Adolf Schmitthenner
Heidelberger Erzählungen
Adolf Schmitthenner

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Hilarius Hochwart

Sein Vater war ein Korbflechter und wohnte im letzten Häuschen gegen Sensenbach zu. Wunderlieblich hängt's an der Berglehne; oben der Tannwald, unten der Bach. Windschief freilich sind die Wände, und der Giebel ist durch einen Balken gestützt. Aber gerade das sei so malerisch, hat das Fräulein aus der Stadt gesagt; sie gäbe viel drum, wenn sie in einem windschiefen Häuschen mit gestütztem Giebel wohnen dürfe. Und sorgfältig kletterte sie die steinerne Leiter hinauf, die, aus rohen Felsblöcken zusammengefügt, von der Landstraße zum Häuschen führt. Als sie droben war, kam sie an einer geschlossenen Tür und an einem niedrigen Fenster vorbei. Im Vorüberwandeln lugte sie durch die Scheiben und sah in eine schattige, leere Stube hinein. Auf dem großen Tisch in der Mitte tanzte ein Sonnenvögelchen. Sie ging weiter. Ihr Strohhut nahm eine Spinnwebe mit, die von einem Stallfenster herunterhing. Mit hochgehobenem Kleid spazierte das Fräulein den Pfad hin zwischen Dunghaufen und Scheunenwand und stieß auf ein niederes, in den Berg gemauertes Ställchen. Hier war der freie Fleck etwas größer, darum ließ das Fräulein ihr Kleid fallen. Sie wandte sich um, lehnte sich an das hölzerne Türchen und stieß einen Ruf des Entzückens aus.

Es ist auch gar zu hübsch, das Tälchen bis zur Mühle hinauf.

Dort kommt der Postwagen, der uns gestern hergebracht hat, dachte das Fräulein; wie sah da alles so staubig aus durch die staubigen Fenster, und wie ist jetzt alles so goldig! Aber am herzigsten ist es hier oben. Wenn Papas Halsleiden überhand nimmt, so daß er sich pensionieren lassen muß, weil er kein Kolleg mehr lesen kann, dann muß er sich hier oben eine Villa bauen, noch ein wenig weiter hinauf; ich denke, wir werden gute Nachbarschaft halten mit denen da drinnen.

In diesem Augenblick wäre fast ein Unglück geschehen. Während nämlich das Fräulein in Gedanken den Papa überredete, sich hier oben anzusiedeln, war es nach seiner Gewohnheit mit dem Rücken ein wenig hin und her gerutscht und hatte den Riegel der Stalltür zurückgeschoben. In dem Stall aber war ein feuriges Schweinchen eingesperrt, das erst vor einer Stunde vom Sensenbacher Markt gekommen war. Wie der Sturmwind brach das Tierchen heraus und wollte sich mit aller Gewalt den Weg durch das Fräulein hindurch bahnen, halb quiekend, halb grunzend.

Für den Augenblick war das Fräulein arg erschrocken; aber in seiner angeborenen Tapferkeit wankte und wich sie nicht von der Stelle, wie wenn sie darauf vereidigt gewesen wäre, das Schweinchen nicht herauszulassen. Zum Glück bemerkte selbiges nicht, daß des Fräuleins Rock unten aufhörte, und drückte immer geradeaus. Sein Widerpart aber schlug das rechte Bein, auf dessen Wade das Rüsselchen aufdrückte, hurtig über das andere Bein und beugte sich ein wenig nach links hinüber: da glitt das stemmende Schweinchen ab und schoß halbrechts an dem Fräulein vorbei auf den Dunghaufen los. Wie es hinaufkletterte, so hurtig mit den Vorderbeinchen fußelnd und so wacker mit den Hinterbeinchen stemmend!

Jetzt war es oben, und hast du mich gesehen – ist es auf der anderen Seite hinuntergepurzelt, und wie ein dicker Sonnenstrahl schoß es den Berg hinab, und auf und davon.

»Gott sei Dank«, sagte das Fräulein und faltete die Hände, »es ist so sauber, wie wenn es sich gewaschen hätte!« In der Tat, das Tierchen war zum Streicheln blank. Jetzt lief es drunten auf der Straße spornstreichs dem Postwagen entgegen. Kurz vor den Pferden machte es rechtsum und verschwand im Straßengraben. Der Postknecht schaute links zurück, bis ihn ein Birnbaumast in den Nacken schlug, ein Reisender deutete mit dem Regenschirm zum hinteren Fenster hinaus, ein anderer ließ flugs das Seitenfenster hinab, steckte den Kopf durch und sagte: »Dort ist es.«

Was von diesen Vorgängen von der Berglehne herab zu erspähen war, wurde von dem Fräulein mit großer Aufmerksamkeit betrachtet. Aber da, jetzt ward es im Häuschen lebendig, und wie! Ein Büblein sprang heraus, fünf Spannen hoch. Wie vorhin das Schweinchen kletterte es auf den Dunghaufen, es hielt Ausguck, glitt lautlos hinab und jagte den Berg hinunter. Nach ihm kam ein ander Büblein zur Haustür heraus, ein bißchen kleiner, kletterte, glitt und sprang dem Bruder nach. Dann trippelte ein kleines Mädchen heraus, an dem Dunghaufen vorbei, die Treppe hinunter. Dann kam wieder ein Bub, und noch einer, und wieder ein Mädchen, und noch vier, Buben und Mädchen, immer eines nach dem anderen. Das Fräulein schlug vor Verwunderung die Hände zusammen. Was geht doch alles in so ein Häuschen hinein! Und jetzt kam der Vater, ein großer Mann mit struppigem Bart. Er mußte sich bücken, um durch die Haustür zu kommen. Er hielt die Hand vor die Augen und spähte hinunter; dann humpelte er langsam die Treppe hinab. Das Fräulein bemerkte, daß er einen Klumpfuß hatte. Jetzt möchte ich auch noch die Frau sehen, die so viele lebendige Kinder geboren hat, dachte das Fräulein und blickte voll Verlangen nach der Haustür. –

»Wenn unser Säulein ein Schimmel wird.
Dann werd ich ein Offizier«,

sang eine frische Stimme, und ein Bursch trat heraus, etwa so alt und so groß wie das Fräulein. Es war ein bildhübscher Kerl, rotbackig, blauäugig, mit langen blonden Locken.

»Oho«, sagte er und wandte sich dem Fräulein zu. Keines von den anderen hatte nach rechts hinübergeschaut.

»Sie sind daran schuld; Sie haben's herausgelassen.«

»Ihr müßt Euer Getier besser ziehen«, sagte das Fräulein und sah dem Knaben aufmerksam ins Gesicht.

Da lachte der Junge, daß die weißen Zähne blitzten. »Ich hab's ihm auf dem ganzen Wege vorgesagt, aber es lernt so schwer.«

»Was hast du ihm vorgesagt?«

»Wenn dich die bösen Mädchen locken, so folge ihnen nicht.«

Das Fräulein lachte.

