr widerfahren war.

Anita hörte aufmerksam zu.

»Oh, bist du dumm!« rief sie, als der Bericht zu Ende war. »Warum bist du denn nicht nachgegangen? Der Hirschbrunnen liegt dort hinten im Wald. Ich habe zwei Wegweiser gesehen. Komm, wir kehren um, gehen miteinander hin. Ich zeig' dir den Weg, und du nimmst mich mit.«

Anna kam in Verlegenheit.

»Ich weiß nicht, ob es sein kann. Es darf niemand dabei sein, als wer in die Sonntagsschule geht.«

»Aber ich bin doch ein fremdes Kind, da werden sie mich doch nicht fortjagen. Wenn meine Leute hier wären und ich brächte dich zu ihnen, so wären sie alle freundlich gegen dich, Onkel Abraham und die Madame und Sambo und Fräulein Lucie, das ist unsere jüngste Reiterin und eine Schönheit ersten Ranges, und selber der Chef. Da werden deine Leute doch auch gegen mich freundlich sein? Komm, wir springen hin!«

Anna war blutrot. »Es geht wohl doch nicht recht. Ja, wenn meine Lehrerin allein...«

Sie fühlte Anitas spöttischen Blick und brachte kein Wort mehr heraus.

Anita blieb stehen.

»Geh jetzt zu deinem Großvater zurück, und ich will sehen, wo ich die Nacht bleibe.«

Anna schüttelte heftig den Kopf.

»Das will ich auch sehen, wo du die Nacht bleibst, und eher geh' ich nicht heim, bis ich weiß ...«

Sie legte den Arm um Anitas Nacken.

»Ja, was willst du denn machen, wenn es Nacht wird?«

»Ich will einmal sehen, ob das Heu noch auf der Wiese liegt wie gestern. Wenn es nimmer da ist, dann geh' ich auf die Polizeistube im Rathaus, und ich sage: Da bin ich. Dann fragt mich einer aus, und ich sage, was ich mag. Dann bringt mich ein Schutzmann ins Armenhaus. Der Verwalter ist ein schnauzbärtiger, knurriger Mann, er tut grob, aber meint es gut. Der bringt mich in die Küche, dort bekomme ich einen Teller Suppe und ein großes Brot. Dann kommt eine alte Schwester mit einem dicken roten Gesicht voller Narben und mit einer weißen Haube. Die führt mich die Treppe hinauf in ein Kämmerlein. Da ist eine Badewanne drinnen mit warmem Wasser. Da werd' ich hineingesteckt. Wenn ich heraussteige, sind meine Kleider nimmer da. Ich bekomme ein graues, grobes Hemd und einen roten Unterrock, der ist mir viel zu groß, und einen weißen Kittel, der ist mir viel zu lang, und ein Paar mächtige Schlappen an die Füße, und dann schlurf' ich durch einen langen, langen Gang, und der Kittel schleift hinter mir her. So komm' ich in einen großen Saal, da schlafen alte Weiber drinnen und allerhand Mädchen. Und die Schwester führt mich vor ein Bett und sagt: ›Hier sollst du schlafen.‹ Und ich schlüpfe aus den Schlappen und dem Unterrock und dem Kittel und husche ins Bett. Wenn ich dann morgen früh aufwache, dann höre ich, wie draußen im Gang vor der Tür Onkel Abraham und der Verwalter miteinander reden.«

»Woher weißt du denn das alles so genau?«

»Weil ich's schon zweimal erlebt habe, einmal in Itzehoe und einmal in Ulm an der Donau. Aber in Basel, da war's fein! Wenn das Heu noch liegt, dann mach' ich's wieder so wie in Basel.« Die Kinder gingen am Flusse hin. Zu ihrer linken Seite waren Villen mit zierlichen Vorgärtchen. Die Straße erstreckte sich noch lang hinaus und mündete auf einen Wiesenplan.

»Wie ist denn das? Erzähl einmal«, sagte Anna.

