Adolf Schmitthenner
Heidelberger Erzählungen
Adolf Schmitthenner

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Feuer

Am Waldrande, da, wo der Rote Reisig in die Talschlucht hinuntersteigt, hauste einer, dem man nicht gern begegnete, und um dessen Hütte man auch dann in weitem Bogen herumgegangen wäre, wenn er nicht so wütende Hunde gehabt hätte. Das war ein Mann, der konnte mehr als Brot essen. Seine Vorfahren waren lauter Schinder gewesen, und er selber war auch so etwas. Auch Scharfrichter kamen unter seinen Ahnen vor.

Er ging sonst nicht unter die Leute. Aber eines Abends trat er zu Sensenbach im Schwanen in die Wirtsstube. Man schaute ihn verwundert an, das Gespräch verstummte; als er sich an den Tisch setzte, rückten die Nachbarn von ihm weg. Er saß eine Weile still für sich. Auf einmal sagte er mitten in das Gespräch hinein:

»Eine Urururgroßmutter von mir ist zu Fürfeld als Hexe verbrannt worden. Meine Ururgroßmutter ist als junges Weib dabeigestanden. Da ist ihr eine Flamme vom Scheiterhaufen in den Leib gefahren. Darum sind alle aus meinem Geschlecht fürs Feuer gezeichnet.«

Während er so erzählte, hielt er die geballte Faust auf dem Tisch. Die Umsitzenden sahen mit Grausen, wie die Flamme in der Ampel sich zu ihm hinbog, und die Frau Wirtin bemerkte, daß sich der blaugraue Ring, den er am Daumen trug, bewegte, als ob er ziehender Rauch wäre, und sie behauptete später steif und fest, sie habe deutlich gesehen, daß eine Maus aus seiner Hand geschlüpft und über den Tisch gelaufen sei, als er sich erhob, um das Zimmer zu verlassen.

Hinter ihm war es still in der düsteren Stube, die Leute schauten sich an, keiner mochte ein Wort sagen. Da winkten sich zwei von den Tischgenossen zu, beherzte Männer, und gingen ihm nach. Im Hof war er nicht. Als sie aber aus dem Hof auf die Gasse hinausgingen, sahen sie einen langen Schatten auf dem mondhellen Weg, und wie sie um die Ecke bogen, sahen sie den Alten regungslos mitten auf der Gasse stehen und zum Giebel der Scheune hinaufschauen.

»Was seht Ihr denn dort oben?« riefen sie ihm zu. Da schrak er zusammen, wie wenn er aus einem Traum erwache. Dann ging er auf den Brunnen zu, zog ein weißes Tüchlein aus der Tasche, hielt es unter die Brunnenröhre, bis es triefend naß war, und so schob er es unter sein Wams und sein Hemd auf die bloße Haut.

Hierauf ging er wieder in die Wirtsstube. Alle Köpfe wandten sich ihm zu. Die beiden Männer aber, die hinter ihm hereingekommen waren, sahen deutlich, daß, als er sich auf seinen alten Platz setzte, die Flamme in der Ampel ein wenig zitterte und dann kerzengerade in die Höhe stieg, so daß es noch einmal so hell in der Stube wurde, als es vorher war.

Er bestellte sich den zweiten Schoppen.

Als ihm die Wirtin das volle Glas hinstellte, faßte er sie bei der Hand und sagte:

»Heut möcht' ich bei Euch bleiben!«

Das junge Weib schüttelte seine Hand ab.

»Lasset mich in Ruh!«

Darauf wurde er lustig und fing an zu singen. Zuerst tat ihm niemand Gesellschaft, denn es war ein Lied, das noch keiner gehört hatte. Die Burschen aber merkten auf den Kehrreim und sangen ihn schließlich mit:

»Zwei Flammen
Schlugen zusammen.
Wo?
Ha ha ha ha!
Im Heu und im Stroh.«

Derweilen schaute die Frau Wirtin immer wieder nach der Hand, die der Alte vorhin gepackt hatte; die Männer aber, die um den runden Tisch saßen, waren in ihrem Gespräch mit einemmal auf das Brennen gekommen. Sie erzählten sich vom letzten großen Brand, und was da ein jeder erlebt hatte. Darüber wurde es drei Viertel auf elf Uhr, und die Feierabendglocke schlug an. Ein Schreck fuhr durch jedes Gemüt.

»Es ist Feierabend«, sagte einer. »Ich habe gemeint, es brennt«, sagte sein Nachbar.

Die Männer tranken langsam ihre Gläser aus, der Alte aber, der das seine schon geleert hatte, klopfte mit ihm auf den Tisch und rief:

»Frau Wirtin, noch einen Schoppen!«

Die Wirtin tat, als höre sie nicht.