»Woher weißt du, daß ich ein böses Mädchen bin?«

»Ein guter Baum kann nicht arge Früchte bringen. Du hast unser Schweinchen herausgelassen. Warum hast du das getan?«

Jetzt duzt er mich auch noch, dachte das Fräulein, und etwas hochnäsig sagte sie: »Was kümmert mich eure Ökonomie? Ich habe mir nur die Aussicht betrachtet.«

Der Knabe folgte ihrem Blick und rief: »Soeben haben sie's!

Der Vater greift in Hosensack
Und holt heraus den kleinen Pack,
Es ist ein Strick von Hanf und Werg,
Das ist dem Säulein überzwerch.«

»Du bist ja ein Dichter!« sagte das Fräulein verwundert. »Wie heißt du denn?«

»Hilarius Hochwart bin ich genannt.
Elf Geschwister sind mit mir verwandt.«

»Hochwart! So möcht' ich auch heißen!« rief das Fräulein neidisch. »Wir heißen nur Möller.«

Der Bube lachte über sein ganzes Gesicht.

»Heirate mich, dann heißt du auch Hochwart.«

Das Fräulein hob unwillkürlich das Kleid, wie vorhin, wo sie an dem Dunghaufen vorübergegangen war, warf das Näschen in die Höhe und schielte von oben herunter.

»Wie alt bist du?«

»Ein Jahr älter als du.«

»Woher weißt du, daß ich dreizehn Jahre alt bin?«

»Hat dir heute morgen der Kaffee geschmeckt?«

»Sehr gut; aber warum fragst du so dumm?«

»Trinkst du Milch zum Kaffee?«

»Halber, aber warum –«

Der Knabe ging einen Schritt auf das Fräulein zu und stieß mit der rechten Hand die Tür zum Viehstall zurück.

»Ho, Bleß!« rief er hinein; im Halbdüster erblickte man das Hinterteil einer Kuh und einen wedelnden Schwanz. Ein behagliches Brummen tönte aus der Finsternis.

»Sieh, daher haben Pfarrers ihre Milch«, sagte der Bursche und zog die Stalltür wieder zu. »Rat einmal, wer die Kuh gemolken hat!«

»Du?«

Er nickte, daß ihm die Locken über die Stirn flogen. Das Fräulein sah dem Buben auf die Hände, sie waren sauber und auffallend zart.

»Jetzt weiß ich auch, warum die Magd gestern nacht so lange beim Milchholen weggeblieben ist. Das war einmal ein Lebtag in der Küche!«

»Gelt, sie ist gezankt worden?«

»Die Magd? Und wie! Die kann einmal zanken!«

»Ist sie deine Tante?«

»O nein, so was wie eine Schulfreundin meiner Mutter.«

»Drum«, sagte der Knabe nachdenklich und nickte mit dem Kopfe. »Sie duzen sich!«

»Das weißt du von der Magd. Das ist nicht recht von euch, ihr hättet sie nicht aufhalten und ausfragen sollen.«

»Oho! Wir schicken niemand fort, dem's bei uns gefällt, und wenn sich jemand setzen will, so ist noch Platz da.«

»Ihr habt noch Platz!« rief das Fräulein verwundert und schlug die Hände zusammen. »Wie macht ihr das nur? Wo seid ihr denn vorhin alle gesteckt? Ich habe zum Fenster hineingesehen, es war niemand in der Stube.«

»Wir waren in der Küche, die Mutter kocht Heidelbeermus, da haben wir zugeschaut.«

»Ihr alle?« rief das Fräulein über die Maßen verwundert. »Hör einmal, du, deine jetzige Mutter ist nicht deine rechte Mutter?«

»Was sagst du da?«

»Sie ist deines Vaters zweite oder dritte Frau?«

»Gott bewahre, seine erste!«

»Ach, ist's möglich!«

Als der Knabe keine Antwort gab, wurde das Fräulein rot und sagte: »Und dein Vater, der war auch dabei in der Küche?«

»Ja, der auch, und ich habe –«

Was er so hübsche Locken hat, dachte das Fräulein, und: »Hör einmal«, unterbrach sie ihn, »du bist zuletzt aus dem Hause gekommen und bist bei einem fremden Mädchen stehengeblieben. Du hast zwei schlimme Eigenschaften.«

»Welche denn?«

»Du bist faul. Du hättest den anderen weit voraus sein müssen, euer Schweinchen zu fangen.«

»Ich?« sagte der Junge mit eigentümlichem Ton und hob den rechten Fuß in die Höhe: der war mißgestaltet wie bei dem Vater.

»Oh!« rief das Fräulein und wurde schrecklich verlegen; »das habe ich ja gar nicht bemerkt!«

»Nicht?« rief der Bursche erfreut, »und warum denn nicht?«

»Weil du so hübsche Locken hast und überhaupt –« Das Fräulein brach ab. »Sieh, das ist dein zweiter Fehler. Warum hast du deine Haare nicht kurz geschnitten wie die anderen Bauernbuben? Du bist eitel.«

»Wenn ich meine Locken nicht hätte, dann hättest auf meine Füße gesehen und hättest nicht mit mir reden mögen«, sagte er, und Tränen traten ihm in die Augen.

Er verbarg seinen verkrüppelten Fuß hinter dem gesunden.

»O doch, Hilarius, doch«, sagte das Fräulein und griff nach seiner Hand.

In diesem Augenblick war die Familie Hochwart mit dem wiedereroberten Schweinchen oben am Hause angekommen.

»Zottelbär, ich hab's gefangen«, rief einer der Kleinsten dem Bruder zu, und dann stimmte er kräftig mit ein in den Chor der übrigen: »Oing, oing, ß, ß, huß, huß!«

Durch diesen spornenden Gesang entflammt, stürmte das Schweinchen in den schmalen Weg zwischen Viehstall und Dunghaufen und gerade auf das Fräulein los in der Absicht, diesmal das Hindernis von vorn zu nehmen.

»Zottelbär, sag dem Fräulein, es soll dem Säulein Platz machen«, brummte der Alte.

»So, Vater«, lachte der Junge, »jetzt fängst du auch zu dichten an – Fräulein und Säulein ist ein guter Reim.«

Das Säulein hob das Rüsselchen in die Höhe, das Fräulein kreischte vor Angst und sah sich ratlos um. Was sollte es tun? Es konnte doch nicht über den Dunghaufen klettern!

»Komm, Therese«, sagte Hilarius, wand sich an dem Schweinchen und an ihr vorbei und schlüpfte zwischen dem Schweinestall und der Scheuer hindurch. Das Fräulein zog die Augenbrauen zusammen und rümpfte das Näschen, als er sie beim Vornamen nannte, aber sie folgte ihrem Führer nach.

Er gab sich Mühe, ordentlich zu gehen. Therese sah, wie sein Körper vor Anstrengung zitterte.

Sie schritten durch ein Gemüsegärtchen, das zwischen der Scheune und der Berglehne lag. Dann führte der Pfad jenseits des Feldwegs, von dem aus die Scheuer ihre Zufahrt hatte, ziemlich steil auf die Höhe hinauf durch einen Baumgarten einem anderen Feldweg zu. Der hatte in der Mitte tiefe Furchen, aber an der Seite gegen das Tal zu eine schmale grasige Borde. Auf der gingen die Kinder.