»Ich treib' mich herum, bis es Nacht geworden ist, dann geh' ich hinaus auf die Wiese. Da liegen hohe, dunkle Haufen, das ist Heu. Ich such' mir einen aus und steige hinauf. Oben sitzt ein schwarzer Kater und macht funkelnde Augen. Aber dann mach' ich auch so Augen, und wir glotzen und glühen einander an. Endlich bekommt der Kater Angst und steht auf und macht einen hohen Buckel und knurrt. Dann knurr' ich auch, und meine Augen werden immer größer und sprühen Funken wie Feuer unterm Blasbalg, und so rück' ich dem Kater auf den Leib. Da graut es ihm, und er macht einen mächtigen Satz vom Heu hinunter und huscht über die Wiese davon. Dann wühl' ich mir ein warmes Loch und lege die Arme unter den Kopf und schau' zum Himmel hinauf. Ich fange an, die Sterne zu zählen, bis ich hundert habe. An denen habe ich genug für heut. Dann decke ich mir das Gesicht mit Heu zu und blinzle hindurch nach dem Himmel, wo er am hellsten ist. Und der Mond steigt auf und schaut zu mir herein. Dann mach' ich mir einen hohen Wall gegen den Mond und mache die Augen zu und schlafe. Früh morgens, wenn der Himmel blaß wird und die Sterne davongehen, wache ich auf, denn die Wachtel ruft. Und ich krabble aus dem Heu und hol' mir's aus den Haaren und gähne und strecke mich. Die ganze Wiese ist voller Dunst. Ich ziehe die Schuhe und Strümpfe aus, denn das Gras ist naß vom Tau, und springe hinunter an den Fluß. Hinweg mit den Kleidern und hinein ins Wasser! Da schwimm' ich hinauf und hinab, mit den Forellen um die Wette. Und wenn das Morgenrot durch die Weiden leuchtet, such' ich meine Kleider und zieh' sie an. Was die Mähder und Mähderinnen gucken, wenn ich auf einmal aus dem Erlengebüsch auftauche. Sie stehen alle da und schauen zu mir her, aber niemand redet ein Wort. Ich glaube, sie halten mich für einen Elf und fürchten sich. So spring' ich an ihnen vorbei, und die Schellchen an meinen Schuhen klingeln, und sie sehen mir nach, bis ich in der Stadt verschwunden bin. Ich spring' in die erste Bäckerei hinten hinein, wo die Backknechte stehen, und sage: ›Ich bin ein vergessenes Kind und habe Hunger, gebt mir ein Brot.‹ Sie schauen einander an, und der größte greift in den Korb und gibt mir einen Doppelweck. Den ess' ich auf im Gehen. Dann lauf' ich durch die Straße auf den Marktplatz und geh' in die Wachtstube und frage den Schutzmann, der auf der Pritsche liegt und sich die Augen reibt: ›War der Onkel Abraham schon da?‹ ›Nein‹, sagt er und setzt sich und läßt die Beine herunterhängen. ›Dann will ich hier auf ihn warten‹, sag' ich; ›aber lieber draußen, hier ist die Luft so dick.‹ Und ich setze mich auf die steinerne Bank vor der Wachtstube und sehe den Tauben zu, wie sie am Marktbrunnen Wasser trinken, und nach einem kleinen Weilchen ist der Onkel Abraham da.«

»Oh, das ist herrlich!« rief Anna, und ihre Augen leuchteten. »Da möchte ich wohl dabei sein.«

»So komm mit, komm mit! Sieh, das Heu ist noch da! Dort der dritte Haufen in der zweiten Reihe ist der größte. Da steigen wir miteinander hinauf und legen uns hin und schlingen die Arme umeinander und graben uns hinein. Komm, komm!«

Aber Anna blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Wenn ich nicht heimkäme, bliebe mein Großvater die ganze Nacht auf der Bank sitzen und wartete. Horch! – Hörst du nicht?«

Sie deutete über die Wiese hinweg nach dem Walde.

»Ich höre Gesang, wie er aus eueren Kirchen schallt. Aber es sind lauter Kinderstimmen.«

»Sie sind es, sie kommen. Jetzt muß ich zu meinem Großvater springen, denn wenn sie an ihm vorbeiziehen und ich komme nicht auf ihn zugelaufen, dann vergeht er vor Angst. Behüt dich Gott, Anita.«

Sie streckte ihr die Hand hin.

»Ich gehe mit dir«, sagte das fremde Kind.

»Du? Was willst du bei mir?« fragte Anna und machte große Augen.

»Willst du nicht bei mir sein, so will ich bei dir sein heute Nacht.«

Anna zog die Stirn zusammen und sah vor sich nieder. Aber das dauerte nicht länger, als ein Vögelchen braucht, um vom Nest herunter auf den Boden zu fliegen und einen Strohhalm aufzuheben. Sie schaute Anita mit hellen, freundlichen Augen an und sagte: »Komm mit!« Die Kinder faßten sich an den Händen und sprangen miteinander in die Stadt zurück.

»Oh, ich glaube, ich glaube, wir kommen zu spät«, keuchte Anna und bückte sich vornüber. »Ich habe Seitenstechen.«

Da blieb Anita stehen. Sie schob mit ihrem Fuß einen Schotterstein vor die sich krümmende Freundin und sagte:

»Heb diesen Stein auf! Spuck auf den Boden und denke an etwas recht Abscheuliches!«

»An Gelberüben«, keuchte Anna.

»Ja. Und jetzt deck's mit dem Steine zu. So. Und jetzt noch einmal. Heb den Stein auf! Spucke! Ein Teller voll Gelberüben, recht alte, große, dicke, weißgelbe! Deck's zu. Und jetzt zum dritten Male. Du weißt's ja schon! Denk dir alle Gelberüben der ganzen Welt auf einem Haufen! Deck's zu! Wie geht dir's jetzt?«

Anna richtete sich auf und atmete tief.

»Kein bißchen Stechen mehr! Es ist ganz und gar vorbei.«

»Wir waren auch zu dumm, so zu rennen«, sagte Anita. »Sie sind dort drüben gewesen, wo die Föhren hinlaufen. Jetzt haben sie ja noch um die Schlucht herumzugehen. Wir können gemächlich machen und kommen doch noch recht.«

»Woher weißt du denn, daß dort eine Schlucht ist? Du warst doch nicht dort!«

»Aber ich hab' meine Augen im Kopf. Ich schau' die Sachen an, dann weiß ich's.«

Sie warf selbstbewußt ihr Köpfchen zurück, und die Schellchen an ihren Schuhen klingelten noch einmal so laut.

Sie waren in den Stadtpark gekommen und spähten die Wege entlang und suchten mit den Augen die Bänke ab.