»Frau Wirtin, noch einen, noch einen Schoppen!«

Und er fing zu singen an:

»Heut geh ich aber gar nimmer heim!
Heut bleib ich da!«

Die Wirtin, die seit einer Weile mit Schauder bemerkt hatte, wie die Flamme der Ampel sich wieder zu ihm hinüberneigte, raffte die leeren Gläser zusammen und sagte:

»Geht Euers Wegs! Ihr habt eine weite Strecke!«

Er aber sang:

»Und er zieht sie an der Hand,
Auf der Leiter,
Immer weiter –«

Damit griff er nach der Hand der Wirtin, die gerade die Gläser vom Tisch aufhob. Die Wirtin zuckte zurück, wie man vor einer Flamme, die aus dem Ofen schlägt, zurückfährt, und die Gläser fielen klirrend auf den Boden.

»Jetzt aber ist's genug«, sagte der Bruder der Wirtin und ging auf den Mann zu. »Zahlt Eure Zeche und die zerbrochenen Gläser und geht zum Haus hinaus!«

Der Alte griff in die Tasche, und während er die Münzen auf den Tisch legte, sang er:

»Zum Haus hinaus.
Komm, Grete,
In die Scheuer hinein.
Komm, Grete,
Die Leiter hinauf.
Komm, Grete,
Im Heu und Stroh
Brennt's lichterloh!
Ha ha ha ha!«

»Jetzt hol' ich den Hund!« sagte die Wirtin.

Sie eilte die Stiege hinauf in die Kammer, wo ihr großer Hund bei den Kindern schlief, bis sie selber zu ihnen kam.

Als sie mit dem bellenden Hund heruntereilte, rief ihr der Bruder zu: »Halt den Hund zurück, daß es kein Unglück gibt; er geht schon allein.«

Der Alte wankte gerade die Tür hinaus. Der Hund schnupperte hinter ihm her und kam winselnd zurück zu seiner Herrin. Die Geschwister standen unter der Haustür und sahen dem Manne nach, der wie ein Schwerbetrunkener auf die Straße taumelte.

»Hat er denn so viel getrunken?« fragte der Bruder.

»Gott bewahre! Zwei Gläser Birnenmost, und von unserem gewässerten. Aber schau, was will er denn dort?«

Der Alte taumelte auf die Scheune zu und hielt sich mit beiden Händen an dem Tor. Als er wieder fest stand, rüttelte er an der verschlossenen Tür und rief:

»Da will ich hinein, da muß ich hinein, drin muß ich sein!«

Da griff ihn der Bruder, der ein stämmiger Mann war, am Kragen, schleppte ihn zu dem Brunnen und hielt ihm den Kopf unter die Röhre, bis die Kleider vom Wasser trieften, dann gab er ihm einen Stoß und rief:

»Geh heim wie ein begossener Pudel, du Lump!«

Der alte Mann war auf den Boden gefallen und lag unbeweglich. Der Hund, den die Wirtin am Halsband hielt, tobte und wollte sich auf den Liegenden stürzen. Der aber stand langsam auf, langte nach seiner Mütze, die neben ihm auf der Straße lag, und ging hinkend davon.

Die beiden sahen ihm nach, bis er hinter der Ecke verschwunden war.

»Bleibe bei mir heute nacht«, bat die Schwester ihren Bruder. »Ich habe noch nie so Angst gehabt vor dem Brennen wie heute.«

Der Bruder wollte sie beruhigen. Haus und Hof und Scheune seien verwahrt. Aber die Schwester flehte ihn an, ihr den Willen zu tun.

»Siehst du, wie es wetterleuchtet? Ich fürchte mich sonst nicht vor dem Gewitter; aber wenn heute nacht eins kommt, werd' ich vergehen vor Angst.«

Da bekam der Bruder Mitleid mit seiner Schwester. Er dachte daran, daß sie keinen Gatten mehr habe. Er sah die schwarze Scheuer an und horchte nach der Richtung hin, wo die Schritte des Alten verhallt waren.

»Ich will heute nacht bei dir bleiben und wachen. Aber ich will zuerst heim und meine Flinte holen.«

»Die Flinte nützt doch nichts wider den Blitz«, sagte die Schwester.

»Den dort fürcht' ich mehr als den Blitz«, erwiderte der Bruder. »Schließ das Haus zu und halte den Hund bei dir, in einer halben Stunde bin ich wieder da.«

Er ging rasch die Straße hinauf und beschleunigte seinen Schritt, denn Flamme auf Flamme zuckte über den Himmel, und es donnerte in der Ferne.