Das Fräulein schaute zurück und dachte: Warum führt er mich nicht den unteren Weg, der näher ist? – Aha, dort unten brauchte ich keinen Führer. – Das ist doch hübsch von ihm! Sie betrachtete ihn und sagte sich: Der Arme hinkt viel schlimmer als sein Vater.

»Willst du nicht lieber umkehren?« fragte sie nach einer Weile. »Deine elf Geschwister lassen sonst nichts vom Heidelbeermus übrig; ich finde den Weg schon allein.«

»Oh, ich esse sie lieber frisch, weißt du, immer eine gehäufte Handvoll auf einmal. Ich stecke solange in den Mund, bis nichts mehr hineingeht; dann fang' ich erst zu essen an.«

»Du, so mach' ich's mit den Johannisbeeren«, sagte das Fräulein. »Ich presse die Lippen fest zu und wühle mit der Zunge drin herum; das ist köstlich.«

Der Bursche blieb stehen. »Geh du voraus, es wird mir dann leichter, zu reden.«

Er wartete, bis Therese an ihm vorübergegangen war, dann ticktackte er hinterdrein; wie eine schiefgehängte Wanduhr, dachte sie. Der Weg verschwand vor ihnen im tiefen Korn, aber man konnte seinen Lauf verfolgen, wenn man mit den Augen die dunkelgrünen, von grauem Steingeröll eingefaßten Hecken aufsuchte. Er senkte sich in das Tal und nach Wetbachhausen hinab.

Das Mädchen ging ganz langsam und brach hier und dort eine Blume vom Ackerrand.

»Therese ist auch ein schöner Name«, hub der Knabe auf einmal an. »So hat die Frau geheißen von Hermann dem Deutschen.«

»Oh, die hieß ja Thusnelda!« rief das Fräulein. »Thusnelda?« fragte Hilarius und besann sich. Er war stehengeblieben. Dann humpelte er hastig nach, und als er wieder bei dem Fräulein war, fing er an, wie wenn er die Scharte auswetzen müsse:

»Die klugen Mädchen aus der Stadt,
Die schaffen nichts als Ungemach.
Therese sperrt den Schweinstall auf.
Da springt das Säulein schnell heraus.
Der Vater kommt mit einem Seil
Und bindt's dem Säulein an das Bein
An das Bein – an das Bein.
Das ist dem Säulein überzwerch.«

»So hast du vorhin schon einmal gedichtet«, spottete Therese.

Aber Hilarius ließ sich nicht irremachen. Er fuhr fort:

»Und kommt das Fräulein wieder her.
Dann geht sie in die Stub hinein – Stub hinein –«

»Du bist ja ein Weltsdichter! Reim dich, oder ich freß dich!«

»... Stub hinein.
Dann mach ich meinen schönsten Reim!«

rief Hilarius erfreut.

Therese schaute blitzschnell nach ihm zurück. Dann bückte sie sich und brach eine schöne große Kornblume für ihren Strauß.

Hilarius war beglückt, daß ihr der Schluß gefallen hatte, und selbstgefällig erzählte er:

»Vorhin, als wir alle miteinander in der Küche gestanden sind und der Mutter zugeschaut haben, wie sie Heidelbeermus gekocht hat, hab' ich auch ein Gedicht gemacht. Soll ich's sagen?

Mit dem Rechen und Hafen
Durch Gebirg und Tal
Kommt die Lene gezogen
Früh im Morgenstrahl.«

»Mit dem Hafen, das versteh' ich«, unterbrach ihn Therese; »da kommen die Heidelbeeren hinein. Aber warum mit einem Rechen?«

»Ja, weißt du, da werden die Beeren mit abgestreift.«

»So? Jetzt will ich dir aber auch etwas sagen. Mit Ausnahme von dem Hafen und dem Rechen hast du das ganze Gedicht dem Friedrich von Schiller gestohlen.«

Hilarius wurde blutrot, und seine Lippen zitterten. »Er war ja gar nicht adlig«, rief er mit einer vor Zorn erstickten Stimme. Er bezwang sich und fuhr fort: »Friedrich Schiller hat er geheißen; so steht in unserem Lesebuch.«

»Sein Großherzog wird ihn wegen seiner Verdienste geadelt haben«, sagte Therese von oben herunter.

»Was liegt mir daran?« schrie der Bube unartig. Er blieb stehen und drehte sich um.

Auch Therese war stehengeblieben. Sie wandte ihr Köpfchen halb zu ihm zurück und sagte:

»Hilarius von Hochwart klingt auch nicht übel. Wer weiß, ob dich nicht einmal der Großherzog wegen deiner berühmten Gedichte adelt.«

»Hilarius von Hochwart!« schrie der Bube und setzte sich an den Rain. Er wollte zerplatzen vor Lachen.

Therese pflückte neben ihm Blumen.

»Sag einmal, wenn du genug gelacht hast, wie kommst du denn zu dem schönen Namen Hilarius? Ihr heißt doch sonst Michel oder Jockel.«

»Ich hab' den Namen von meinem Vater geerbt, den Namen und den Fuß.«

Der Junge streckte übermütig das mißgestaltete Bein hinaus. Therese wandte den Kopf weg. Er sah dies und zog rasch den Fuß zurück.

»Von deinem Vater hast du den Namen geerbt?« wiederholte sie, um etwas zu sagen.

»Ja, und der von seinem, und so weiter. Mein Urururgroßvater und alle vor ihm waren dort droben – siehst du dort die Mauer auf dem Berge zwischen den Tannen? Dort ist ein Turm gestanden vor alter Zeit, dort haben unsere Vorleute gewohnt oben in der Turmstube, einer nach dem anderen, immer der älteste, und haben hinausgeguckt, und wenn die Kroaten kamen und die Franzosen, haben sie ins Horn geblasen. Drum heißen wir Hochwart. Aber sie haben auch geblasen, wenn die ersten Schwalben kamen. Dann hat der Lehrer Ferien gemacht, und der Schmied hat seinen Kammer in den Winkel geschmissen, und der Knecht hat seine Kühe ausgespannt, und sie zogen alle unter die Linde zum Tanz. Und weil meine Vorleute so die Lustbarkeit einbliesen und den Sommer, drum heißen sie alle mit dem Vornamen Hilarius. Hilarius heißt auf deutsch ein lustiger und lustschaffender Mann.«

Therese hatte das Gefühl, daß ihr Übergewicht verloren sei. Um es wieder herzustellen, fing sie an:

»Du... du...«

Sie setzte wieder ab.

»Was denn?«

»Vor acht Tagen sind wir Geheimrats geworden.«

Sie hatte es pfeilgeschwind herausgesagt und wurde rot, wie wenn sie etwas Schändliches geredet hätte. Die Enthüllung machte keinen Eindruck.