Anna wollte gerade um den letzten Busch herumbiegen, da faßte sie Anita bei der Hand und flüsterte:

»Halt! Dort sitzt dein Großvater, auf derselben Bank, auf der wir deine Kirschen gegessen haben. Was er so steil sitzt!«

»Er horcht!« flüsterte Anna. »Er hat das Singen gehört und wartet auf die Tritte.«

»Du, ist dein Großvater geistlich?«

»Ja, halber. Er war Organist in der Petrikirche. Jetzt ist er pensioniert.«

»Er sieht bös und gut aus.«

Anna nickte. Dann legte sie ihrer Gefährtin den Arm um den Nacken und flüsterte ihr in das kleine Ohr: »Du mußt mir nachher helfen, ihn anzulügen.«

»Oh, das tu' ich furchtbar gern!«

Und nun saßen die beiden Mäuschen im Gebüsch dicht hinter dem alten Mann und warteten.

»Jetzt kommen sie!« flüsterte Anita.

»Nein«, sagte Anna und schaute über ihre linke Schulter. »Dummkopf! Du mußt nicht dort hinaus horchen! Sie müssen doch von daher kommen. Hörst du nicht das Gesumme?«

Und jetzt kam die Schar. Sie war schon aufgelöst. Gerade vor der Bank blieb der Haufen stehen. Einige Kinder verabschiedeten sich. Sie drängten sich um die Helfer und Helferinnen und gaben ihnen die Hand.

Der Blinde hatte sein Gesicht der Gruppe zugewendet. Er saß vornübergebeugt, beide Hände hatte er auf den Stock gestützt. Anna saß da wie ein Kätzlein, das springen will. Aber Anita hatte sie an ihrem Zöpfchen gefaßt und flüsterte: »Erst wenn ich sage: los!«

Jetzt war die Kinderschar weitergegangen. Ein Helfer und eine Helferin wandelten hinterdrein und gingen vorbei. Der Blinde war aufgestanden und tastete mit seinem Stock vorwärts. Seine Hand zitterte.

»Jetzt!« sagte Anita, und die Kinder sprangen um den Busch herum.

»Da bin ich, lieber Großvater!« rief Anna und ergriff seine Hand.

»Gottlob, daß du da bist. Ich hatte Sorge. Aber wo kommst du denn her? Bist du mit den anderen herunter gekommen?«

»Ich ... ich ...« stotterte das Kind.

Anita half ihr. »Wir haben Annas Freundin begleitet, die dort hinter dem Stadtgarten wohnt, und sind dann durch den Park zurück.«

»Was für eine Freundin?«

»Gertrud Habermann!« stieß Anna heraus.

Der Blinde hob den Stock in die Höhe und griff mit der linken Hand über Anitas Kopf in die Luft hinaus.

»Wer ist denn bei dir?« »Ich bin's«, sagte Anita, ergriff die Hand und küßte sie demütig.

»Ich heiße Anita und gehöre zu einer Gesellschaft von reisenden Künstlern. Meine Leute sind heute fort und haben mich vergessen. Ich bin traurig den Kindern nachgegangen in den Wald. Da kam Anna zu mir her und hat mich an der Hand zu ihrer Lehrerin geführt, und ich durfte bei den Kindern bleiben und mit ihnen spielen. Vorhin wollte ich von ihr Abschied nehmen und mir ein Nachtlager suchen im Heu auf den Wiesen. Aber sie hat mich nicht gelassen, sie hat gesagt, ich müßte mit ihr gehen, und ich dürfe daheim bei ihr schlafen. Mein Großvater ist so gut, hat sie gesagt, der wird Mitleid mit dir haben.«

Der alte Mann sagte nichts. Seine dünnen Lippen zogen sich in den Mund hinein. Anna wurde ängstlich.

Der Blinde betastete den Fremdling, ließ eine der schwarzen Locken prüfend durch die Finger gleiten und fuhr dann mit seiner spürenden Hand über ihren nackten Arm. Endlich tat er den Mund auf und fragte: »Bist du reinlich?«

Anita wurde blutrot, sie biß die Zähne aufeinander, und ihre Augen füllten sich mit zornigen Tränen.

»Reinlicher als Sie, alter Herr. Adieu!«

»Großvater, du bist abscheulich!« rief Anna, und ihre Stimme kämpfte mit dem Weinen. »Ihre Haut ist so blank wie eine frischgeputzte Fensterscheibe, und an ihren Kleidern ist kein Tädelchen. Wenn sie hinausgeht in den Wald und ihr ein Unglück zustößt in der finsteren Nacht, hast du die Schuld.«

Der Blinde stand mit vorgerecktem Kopf. Seine dünnen Lippen kamen aus dem Mund heraus und zitterten wie zwei Espenblättchen im Abendwind.

»Ruf sie zurück!« Anna sprang ihrer Freundin nach und führte die Widerstrebende her.

»Der Großvater ist bös und gut, wie du ja gleich gesehen hast. Das Böse ist jetzt sehr bald vorbei, und dann wird er gegen dich gut und lieb sein.«

So redete sie ihr zu und brachte sie vor den Alten. Der tastete nach ihrem Kopf und prüfte mit den Fingerspitzen.

»Anna sagt, daß du eine saubere Haut hast. Aber wie steht's mit deinen Haaren?«

»Oh, meine Haare!« rief Anita, zog das rote Seidenband und schüttelte sich. Die Löckchen sprangen um ihren Kopf herum wie ein Nudel wilder schwarzer Ziegenböckchen.