Die Wirtin aber ging in das Haus zurück, schloß die Tür zu und setzte sich an das Fenster, an dem sie, einer stehenden Verabredung gemäß, das Klopfen des zurückkehrenden Bruders erwartete. Ihr Hund legte seinen Kopf auf ihren Schoß und schaute sie an.

Als sie das Grollen des Donners vernahm, eilte sie, die Ampel in der Hand und von dem Hunde begleitet, in die obere Stube und weckte ihre zwei Kinder aus dem Schlaf; das ältere zog sich selber an, derweilen sie das jüngere in fliegender Eile ankleidete. Dann nahm sie das Bübchen auf den Arm, das schlaftrunkene Mägdlein folgte ihr nach, und so kehrte sie in die untere Stube zurück.

Sie setzte die Ampel auf den Tisch, hob das Kindchen in sein Stühlchen und befahl dem größeren, sich zu ihm zu setzen und den Arm um sein Köpfchen zu schlagen. Dann setzte sie sich wieder an das Fenster. Der Hund war ihr bei all ihren Gängen und Verrichtungen auf dem Fuße gefolgt, und es tat ihr wohl, wo sie ging und stand, seine Schnauze hinter sich zu fühlen. Und jetzt stand er wieder vor ihr, legte den Kopf auf ihr rechtes Knie, das dem Fenster zunächst war, und schaute sie mit funkelnden Augen an. Sie aber blickte bald auf den Hund, bald schaute sie zum Fenster hinaus, und jedesmal, wenn ein Blitz die Erde beleuchtete, stand, grell vom Schein umrissen, die hohe schwarze Scheune vor ihren Augen.

Wie sie auch wieder einmal auf ihren Hund niederschaute, bemerkte sie, wie dessen Augen sprühten; mit wütendem Gebell fuhr er an ihrem Gesichte vorbei, setzte die Vorderpfoten auf den Fenstersims, knurrte und fletschte die Zähne.

Jetzt hielten die Wirtin und der Hund den Atem an, und die junge Frau hörte deutlich ein Geräusch, wie wenn an der gegenüberliegenden Scheune eine Leiter angelegt würde. Auch der Hund mußte es gehört haben, denn er erhob ein wütendes Gebell. In diesem Augenblick erhellte ein Blitz die Nacht, und die Wirtin sah deutlich in seinem Lichte eine hohe Leiter, die bis zum Firste des Giebels hinaufragte. Sie hatte eisernes Beschläg in ihrer Mitte, und daran erkannte sie die Leiter des Hofbauern, der im letzten Hause gegen den Roten Reisig zu wohnte. Die Leiter hing sonst in einem offenen Schuppen, und hundertmal hatte sie sie da hängen sehen.

Was will denn der Hofbauer an unserer Scheuer? dachte sie, und heiße Angst kam über ihr Herz. Da klopfte es an die schwarze Fensterscheibe.

»Heinrich, du bist es schon?« rief sie und öffnete froh. Aber welch ein Entsetzen, als eine heiße Hand hereingriff und sie am Knöchel packte, und eine heisere Stimme ihr zuraunte:

»Komm mit, komm mit
Die Leiter hinauf!
Im Heu und im Stroh
Geht's heute nacht noch lustig zu!«

Der Schreck lähmte ihr Sinne und Kraft. Der Hund sprang an ihr vorbei zum Fenster hinaus auf den Unsichtbaren los, aber mit einem Gemisch von Wutgeheul und Angstgewinsel fiel er an ihm nieder und verschwand in der Finsternis.

Da zischte der Alte:

»Es ist die allerhöchste Zeit!« ließ die Hand los und sprang vom Hause hinweg.

Im Lichte des nächsten Blitzstrahls sah sie den Mann, wie er hurtig die Leiter hinaufkletterte. Eine Weile säumte das Wetter, ein heißer Wind fegte die Straße her und schlug das Fenster zu und auf. Jetzt wieder ein Blitz, und Blitz auf Blitz, und die Donner rollten über dem Hause zusammen. Die Frau schaute nach der Scheuer hinüber und sah den Mann, wie er rittlings auf dem Firste saß, die grauen Haare wehten im Wind, und die hageren Arme streckten sich in den Glast hinein.

Der Glast erlosch, und schwarze Nacht hatte alles geschluckt. Da sang es vom Firste her:

»Zwei Flammen
Schlagen zusammen!
Wo?
Ha ha ha ha!«

In das gellende Lachen hinein schlug eine Lohe aus dem schwarzen Himmel. In Glut und Licht vergingen der Frau die Sinne. Sie wurde in die Mitte des Zimmers geschleudert. Als sie aus ihrer Betäubung erwachte, hielt sie ihre beiden Kinder umfangen. Die Stube war taghell erleuchtet, der Regen rauschte hernieder, und aus der Scheune stieg still und hehr eine Feuersäule gen Himmel.


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