»So?« sagte Hilarius, und nach einer Weile fügte er hinzu: »Das ist mein Onkel auch.«

»Dein Onkel?« rief Therese bestürzt. »Vielleicht Hofrat! Aber Geheimrat? Nimmermehr!«

»Doch. Und er ist der Dienstälteste auf dem Rathaus. Er kommt gleich hinter dem Bürgermeister. Letzthin ist er auch Waldmeister geworden. Zweimal hat er im Sommer den Gemeindewald zu begehen; da kriegt er Diäten.«

»Mein Vater hat in diesem Semester fünfzig Zuhörer«, sagte Therese darauf.

»Und mein Vater bekommt an Weihnachten hundert Wellen. Die gehören nicht zu seinem Bürgernutzen, die kriegt er extra, als Besoldung.«

Therese wußte nicht, daß die zusammengebundenen Reisigbüschel Wellen heißen. Aber sie wollte nach der Bedeutung des Wortes nicht fragen. Sie ärgerte sich so sehr über sich selber, daß ihr die Tränen hinter den Augen standen. Sie setzte sich zu dem Knaben an den Rain, tat den Strohhut vom Kopf, wischte sich mit dem Taschentuch über die erhitzte Stirn und schaute nach dem Berg hinüber, auf dem der Wartturm gestanden hatte.

»Hilarius«, fragte sie nach einer Pause, »möchtest du, daß es heut noch wäre wie in alter Zeit?«

»Und wie!« rief der Knabe lebhaft. »Da droben brauchten sie meine Füße nicht, nur meine Augen und meinen Mund. Ich wollt' Ausguck halten! Und wenn du mit der Postchaise angefahren kommst, dann wedelst du mit dem Sacktuch, und ich blase ins Horn: Die Schwalben sind da, und der Frühling kommt! Dann steigst du aus dem Postwagen heraus, und die Leute ärgern sich.«

Das Fräulein zog ihr Taschentuch und grüßte wie zur Probe nach dem Berggipfel zu.

»Horch einmal«, sagte der Bursche, »ob der Hilarius Hochwart ins Horn bläst!«

Die beiden hielten die hohle Hand ans Ohr und lauschten. Sie hatten sich die Gesichter zugewandt und lachten einander an.

»Vielleicht ist ihm das Horn verstopft.
Er bläst und bläst sich einen Kropf.«

»Pfui! Du!«

»Er schläft vielleicht in guter Ruh
Und raucht eine Pfeif' Tabak dazu.«

»Oder er dichtet!« spottete Therese.

»Er dichtet einen schönen Vers
Und ... und ...«

»Hör auf!« rief das Fräulein und hielt sich die Ohren zu.

»So rede du!«

sagte der Bursche beleidigt,

»Dann halt' ich mir die Ohren zu.«

»Sei nicht unartig!« rief das Fräulein; »sag mir lieber, seit wann wohnt ihr nicht mehr oben auf dem Turm?«

»Ha, seit der Turm nicht mehr oben auf dem Berg steht. Meine Vorleute haben sich dann immer noch zu oberst hin gemacht; von unserem Haus sieht man ins Tal und auf den Berg, wir sind noch rechte Hochwarte.«

»Du, wenn du so sprichst, das gefällt mir viel besser, als wenn du dichtest. Und warum sagst du immer denn ›meine Vorleute‹? Es heißt ›Vorfahren‹.

»Ach was, das ist mir einerlei. Das ist alles dummes Zeug!«

Hilarius stand tief gekränkt auf und ging, ohne sich nach seiner Gefährtin umzusehen, den Weg weiter.

Dreißig Schritte mochte er etwa fortgehumpelt sein, da warf er sich an den Rain, auf der anderen Seite des Feldwegs, drehte Therese den Rücken und schaute das Tal hinab. Das Mädchen sah links hinüber nach dem Mauerrest auf dem Wartberg. Eine Weile war das so. Dann stand Therese auf und ging, Blumen suchend, querfeldein. In weitem Bogen umkreiste sie den trutzigen Jungen. Viel weiter unten kam sie auf den Feldweg, ein Liedchen summend, ging sie darüber, stieg den hohen Rain hinauf und in denjenseitigen Kleeacker hinein. In weitem Bogen schlenderte sie rückwärts, bald hier bald dort eine Blume pflückend. Nicht weit von Hilarius war sie wieder auf den Feldweg gestoßen und ging nun, den Strohhut im Kreise wirbelnd, oben am Ackerrande hin. Als sie vor dem Knaben stand, tat sie, als ob sie erschrecke.

»Ach, da bist du ja!«

Hilarius wandte sich nicht um. Mit dem gesunden Fuße schlug er den Rain.

»Hör doch einmal zu stampfen auf«, sagte Therese. »Da, jetzt hast du mir die schönste Weinbergsnelke zusammengeschlagen, du dummer Bub!«

Der Fuß ruhte jetzt, aber der Knabe sah noch immer das Fräulein mit dem Rücken an.

»Du könntest nach einem vierblättrigen Kleeblatt herumgucken, derweil ich meine Blumen ordne«, hub Therese wieder an und setzte sich bequem neben Hilarius auf den Rain.

Ihr Nachbar wollte sich erheben.

»Herumgucken, nicht herumlaufen, du dummer Bub!« sagte sie, ohne vom Schoß aufzublicken.

Jetzt brach auch Hilarius das Schweigen.

»Du bist aber grob!« meinte er.

»Du bist grob, sonst würdest du mir nicht den Rücken drehen. Ist das nicht dort ein Vierblättriges, dort neben dem weißen Hölzchen? Was sollen denn die Hölzchen bedeuten, die ja überall im Boden herumstehen. Und dort drüben wäre ich ein paarmal fast über Weidenruten gestolpert, die wie ein Brückenbogen in die Erde gesteckt sind. Was ist denn das?«

Hilarius war versöhnt.

»Das sind lauter Mausfallen.

»O was!«

»Und weißt du, wer sie gestellt hat?«

»Du?«

Der Knabe nickte. »Mein Vater hat mir den Gewann gegeben oben vom Wald bis zur Landstraße hinunter. Drüben auf der anderen Seite besorgt er's.«

»Was denn? Die Mausjagd?«

Therese rückte um ein Merkliches weg.

»Oh, mein Vater ist ein Angestellter; er ist verpflichtet.«

»Als Mausfänger?«

»Freilich.«

»Und das willst du auch einmal werden?«

Therese holte ihr Kleid herüber und drückte es zwischen die Knie hinunter.

»Oh, es sind gar keine gewöhnlichen Mäuse.«

»Ratten!« schrie Therese und biß mit einer Grimasse die Zähne aufeinander.

»So schrei doch nicht so! Es sind schöne, sanfte, kohlrabenschwarze Spitzmaus mit einer großen Scharrhand. Damit wimmeln sie im Boden herum, und wenn die Sonne warm scheint um die Mittagszeit, dann stoßen sie herauf, daß die Erde aufspritzt.«

»Maulwürfe meinst du! Aber die sind doch nützlich?«

»Ja, wenn's nicht zu viele sind. Aber schau einmal dort den Acker an, der ist ja ganz grindig vor lauter Erdhaufen. Und drunten die Wiesen sehen ganz krätzig aus.«

»O pfui du! Aber sag, wie fangt ihr sie denn?«

»Die einen hängen wir an den Galgen, und die anderen spießen wir tot.«

»O pfui, o pfui!« rief Therese und hielt sich die Ohren zu, aber nicht lange.