»Oh, wenn Sie sehen könnten, alter Herr! Meine Kopfhaut ist so blank wie ein funkelnagelneues Trommelfell, und meine Haare werden alle drei Tage von Fräulein Lucie mit Kölnischem Wasser gewaschen. Wenn unser Chef Sie gehört hätte, der hätte es Ihnen gehörig gesagt! Wir sind alle für die Reinlichkeit. Oh, wenn Sie morgen den Onkel Abraham sehen könnten! Wie ist der so proper und dabei so würdig! Nur der Neger Sambo, der ist nicht so sehr für die Reinlichkeit. Darum wird er auch oft gescholten von dem Chef, und wenn wir wieder nach Hamburg kommen, schaffen wir uns einen anderen Neger an.«

Sie band sich wieder ihr Band um die Locken und seufzte: »Nein, so was!«

»Wer ist der Onkel Abraham?« forschte der Blinde.

»Das ist der Herr, der mich immer sucht, wenn ich verloren bin. Der kommt morgen früh von irgendwoher mit dem ersten Zug und fragt nach mir auf der Polizei.«

»Es ist der erste Clown«, fügte Anna wichtig hinzu, »und ein Ehrenmann durch und durch, und Fräulein Lucie ist eine Schönheit ersten Rangs, und der Chef ist ein Genie. Wenn der Chef etwas verboten hat, dann erwischt er jeden, der's doch tut.«

»Ja, so ist's«, bestätigte Anita. Dann zuckte sie hochmütig die Achsel und sagte von oben herunter: »Darf ich mich jetzt bei Ihnen verabschieden, alter Herr?«

»Nein«, sagte der Blinde und tastete nach ihrer Hand. »Sondern du sollst mit uns gehen und bei uns bleiben heute nacht. Morgen früh führ' ich dich dann auf die Polizei.«

Anita faßte zögernd seine Hand.

»Und wollen Sie der Anna deswegen nicht böse sein und auch ein wenig freundlich gegen mich selber?«

»Kommt nur, es wird kühl«, sagte der Alte und ging vorwärts. »Ihr werdet es schon sehen, wie ich gegen euch bin.«

Und nun gingen die drei durch die Anlagen nach der Mitte der Stadt. Anita hatte die linke Hand des Blinden nicht losgelassen. Sie drückte mitunter die schmalen Finger und sah mit leuchtenden Augen nach den erloschenen Augen, und das Licht aus ihren dunkeln Sternen spielte so frohgemut hinauf, als wolle es da droben in den dunkeln Höhlen ein Licht anzünden. An der anderen Seite des Blinden schritt Anna dahin und sah glückselig in die Welt.

Vor einem Wurstlerladen machten die drei halt. Der Blinde ging hinein und kaufte das Abendbrot, Preßkopf und Wurst, »für zwanzig Pfennig mehr als gewöhnlich«, sagte er. Er gab dem Gaste das Päckchen zu tragen. Dann ging er in den Bäckerladen nebendran und kaufte ein langes Brot. Das bekam Anna anvertraut. Sie bogen um die Ecke und gingen in eine der engen, schmalen Gassen, die auf den Marktplatz münden.

»Die vierte Tür zur rechten Hand ist unsere Tür«, rief Anna ihrer Freundin hinüber. Sie gingen mitten in der Gasse, denn einen Bürgersteig gibt es hier nicht. Links von ihnen wurde eine Laterne angezündet, die einzige in der Gasse. Jetzt stieß der Blinde mit dem Stock die Tür auf. Langsam ging er die Treppe hinauf. Es war stockfinster. Aus einer Tür des ersten Stockes kam ein Lichtstreifen. Anita schaute in die Höhe, und es schwindelte ihr. Nun gingen sie noch eine Treppe hinauf, und noch eine, und eine vierte; der Alte ging langsam voran, dicht hinter ihm die flüsternden Kinder, die sich eng aneinander drängten, denn die Stiege war schmal.

»Jetzt sind wir ganz oben und daheim«, sagte Anna. »Es wohnt niemand außer uns auf diesem Boden.«

Der Alte zog einen Schlüssel aus der Tasche und schloß auf. Sie traten in eine schwarze, schwüle Finsternis.

Anita blieb nach dem ersten Schritt stehen und wartete auf Licht. Der alte Mann ging in der gleichen Sicherheit, mit der er die Treppe heraufgestiegen war, an dem fremden Kind vorbei durch die pechschwarze Nacht. Man hörte eine Tür gehen und den Blinden im benachbarten Raum hantieren. Jetzt hatte Anna die Lampe angezündet. Es war ein kleines, sauberes Gemach mit geweißten Wänden. Den beiden Fenstern gegenüber hing ein Spiegel, unter ihm stand ein altes Sofa. Der Kammer zugewendet, neben der Tür zum Gang, war eine hohe Spinde. Die Reformatoren in schwarzen Baretts und Kirchenröcken waren die einzigen seßhaften Bilder, denn die farbigen Blätter aus einem Modejournal, die mit Reißnägelchen an der Wand befestigt waren, führten offenbar ein Vagabundendasein. In der Mitte stand ein viereckiger Tisch, hinter der Spinde, im finstersten Winkel der Stube, Annas Bettchen.

Anita hatte sich ans Fenster gesetzt, das sie geöffnet hatte, und schaute über den gegenüberliegenden Hausgiebel zum runden, vollen Mond empor. Anna deckte derweilen den Tisch. Die Teller holte sie vom obersten Fach der Spinde herunter und die Bestecke aus der Tischschublade. Während ihres Geschäftes erzählte sie ihrer Freundin, woher das Wachstuch den großen, häßlichen Schaden habe, daß die Sackleinwand herausschaute, und sie erklärte, wo der Großvater sitze, und wo sie selber sitze, und wo der Gast zu sitzen habe.

Überdem tat sich die Tür auf, der Blinde kam herein und schleppte einen Spreuersack hinter sich her.

»Was tust du, Großvater?«

»Ich will deiner Freundin das Bett machen.«

»Aber Großvater, sie schläft doch bei mir, wir haben gut Platz zusammen in meinem Bettchen.«

»Schweig!«

Der Alte ging wieder in die Kammer hinein und kam nach einer Weile mit einem Leintuch und einer Decke zurück. Anna wollte ihm helfen, aber der Blinde schickte sie unwirsch weg. Er stopfte den Spreuersack in den Saum des Sofas, breitete das Leintuch darüber aus und legte die Decke darauf.

»Wo bist du, fremdes Kind?« fragte er dann mit hoher Stimme und schaute in die Stube hinein.

»Hier, am Fenster.«

»Das ist dein Bett. Als Kopfkissen kannst du das Sofapolster nehmen.«

»Ich danke tausendmal.«

»Du wirst aber im Schlaf herunterfallen. Wir wollen den Tisch davorstellen. Anna, hebe die Lampe hoch.«

»Aber Großvater, das können wir ja auch später machen, wenn wir gegessen haben.«

»Schweig!« sagte der Alte.

Anna zuckte die Achsel und machte eine unzufriedene Grimasse. Anita aber schaute mit forschenden Augen in das Antlitz des blinden Mannes. Als alles so hergerichtet war, wie er es gewollt hatte, schob er einen Stuhl vor den Tisch dem Sofa gegenüber.

»Du setzest dich rechts von mir, Anna, und du – wie heißt du?«

»Anita.«

»Und noch?«

»Hier heiß' ich bloß Anita.«

»Und dein Zuname?«

»Ja so. Anita, die kleine Grazie, Künstlergesellschaft Knie.«

»Ei was! Du sitzest hier neben dem Ofen an meiner rechten Seite. Hast du eben etwas zu Anna gesagt?«

»Nein.«

»Aber geflüstert?«

»Nein, nein.«

Anita setzte sich auf ihren Stuhl, Anna legte dem Großvater vor und bot ihrem Gaste an.

Das Mahl verlief schweigsam.

»Großvater«, fing endlich Anna an, »du hast mich ja noch gar nichts gefragt. Soll ich dir denn nicht erzählen, wie es heute am Kirschbrunnen gewesen ist?«

»Ei freilich.«

Anna bemerkte nicht die Gebärden, die ihr Anita über den Tisch hinüber machte. Der Versuch der Kleinen, ihre Freundin auf den Fuß zu treten, mißlang, denn der Alte hatte seine Beine dazwischen. Und so redete Anna darauflos all die Dinge, die sie sich ausgedacht hatte, ehe Anita zu ihr gekommen war. Der Blinde hörte zu, verzog keine Miene, und als Anna zu Ende war, sagte er: »So, so.«

»Der Herr Stadtpfarrer hat auch nach dir gefragt«, fing Anna wieder an, »und hat mir Grüße an dich aufgetragen.«

»Ich danke«, sagte der Blinde und zerkrümelte den Rest seines Brotes. Dann wandte er sich an Anita: »Hast du auch alles miterlebt?«

»Wir zwei waren den ganzen Nachmittag zusammen«, erwiderte sie schnell.

Der Alte nickte mit dem Kopf.

»Wasche die Teller und bring mir ein Wasser«, sagte er zu Anna.

»Ich will ihr helfen«, rief Anita und sprang auf.

»Nein, nein, bleib du nur sitzen und erzähle mir, was ich dich frage.«

Er hatte das Kind an der Hand gefaßt und hielt es auf dem Stuhle fest. Der Kleinen traten Tränen in die Augen.

Anna deckte den Tisch ab und trug die Sachen hinaus.

»Wie alt bist du denn?«

»Ungefähr so alt wie Anna.«

»Kennst du nicht die Zahl deiner Jahre?«

Anita schüttelte den Kopf.

»Antworte!«

»Ich weiß es nicht.«

»Wo bist du denn geboren?«

»In unserem gelben Wagen. Damals war's unser feinster. Jetzt schläft Sambo darinnen.«

»Wer ist deine Mutter?«

»Damals war sie unsere erste Reiterin. Sie heißt Juanita.«

»Wo ist sie jetzt?«

Anita seufzte und zuckte die Achsel.

»Wer ist dein Vater?«

Anita schwieg, und ihre Augen wurden groß und starr.

»Lassen Sie mich fort«, sagte sie auf einmal, »ich will auf der Wiese schlafen!«

Sie stand auf, schob den Stuhl so heftig zurück, daß er umfiel, und wollte an dem alten Mann vorbei. Der hielt sie an der Schulter fest und sagte:

»Bleib da! Ich will dich nichts mehr fragen.«

Er spürte mit seinen Fingern unter ihren Augen, und als er ihre Tränen fühlte, drückte er ihr Köpfchen an sich und sagte leise und mild:

»Du bist ein gutes, wahrhaftiges Kind. Du wirst süß bei uns schlafen, denn wir meinen's mit dir gut, und du hast ein gutes Gewissen.«

In diesem Augenblick kam Anna herein mit einem großen Glas frischen Wassers. Sie stellte es mit einem Seufzer auf den Tisch, führte die Hand des Blinden hin und sagte: »Großvater, da ist dein Schlaftrunk!«

»Danke! Zieht euch jetzt aus und legt euch zu Bett. Wenn ihr zur Ruhe seid, blase ich die Lampe aus.«

Die Kinder gehorchten. Anita legte ihre Kleider auf den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, streifte die Schellenschuhe von ihren Füßchen und stellte sie unter den Tisch. Dann stieg sie an der Lampe vorbei auf den Tisch und kletterte in ihr Bettchen hinein.