»Wie macht ihr denn das?« fragte sie voll lüsternen Grausens und rückte ganz nah an ihren Gefährten.

»Hast du die gespannten Bogen gesehen? Da ist unten in der Erde eine Schlinge daran. Wann die Scharrmaus heraufstößt, fängt sie sich drin, und der Bogen schnellt in die Höhe, und der Dieb hängt am Galgen.«

»Leben sie dann noch lange?«

»Ich hab' noch keine gefragt.«

»Und wie macht ihr denn das mit dem Totspießen?«

»Das ist eine Falle, die steckt im Boden drin. An den weißen Holzstäbchen, siehst du, dort ist sie festgemacht. Wenn die Scharrmaus stößt, dann fährt eine dicke Nadel heraus, so lang wie eine Hand, und spießt den armen Kerl durch und durch. Da ist er gleich tot.«

Therese schauderte.

»Das könnt' ich nicht«, sagte sie.

»Was?«

»Den toten Maulwurf vom Spieß herunterziehen. Brr!«

Auch durch den Körper des Knaben lief ein Zittern. »Ja«, sagte er, »mir geht auch der Kreisel aus. Drum möcht' ich –«

»Was möchtest du?«

»Was anderes werden als mein Vater. Ich will nicht Korbflechter und Mausfänger sein.«

»Du willst ein großer Dichter werden: Hilarius von Hochwart.«

»Das auch. Aber zuerst noch was anderes.«

»Was denn?«

»Rat einmal!«

Therese besann sich. Sie wollte den Kreis der angemessenen Berufsarten nicht überschreiten.

»Ein Gendarm«, sagte sie; »das sind stattliche Leute. Oder ein Jägerbursch.«

»Oh!« rief der Knabe und sah Therese mit großen, forschenden Augen an. Das Mädchen fuhr zusammen und wurde dunkelrot. »Wozu braucht man denn keine Füße?« fragte sie sich. Da fiel ihr ein, daß sie drunten im Städtchen eine Werkstätte gesehen hatte, worinnen Grabsteine zugehauen wurden.

»Ich weiß«, sagte sie jetzt, »du willst Bildhauer werden.«

»Höher hinaus!« erwiderte der Bursche.

»So sag es doch!«

»Schneider möcht' ich werden!«

»Schneider!« rief Therese verwundert.

Hilarius mochte den Ton der Enttäuschung heraushören. Eifrig sagte er:

»In unserem Lesebuch steht eine Geschichte von einem Schneidergesellen, der wirklich und wahrhaftig droben aus dem Oberland her war. Er kam als Handwerksbursche nach London und wurde bald der alleroberste Schneider. Dem König und den Prinzen hat er die Werktags- und Sonntagsmontur gemacht, und die Hosen, die in der Schlacht bei Waterloo dabeiwaren, die waren alle aus seiner Werkstatt.«

»Aber nur die von der englischen Armee«, unterbrach ihn Therese.

»Natürlich! Für den Bonapart hat er nicht geschafft. Und er ist grausam reich geworden. Und als bei uns eine Hungersnot ausbrach, da hat er dem Großherzog mit viel Geld ausgeholfen und hat in seinem Ort ein Spital gebaut und für Arme und Kranke viele Stiftungen gemacht. Und schließlich hat ihn der Großherzog geadelt.«

»Sieh da«, sagte Therese, »so kannst du doppelt adlig werden, erstens wegen deiner Verdienste als Dichter, und zweitens wegen deiner Verdienste als Schneider.«

»Und Menschenfreund«, fügte Hilarius hinzu.

»Und deshalb möchtest du Schneider werden?«

»Ja, und weil man als Schneider so gut zum Fenster hinaussehen und dichten kann, und wegen noch etwas ...«

»Weshalb noch?«

»Ich hab's noch niemand gesagt.«

»Mir aber sagst du's!«

»Hast du schon den Schneider bei seiner Arbeit gesehen?«

Therese besann sich. »Nein, noch nie.«

»Er sitzt auf einem Tisch und hat die Beine untergeschlagen, weißt du, auf türkisch«, sagte Hilarius zögernd.

»Was ist denn dabei?«

Der Knabe neigte sein Haupt, daß ihm die Locken über die Stirn fielen.

»... Da sieht man die Füße nicht. –«

Die Kinder schwiegen eine Weile. Therese atmete tief auf. Ihre Hände ruhten im Schoß.

»Warum läßt dich dein Vater nicht Schneider werden?«

»Wir haben noch keinen Meister gefunden, der mich ohne Lehrgeld nimmt, und Lehrgeld können wir keines zahlen.«

Da flog ein warmer Schein über Theresens Antlitz. Sie beugte sich zum Buben hinüber, faßte ihn bei der Hand und sah ihm freundlich in die Augen.

»Hilarius!«

»Was willst du?«

»Ich will dich zum Schneider machen.«

»Du?«

»Ja ich. Glaub mir's! Weißt du, ich habe ein Sparbuch, da stehen meine Patengelder drinnen, und was ich sonst an Weihnachten und an meinen Geburtstagen erhalten habe. Ich mache meine Mittel flüssig und bezahle dein Lehrgeld.«

»Du?« wiederholte Hilarius überwältigt, und die Tränen quollen ihm aus den Augen.

»Ja ich; verlaß dich drauf«, sagte Therese mit bestimmtem Ton. »Und jetzt sag mir, was willst du denn tun, wenn du der reiche Schneider Hilarius von Hochwart bist?«

»Dann bau' ich den Turm droben wieder auf und ein großes Schloß dahinter, und ich baue einige Spitäler, und dann ...«

»Und dann?«

»Heirat' ich dich.«

»Oho! Ich mag keinen Schneider!«

»Aber... einen...Menschenfreund?« fragte Hilarius schüchtern.

»Ach was, das ist mir alles einerlei, davon will ich gar nichts wissen«, sagte das Fräulein und sah hochmütig zur Seite.

Hilarius stand auf, ohne ein Wort zu sagen, stieg den Rain hinab und hinkte den Feldweg hinunter dem Tale zu.

Therese wartete eine Weile und sah ihm nach. Aber Hilarius schaute nicht zurück und setzte sich auch nicht wieder an den Rain. Er ging rasch in seinem Zorn und hinkte entsetzlich. Jetzt bog er um die Ecke und wurde durch das hochwogende Kornfeld verdeckt. Weiter unten kam der Weg wieder zum Vorschein.