»Gute Nacht, alter Herr! Gute Nacht, Anna!«

Anna hatte sich neben ihrem Bette ausgezogen, aber verrichtete zwischenhinein noch dies und jenes im Zimmer, so daß sie erst eine Weile nach Anita zum Einschlüpfen fertig war. Barfuß sprang sie noch ans Fenster und band den offenen Flügel fest. Dann kam sie zu ihrem Großvater und faßte stumm seine Hand.

»Was willst du, Anna?«

»Dir gute Nacht sagen.«

»Gute Nacht, Kind! Glaubst du, daß du gut schlafen wirst?«

»Ich weiß es nicht, Großvater.«

»Geh jetzt zu Bett!«

Sie schlüpfte in ihr Lager, und der Alte blies die Lampe aus.

Er stand auf und ging im finsteren Zimmer auf und nieder.

»Großvater!«

»Was willst du?«

»Du hast mir noch nicht die Hand auf den Kopf gelegt!«

Der Blinde ging an ihr Bettchen und tat seiner Enkelin, was sie wollte.

»Danke, Großvater! Tu es Anita auch.«

Der Blinde trat an Anitas Lager, streifte mit den Händen darüber und legte sie leise auf das Lockenköpfchen. Das fremde Kind merkte nichts davon, es war eingeschlafen. –

Stunden waren vergangen. Der Mond war herniedergestiegen und schaute zwischen zwei Schornsteinen über die Gasse herüber in das Stübchen herein. Er sah, wie die Kammertür sich auftat und der Blinde hereinkam, völlig angekleidet. Der Mond legte seinen Schein breit auf die Diele und über den Tisch bis zur Spinde hin, und er mußte lachen über den phantastischen Schatten, der über den Ofen hinauf bis zur Decke stieg und dann wieder herunterhuschte und auf dem Boden hinlief und sich unter die Spinde verkroch. Aber bald hörte der Mond zu lachen auf und sah mild und träumerisch drein, denn der Blinde saß mit seiner Geige am Fenster.

Eine Weile hielt er sie im Schoß, dann hob er sie an den Backen und strich mit dem Bogen langsam über die Saiten. Die erloschenen Augen hielt er dem Monde zugekehrt, der das blasse Antlitz mit seinem Scheine übergoß. Der Geiger wartete eine kurze Weile, als ob er sich sammelte, und dann quoll aus den Saiten der Choral »Wer nur den lieben Gott läßt walten«; er flutete mächtig und mächtiger und erhob sich und wurde zu einer himmlischen Gestalt und schwebte langsam in die andächtige Nacht.

Die letzte Harmonie war verklungen. Der Mond schien noch einmal so helle, und der laue Nachtwind strömte am Fenster vorbei, so feierlich und stillbewegt wie ein Zug getrösteter Menschen, der aus dem Gotteshause kommt.

Der Blinde hatte die Geige in den Fensterwinkel gestellt und die Stirn auf den Sims gelegt. Der Mondschein flutete über sein weißes Haar und seinen gekrümmten Rücken.

Da huschte etwas hervor im Schatten längs der Wand, die linke Hand des Greises wurde leise gefaßt und an zwei Lippen gedrückt.

»Großvater!« hauchte es.

Der Alte richtete sich auf.

»Was willst du, Anna?«

»Ich habe dich heute angelogen.«

»Ich weiß es.«

»Ich war gar nicht dabei am Kirschbrunnen. Ich bin zu spät gekommen und fürchtete mich, allein nachzugehen. Zuerst bin ich noch bei dir auf einer Bank gesessen, dann hab' ich mir für die zehn Pfennig, die du mir geschenkt hast, Kirschen und ein Hörnchen gekauft. Dann ist Anita gekommen, und wir haben zusammen gespielt und sind spazierengegangen.«

»Habt ihr etwas Böses getan?«

»Nein, gewiß nicht, Großvater!«

»Warum bist du denn nicht sogleich zu mir gekommen?«

»Ach, Großvater, wenn so etwas ist, dann gehst du heim und schlägst den Kopf an die Wand und stöhnst so schauerlich. Davor hab' ich mich gefürchtet.«

Der Alte seufzte tief auf und erhob seine rechte Hand. Aber ehe er sie seinem Enkelkind auf den Kopf legen konnte, war etwas zwischen die Mauer und seinen Stuhl geschlüpft, seine Hand wurde ergriffen und an ein stürmendes Herzchen gedrückt.

»Großvater«, flüsterte Anitas Stimmchen, »oh, spielen Sie noch einmal den großen, süßen, traurigen, herrlichen Marsch!«

»Das war kein Marsch, liebes Kind, das war ein Lied, das wir in der Kirche singen. Es hat auch einen gar schönen Text. Anna soll ihn dir einmal sagen.«

Anna stand auf wie in der Schule und sagte das Lied her. Anita hörte ein Weile aufmerksam zu, aber bei der dritten Strophe verging ihr die Geduld. Sie griff nach der Geige und legte sie dem Alten in den Schoß. Dann holte sie den Bogen, der auf den Boden gerutscht war, und spielte ihn dem Blinden in die Hand. Und Annas Vortrag war knapp zu Ende, da bettelte das fremde Kind: »Oh, spielen Sie, spielen Sie!«

»Habt ihr keine Musik?«

»O doch! Und unser Chef bläst die Trompete wundervoll. Aber das von vorhin geht über alles.«

Da nahm der Blinde die Geige und spielte die schlichte Melodie des Chorals. Als er zu Ende war, blieb es stille. Auf einmal rief Anna: »Anita weint!« Der Blinde griff nach ihren Augen und spürte, wie die warmen Tränen herunterliefen. Da beugte sich der Alte hernieder und hob das Kind auf seinen Schoß. Es setzte sich auf sein rechtes Knie und schmiegte sich zärtlich an seine Brust. Nun kletterte Anna auf sein anderes Knie, und der Alte umfaßte beide Kinder. Die schauten sich einander in die Augen, Anna lachte, und Anita lächelte durch die letzten Tränen. Sie legte ihre Ärmchen um Annas Nacken und sagte: »Hab nur keine Angst, mein Züngelchen sticht nicht mehr.« Und die Kinder küßten sich.

Das alles sah der Vollmond, und er freute sich, und die silbernen Wellen seines Lichtes fluteten um die drei Gestalten.

Auf einmal rief Anita:

»Großvater, Sie sind ja noch gar nicht ins Bett gegangen! Und eben hat ein Hahn gekräht. Sind denn Hühner in der Nähe, mitten in der Stadt?«

»Schief gegenüber von uns wohnt ein Geflügelhändler«, sagte Anna.

»Der arme Kerl!«

»Der? Der ist reich!«

»O du! Ich meine den Hahn! – Aber, Großvater, ich weiß auch, warum Sie nicht zu Bett sind! Anna, das hättest du mir sagen sollen; ich kann doch nicht wissen, wie's mit euerm Bettzeug steht! Sie haben mir Ihr ganzes Bett gegeben, Großvater, und haben drinnen nichts als das leere Holz.«

Sie war vom Schoß heruntergesprungen und hatte in die Kammer hineingeschaut.

»Gelt, so ist es!«

Sie sperrte die Tür weit auf und rückte den Tisch vom Sofa weg.

»Komm, Anna, sei nicht so langweilig und hilf mir, damit dein Großvater zur Ruhe kommt.«

Und nun schleppten die Kinder den Spreuersack in die Kammer. Anna ging voraus und hatte den Zipfel über den Kopf gezogen, Anita ging hinten und hatte das dicke Ende mit ihrem Ärmchen umfaßt.

Der Mond war gerade im Begriff, hinter das Dach hinunterzutauchen. Aber er streckte sich, um in die Stube hineinzuschauen. Es war auch ein lieblicher Anblick, die wirtschaftenden Kinder. Beide waren barfuß und nur mit dem Hemdchen bekleidet.

Annas Nachthemd war für die Zukunft geschneidert und für ein ungeheiztes Zimmer. Es reichte bis auf den Boden, und die langen Ärmel meinten, auch die Finger gehörten in ihre Welt, und der Hemdenpreis rutschte so hoch hinauf, als der Kopf erlaubte. Er schloß sich so hauswirtschaftlich herum, wie ein Gummiring um einen Flaschenhals. Anitas Hemdchen aber war nach einem leichtfertigen Muster geschnitten, für loses Volk und für den heißen Tag. Es reichte bis kaum zu den Knien und war vorne und hinten tief ausgeschnitten, und die Ärmel waren ganz vergessen.

Der alte Mann saß auf dem Stuhl am Fenster. Er hatte sich vom Mond abgekehrt und horchte dem Treiben der Kinder. Dabei murmelte er leise Worte und wischte mit dem Rücken der linken Hand über die Augen.

Jetzt kamen die zwei von der Kammer herein, mit erhitztem Gesicht und fliegendem Atem.

»So, fertig wär's!« sagte Anna, und Anita nahm den Blinden bei der Hand und zog ihn vom Stuhl.

»Wir haben Ihnen das Bett gemacht, Großvater, und wenn Sie jetzt nicht köstlich gut schlafen, dann ist es abscheulich von Ihnen.«

Die Kinder führten ihn im Triumph in die Kammer hinein.

»Ihr seid lieb, ihr seid lieb«, murmelte der alte Mann.

»Gute Nacht, Großvater!« riefen sie jetzt.

»Und du hast mir verziehen?« sagte Anna und hob ihre Lippen zu der Wange des Blinden. Anita aber drückte einen Kuß auf seine Hand.

»Gute Nacht, Kinder!«

»Gute Nacht!« rief es aus der Stube zurück. Es raschelte und huschelte von Annas Bettchen her, in das die Kinder miteinander gestiegen waren. Es wurde still.

»Gute Nacht«, sagte jetzt auch der Mond und schlüpfte vollends hinter das Nachbarhaus. Da wurde es auch finster in der Kammer und in der Stube. – –

Der Tag hatte in der Glut der Sonne und im Lärm der Straßen seinen stillen, taufrischen Morgen schon längst vergessen und war gerade daran, die kleinen Mädchen, die am längsten ausschlafen müssen, in die Schule zu treiben, als unsere drei Freunde zu gleicher Zeit erwachten. Es klopfte an die verschlossene Tür, und eine barsche Stimme rief:

»Schutzmannschaft hier! Aufmachen!«

Anna erschrak bis in den Tod und zog sich die Decke über den Kopf. Anita aber war aus dem Bett gesprungen und zog sich in fliegender Eile an.

»Gleich, gleich!« rief ihr glockenhelles Kehlchen.

»Das ist sie!« sagte draußen eine fette, behagliche Stimme. »Anita!«

»Onkel Abraham!«

»Sie brauchen sich nicht länger zu bemühen, sie ist es«, hörte man von draußen.