Therese erhob sich und sprang leichtfüßig wie ein Reh über die frischgemähten Kleeäcker der Stelle zu, wo Hilarius wieder erscheinen mußte. Der Zopf ging ihr auf, und ihr langes blondes Haar flatterte wie eine lustige Flagge hinter ihr drein. Da, nahe am Ziel, verkürzten sich ihre Schritte, sie beugte sich vor und spähte nach dem Trotzkopf aus, und als sie ihn erblickte, schickte sich's, daß ihr linker Fuß in einem Maulwurfshaufen steckenblieb, und sie fiel der Länge nach auf den Boden. In diesem Augenblick kam Hilarius auf dem Wege daher. Er blieb verwundert stehen, denn er hatte in seinem Zorn von ihr nichts gesehen und nichts gehört.

»O du verwünschter Mausfänger! Du bist dran schuld! Ich häng' an deinem Galgen fest. Komm und mach mich los!«

Hilarius humpelte eilfertig herbei. Sein Zorn war in einem Nu weggeflogen.

»O du Lügenbeutel!« rief er, »'s ist ja gar nicht wahr!«

Der Mausgalgen, der neben Theresens rechter Hand im Boden stak, war unversehrt. Er wollte ihr aufhelfen, aber Therese sprang auf die Füße, ehe er sich gebückt hatte. Sie schüttelte die Erdkrümchen von ihrem Kleid und sagte wie zu sich selber: »Jetzt hab' ich mein Zopfbändel verloren!«

Hilarius schaute den Kleeacker hinauf.

»Ist es blau? Dort liegt es?« Und er machte sich auf den Weg. Aber er war noch keine drei Schritte gegangen, da flog das Mädchen an ihm vorbei. Hilarius blieb stehen und sah ihr nach. Aber ehe sie an Ort und Stelle war, wandte er sich um und hinkte langsam wieder zurück. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken, und Tränen liefen ihm über die Backen.

Da fühlte er eine Hand in seinen Locken. Zuerst schüttelte er den Kopf, dann sagte er rauh: »Was willst du?«

»Dich zöpfen!«

»Nein, laß!«

»Aber zusammenbinden will ich deine Locken. So haben sie die alten Germanen getragen. Aber das war kein blau Seidenband, sondern ein Riemen Wolfsfell oder der rote Saum von einem Römerrock.«

»So!« sagte sie, als sie fertig war, und ging nun wieder an seiner Seite. »Jetzt zeigst du mir, wie ihr die Maulwürfe fangt. Deine beiden Mausfallen müssen unbedingt in mein Tagebuch hinein.«

Hilarius kniete vor einem der Weidenbogen nieder, schob mit der flachen Hand die lockere Erde zurück, zeigte der aufmerksam dreinschauenden Genossin die verborgene Schlinge und ließ sie sehen, wie diese durch das Emporschnellen der Rute zugezogen wird.

»So, das kenne ich jetzt ganz genau. Jetzt kommt der Maulwurfspieß dran.«

Dicht daneben stak einer im Boden. Hilarius hob die Erde ab und zeigte die Spitze des heimtückischen Eisens.

»Kann man sich nicht weh tun, wenn man barfuß darauftritt?«

»O nein. Der Spieß fährt nur los, wenn der Stoß von unten kommt. Siehst du?«

Er legte sich auf den Boden. Therese stand hinter ihm, etwas zur Seite. Hilarius bohrte mit der Hand in die lockere Erde. »Wenn meine Hand ein Maulwurf wär – der kommt so von unten herauf gewühlt...«

Der Knabe hielt einen Augenblick inne.

»Soll ich dir's zeigen?«

»Ja freilich, aber gib –«

Therese vollendete nicht. Sie hatte die Hand des Knaben erfaßt und mit einem kräftigen Ruck aus der Erde gezogen.

»Was hast du?« fragte Hilarius erstaunt, und als er das Fräulein anschaute, erschrak er. Sie war todesblaß geworden.

»Ich habe gedacht... hast du dir weh getan? Gewiß nicht? Ich habe mir vorgestellt, ich müßte deine Hand aus dem Eisen herausziehen.«

Sie biß die Zähne aufeinander, daß sie knirschten, und schüttelte sich.

»O du Narr!« lachte Hilarius, »das wäre auch nicht das Schlimmste!«

Mit Verwunderung sah er seine Gefährtin an. Ihre großen schwarzen Augen starrten aus dem bleichen Gesichtchen in die Luft hinaus, wie wenn sie von einem entsetzlichen Bild gebannt wären.

Hilarius betrachtete sie eine Weile. Dann bekam sein Gesicht einen eigentümlichen Ausdruck. Er faßte Therese ums Handgelenk und raunte ihr zu:

»Komm du! Wir wollen zusehen, wie's dem Maulwurf so geht. Wenn die Sonne sticht, wie jetzt, stößt er.«

Er ging voran, und Therese folgte ihm auf den Zehen nach. Dabei schauten sie sich um, wie wenn sie was Böses vorhätten.

Hilarius führte sie auf die Höhe des Kleeackers, wo ein großer gelber Maulwurfshaufen im grellen Sonnenschein lag.

Er kniete nieder, doch so, daß sein Schatten hinter ihn fiel, und bedeutete seine Gefährtin, sie sollte es auch so machen. And nun starrten sie auf das Häufchen zerkrümelten Lehms. Die winzigen Quarzstückchen blitzten heraus wie Diamanten.

»Die schau an!« flüsterte Hilarius, und Therese faßte drei Körnchen, die im Dreieck beieinander lagen, ins Auge.

Eine gute Weile knieten und starrten sie so; der Peitschenknall, der vorhin im Tale unten fern getönt hatte, klatschte neben ihnen oben am Weg, und das langsame Knarren des Wagens verzog sich den Berg hinauf. Das hohe Korn, gegen das sie gewandt waren, verdeckte sie gegen den Feldweg, und hinter ihnen lag das weite, sonnerfüllte Tal.

Jetzt kam es Therese vor, als ob eines der flimmernden Krümchen versänke; auf das andere rieselten winzige Erdbröselchen und deckten es zu. Hilarius packte sie am Arm. Die Spitze des Haufens hob und senkte sich, und Therese hörte ein leises, kurzes Zischen. Es klang aus dem Boden und war wie Totschlag und Sterbeseufzer im Schoß der Erde.

Auf der Stirn des Hilarius stand der Schweiß. Er schaute Therese fragend an und streckte seine rechte Hand aus, um in den Haufen zu greifen. Therese aber hielt beide Hände vor die Augen. Es war ihr, wie wenn sie Zeugin eines Meuchelmords gewesen wäre, der dort unten in der schwarzen Tiefe mit ihrem Wissen und Wollen vollbracht worden war. Es graute ihr vor dem Korn, vor dem Kleeacker, vor dem Erdboden, vor all dieser Stille und Einsamkeit. Auch ihr Gefährte war ein Stück von dem, wovor ihr graute.

»Willst du ihn am Spieß sehen?« sagte jetzt Hilarius und griff nach ihrer Hand.

Da sprang sie auf und rief: »Du bist ein abscheulicher Mensch!« Und ohne ihn anzuschauen lief sie, wie jemand, der ums Leben rennt, über den Acker hinab dem Wege zu, dem Städtlein zu!