»Na denn, das war rasch abgemacht. Adieu!«

Einer von den beiden Männern entfernte sich. Man hörte ihn noch lange die Treppe hinunterpoltern.

Anita schloß die Tür auf und öffnete einen Spalt.

»Onkel!«

»Kind, Kind! Gottlob, daß wir dich haben!«

»Du kannst noch nicht herein. Anna und der Großvater liegen noch zu Bett. Kannst du nicht in einer halben Stunde wiederkommen? Aber wie hast du mich denn so schnell gefunden?«

»Der Schutzmann hat dich gestern abend mit dem Herrn Organisten gesehen.«

»Also in einer halben Stunde!«

»Gut, ich gehe derweilen auf den Wochenmarkt und betrachte die Frühlingsgemüse, die interessieren mich sehr. Empfiehl mich derweilen. Auf Wiedersehen!«

Onkel Abraham entfernte sich, und Anita verschloß wieder die Tür.

Eine halbe Stunde später saßen die drei beim Frühstück, gewaschen und gestrählt. Auch das Zimmer war in schönster Ordnung. Sie waren fleißig gewesen, die beiden kleinen Mädchen. Es traf sich gut, daß Anna heute morgen bis zehn Uhr zu Hause bleiben durfte, weil eine Lehrerin erkrankt war.

Sie waren mit ihrem Mahle fertig, und die Kinder saßen dem Blinden gegenüber Hand in Hand. Da klopfte es schüchtern an die Tür, und ein hochgewachsener älterer Mann trat herein. Er hatte ein glattrasiertes, wohlwollendes Gesicht und leicht ergrautes kurzes Haar. Der lange, schwarze Gehrock gab ihm etwas Ehrwürdiges, und wenn er auch nicht gerade wie ein Pastor aussah, so doch etwa wie ein Reiseprediger, der die Brüder hin und her aufsucht, feierliche Händedrücke verabreicht und erbauliche Ansprachen hält.

»Das ist unser erster Clown, Onkel Abraham«, sagte Anita und schaute in strahlendem Stolz an dem Manne hinauf.

Der schüttelte dem Blinden lange die Hand und dankte in wohlgesetzten Worten für die Barmherzigkeit, die er dem fremden Kinde getan habe. Dann begrüßte er in der gleichen Feierlichkeit die kleine Anna.

»Und nun nehmet Abschied! In einer halben Stunde geht unser Zug.«

Anita ging auf den Blinden zu und bedeckte seine Hand mit Küssen. »Leben Sie wohl. Sie lieber, teurer, unvergeßlicher Großvater!« Dann umschlang sie leidenschaftlich ihre weinende Freundin.

»Sie haben wunderschöne Artischocken hier auf dem Gemüsemarkt«, sagte Onkel Abraham zu dem Blinden. »Auch die Radieschen sind wunderschön. Aber den Kopfsalat habe ich gestern in Frankfurt besser gesehen, mehr entwickelt und vor allem interessantere Sorten!«

Unterdessen hatte Anita ihre Korallenkette von ihrem braunen Hälschen heruntergenommen und legte sie der tief errötenden Anna an. Diese drückte verlegen ihr Taschentuch mit den schönen Spitzen in Anitas Hand.

»Das stammt von meiner seligen Mutter!« flüsterte sie.

Die Kinder umarmten sich noch einmal und küßten sich.

»Wenn wir wieder in die Gegend kommen, dann schau' ich vom Seil herunter nach dir und rufe: ›Anna, bist du da?‹ Wir sind vielleicht schon ganz groß geworden. Dann rufst du: ›Anita, ich bin da!‹ Und ich winke mit dem Taschentuch, und du hebst das Kettchen hoch. Dann spring' ich herunter vom Seil, und wir umarmen uns.«

Anna sagte nichts, sie hatte nur Tränen. –

Als die beiden Fremdlinge die Treppe hinuntergingen, begegnete ihnen zwischen dem zweiten und dem dritten Stock ein Zuckerbäckerlehrling, der eine köstlich duftende Torte trug.

»Ganz oben auf dem Boden, die erste Tür links!« sagte der Clown. »Halt einmal. Junge!«.

Er steckte dem Burschen eine halbe Mark in die Tasche seines weißen Wamses und sagte:

»Droben kein Trinkgeld nehmen!«

Sie gingen unter den Bäumen der Anlage dem Bahnhof zu. Anita hatte die Hand des Mannes ergriffen und schlich trübselig an seiner Seite.

»Großvater! Onkel!«

»Was willst du?«

»Ich bin müde – trage mich!«

»Wo nicht gar! Was werden die Leute sagen! So ein altes, großes Ding!«

»Onkel Abraham, wenn du mich lieb hast, dann trage mich!«

»Bist du krank?«

»O nein, aber –«

Da wurde es dem heimatlosen Manne wunderlich zumut. Er beugte sich nieder und hob das Kind an seine Brust. Anita legte die Arme auf seine Schulter und schmiegte ihr Gesichtchen an seine Wange.

»Ist es gut so, Kind?«

Sie gab keine Antwort.

»Freust du dich auf deine Ponys und den Papagei und den Neger Sambo und Fräulein Lucie? Wir haben dich alle so lieb.«

Anita schwieg.

»Nun?«

»Ein wenig freue ich mich«, flüsterte sie.

»Weinst du, Kind?«

»Ein wenig, ja.«

Da mußte sich der starke Mann auf eine Bank setzen, denn er zitterte, und das Herz tat ihm weh.


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