Hilarius stand langsam auf und schaute ihr nach. Er schaute ihr nach, als sie schon längst verschwunden war. Dann ging er auf den nächsten Maulwurfsgalgen zu und zertrümmerte ihn mit einem Tritt seines Klumpfußes. Einem daneben steckenden Mordeisen machte er es geradeso. Als die Sonne unterging, tat ihm sein armer Fuß weh: er hatte auf dem ganzen Gewann, das der alte Hochwart ihm übergeben hatte, alle Maulwurfsfallen, die Schlingen wie die Spieße, totgetreten.

»Ich hab's gesehen, aber verraten tu' ich's nicht!« zwitscherte das Schwarzköpfchen, schwang sich auf und davon, flog über einen Buchenwipfel, flatterte durch die hängenden Birkenzweige und huschte mitten hinein in die Hecken. Es mußte sich auf einen Zweig niedersetzen, denn das Herzchen klopfte ihm gar zu sehr; es zog sein Köpfchen in die Halskrause und hockte da wie ein Klümpchen Unglück.

Mit einem Male reckte es sich auf: »Und da wohnt mein herztausiger Schatz!« jubelte das Vöglein und schlüpfte in das Gebüsch. Die Liebste saß im Nest auf den Eierchen. Sie rückte zur Seite, drehte das Hälslein hin und her und äugelte dem Gatten entgegen. Der aber hüpfte auf den nächsten Zweig. Da stand er dicht vor seiner Frauen, reckte den Kopf in die Höhe, tat das Schnäblein auf und sang in den sonnigen Wald hinaus sein allersüßestes Lied.

»Horch!« flüsterten sie eines Mundes, schauten sich in die Augen und küßten sich wieder.

»Laß mich, sonst kann ich nicht hören. Ist das nicht wundervoll?«

»Ja ja ja, das ist wundervoll!« antwortete er berauscht, drückte ihre Hand an sein Herz und suchte von neuem ihre Lippen.

Sie waren keine Brautleute, auch kein Flitterwochenpaar, sondern Ehegatten, die schon ein geraumes Stück miteinander durchs Leben gewandert waren. Aber sie hatten sich die Glut der Leidenschaft bewahrt. Die Hochzeitsreise verteilten sie über ihr ganzes Leben. Auf jedes Jahr kamen ein paar Tage. Diese Tage hoben sie mit langsamen Händen heraus aus der grauen Menge der Geschäftsgenossen, stäubten sie ab und hüllten sie in lauter feuriges Gold. Da gehörten sie einander an vom Morgen bis zum Abend, wanderten durch den grünen Wald, ruhten aus, wo es schön war, übernachteten, wo es reinlich aussah und man sie nicht kannte. So taten sie dem langen Hunger des Herzens Genüge, bald in stiller Zärtlichkeit, bald im ernsten Gespräch, und füllten in ihr Leben einen neuen Schatz süßer Erinnerung.

So waren sie auch heute früh von daheim fortgefahren, nachdem sie zum Schein dem ältesten Töchterchen, in Wirklichkeit der treuen Magd, die Obhut über Land und Leute für zwei Tage anvertraut hatten. Nach kurzer Fahrt waren sie aus dem Zuge gestiegen und waren in die Berge und in den Wald hineingegangen, zuerst steil bergauf durch ein Föhrengehölz auf glattem Boden, dann oben auf der Höhe durch den rauschenden Buchenwald. Wenn von dem breiteren Weg ein schmalerer abbog, von dem begangenen Pfad ein grasiger, so schlugen sie sich immer in das Enge, Grüne, Einsame hinein. Und jetzt steckten sie mitten im dicken Wald. Sie hatten eine Himbeerhecke gefunden, die übersät war mit köstlichen Früchten. Das eine aß sich hier hinein, das andere dort. Eine Weile sahen und hörten sie sich nicht. Auf einmal stießen sie aufeinander. Er hatte einen langen Schritt gemacht über einen Ameisenhaufen hinweg, und sie beugte sich vor, um einen Zweig, an dem besonders große Früchte hingen, zu sich herzuziehen. Da tauchte der Gatte vor ihr auf. Sie ließ den Zweig fahren und breitete die Arme aus. Er drang durch das Gesträuch und umfaßte sie. So küßten sie sich. Das hatte das Vögelchen mit angesehen.

»Halt, die Beeren dort muß ich noch mitnehmen«, sagte Therese und pflückte die Früchte von dem Zweig, den sie vorhin hatte fahren lassen. Derweilen holte er den Rucksack, der auf dem Pfade liegengeblieben war, und kam dann zurück, um seinem Weibe durch die Hecke zu helfen. Während sie auf dem grünen Wegchen stehend miteinander die Himbeeren verspeisten aus Theresens hohler Hand heraus, führten sie zwischen das Essen hinein folgendes Gespräch:

»Du, weißt du eigentlich, wo wir sind?«

»Keine Ahnung!«

»Schau doch einmal auf deiner Karte nach!«

Sie hatte ihm die letzte Beere in den Mund gesteckt, und nun holte er gehorsam die Karte aus der Brusttasche und hielt sie vor die kurzsichtigen Augen.

»Sieh, von hier sind wir aus«, erläuterte er dann seinem Weibe. »Das ist die Landstraße nach Sensenbach, die sind wir gegangen bis in den Wald hinein. Weißt du noch, ob wir rechts oder links abgewichen sind?«

Therese besann sich und sagte: »Einigemal rechts, und einigemal links; aber wohin zuerst, das weiß ich wahrhaftig nicht. Wir haben damals über unser Ernstchen gesprochen, da waren wir ganz drinnen.«

»Ich weiß es auch nicht«, sagte Ernst. »Sind wir rechts gegangen, dann werden wir nach Wetbachhausen kommen. Dort können wir vielleicht übernachten; gefällt uns das Wirtshaus nicht, dann fahren wir mit dem Postwagen nach Sensenbach. Sind wir aber links gegangen, dann müssen wir bei Ettersbronn herauskommen. Dort können wir nicht über Nacht bleiben; es ist ein kleines Dörfchen. Wir müssen dann noch weiter, entweder zu Fuß oder mit der Post, bis Sensenbach. In Sensenbach beim Posthalter ist ein gutes Quartier.«

Sie schlenderten langsam den schmalen Waldpfad hin, der gerade Raum für zwei hatte.

»Weißt du, daß ich schon einmal hier herum gewesen bin?« fing sie an. »Wie das Nest heißt, weiß ich nimmer, und wie die Leute hießen, bei denen wir zu Gast waren, weiß ich auch nimmer. Es war damals, als meine Mutter mit mir ihre Schulfreundinnen besuchte im Land herum. Da waren wir alle paar Tage woanders, und ich kann die Forsthäuser und Pfarrhäuser, die dicken und die dünnen Frauen nimmer auseinanderhalten. Aber daß wir in der Nähe gewesen sind, das weiß ich gewiß, denn der Sensenbacher Omnibus war noch lang in unserer Familie sprichwörtlich. Er muß ein merkwürdiges Vehikel gewesen sein.«

»Von diesem Teil eurer Reise hast du mir noch gar nichts erzählt.«

»Ich denk' auch nicht gern daran«, erwiderte Therese und zog die Augenbrauen zusammen.

»Weißt du, wann ich daran denken muß?« fügte sie nach einer Pause hinzu.

»Wann, du Liebe?«

»Jedesmal, wenn ich die Sparbücher unserer Kinder sehe. Und jedesmal, wenn –«

Plötzlich unterbrach sie sich. »Hörst du nicht?«

Sie blieben stehen.

»Das Pfeifen dort im Busch? Irgend ein Tier. Jetzt ist's vorbei.«

Therese packte ihren Gatten am Arm.

»Ich kenne das seit damals«, flüsterte sie. »Dort geschieht ein Mord!«

»Wir wollen sehen, was es ist!« sagte Ernst und wollte auf den Busch los. Aber Therese hielt ihn zurück und rief:

»Sieh doch, sieh, sieh!«

Ein Hase sprang in dem rauschenden Gezweig wie toll auf und nieder.

»Eine Schlange hängt ihm am Hals! Siehst du nicht?«

»Ja, ich seh's. Ein Wiesel ist's. Es hat sich ihm festgebissen am Genick.«

Der Hase machte jetzt einen gewaltigen Satz aus dem Busch hinaus. Man hörte, wie er auffiel. Dann war alles still.

»Dort liegt er jetzt und stirbt, und das Wiesel trinkt sein Blut.«

»Wir wollen ihm helfen«, sagte Therese, aber sie blieb stehen und zitterte.

»Bleib, Kind! Es ist um ihn getan. Das Wiesel ist ihm an die Schlagader gesprungen. Verbluten muß er sich doch.«

Sie blieben stehen und schauten nach der Stelle. Sie konnten den Boden nicht sehen, aber die Spitzen der hohen Grashalme. Nichts bewegte sich dort. Sie lauschten. Kein Laut war zu hören.

»Warum ist der Mörder so still?« raunte Therese.

»Er berauscht sich. Komm, laß uns gehen. Das war ein häßliches Erlebnis. Denk nicht daran! Denk an das Vöglein, das vorhin so süß gesungen hat.«

Sie gingen rasch den Weg dahin, um die Mordstelle hinter sich zu haben.

»Siehst du, so etwas hab' ich damals erlebt. Es war im Sonnenbrand auf einem gemähten Kleeacker, vor einem hohen, stillen Kornfeld. Du glaubst nicht, wie –«

Die Frau schüttelte sich. Er schlang seinen Arm um ihre Hüfte.

»Denk nicht mehr daran!«

»Nein, ich will nicht daran denken! Ich möchte nicht, daß wir dorthin kämen. Noch jetzt träum' ich manchmal davon; da sehe ich ganz deutlich das hohe gelbe Korn und das ausgedörrte Kleefeld und höre den leisen Todesseufzer aus dem Boden heraus und fühle das Grausen im Mark. Dann wach' ich auf und freue mich, daß du bei mir bist und nicht –«

»Tu mir die Liebe und rede jetzt nicht mehr davon. Erzähl mir's, wenn ich dich in den Armen halte. Aber jetzt wollen wir hinaus aus dem unheimlichen Wald.«

Sie beschleunigten ihre Schritte, aber der Wald nahm kein Ende.

»Ich wollte, wir wären nicht so in den Tag hinein gelaufen«, klagte sie. Er dachte dasselbe, aber schwieg und sah besorgt nach der Uhr.

»Noch eine gute Stunde ist es, bis die Sonne untergeht. – Hörst du? Ein Hahn hat gekräht in der Ferne! Ein Dorf ist in der Nähe. Dort links, wo der Pfad hinzieht.«

Nochmals erscholl der tröstliche Ruf. Jetzt wurde es licht und blau hinter den Bäumen. Sie traten aus dem Walde heraus. Der Pfad mündete auf einen breiten Weg, der vom Waldsaume herkam und zwischen Kartoffelfeldern auf eine Anhöhe führte. Diesen Weg eilten sie hin. Sie standen oben und schauten in ein weites grünes Tal. In seiner Mitte lag ein Städtchen mit zwei Kirchtürmen und einem alten Stadtturm. Jenseits hob sich wieder das wellige Land, und dunkler Wald säumte die Höhen.

»Wie schön, wie friedevoll!« rief Therese. Ernst aber zog seine Karte aus der Tasche und sagt vergnügt: »Jetzt weiß ich, wo wir sind. Der Wald, aus dem wir kommen, ist der Rote Reisig. Das Städtlein da unten ist Wetbachhausen. Hinter uns zur linken Hand liegt Ettersbronn, und das dort ist die Poststraße nach Sensenbach. Auf die wollen wir los. Wir gehen gerade über die Rübenäcker. Hübsch in den Furchen, Therese!«

So eilten sie querfeldein und kamen auf einen Feldweg, der auf der halben Höhe des Berges in weitem Bogen nach dem Städtchen führte.

»Halt!« sagte Ernst, »nun wollen wir ratschlagen. Von hier sind wir in fünf Minuten auf der Straße nach Sensenbach. Wenn wir nach Wetbachhausen gehen, haben wir eine starke Viertelstunde weiter. Jetzt ruhst du dich aus hier am Rain. Sieh, was für einen schönen Sitz hast du da unter dem Birnbaum! Damit du etwas zu treiben hast, hütest du den Rucksack. Ich gehe derweilen in das Städtchen und erkundige mich, ob wir übernachten können. Ist es so, dann hol' ich dich ab. Ist es nicht rätlich, dann gehen wir auf die Landstraße hinunter und wandern Sensenbach zu. Wir lassen uns von deinem Omnibus einholen und fahren gemächlich nach unserem Nachtquartier. Ist es dir recht so?«

»Ja, aber gib mir, ehe du gehst, einen Kuß«, sagte Therese und schaute nach rechts und nach links.

Er beugte sich nieder und küßte seine Frau. Dann eilte er den Feldweg hin und wurde bald durch das hohe Kornfeld ihren Blicken entzogen.

Therese streckte sich behaglich und schaute über den Weg hinüber zwischen den Apfelbäumen durch ins Land hinein. Der Berg mußte jenseits des Weges rasch abfallen. Einige Baumkronen waren noch hintereinander zu schauen, deren Stämme in die Tiefe hinuntergingen und nicht mehr zu sehen waren. Oder waren es gar keine Bäume, sondern irgendein niederes Gesträuch im Steingeröll?

Therese erhob sich, um sich zu überzeugen. Aber wie nun, während sie aufstand, das Land sich um sie ausweitete, kam es ihr vor, als ob sie das alles schon einmal so gesehen hätte. Sie setzte sich nieder, und es war ihr, als ob sie schon einmal so am Rain gesessen habe. In ihren jungen Tagen war es ihr zuweilen vorgekommen, als ob sie schon einmal bis ins kleinste hinein erlebt habe, was ihr gerade Zufälliges und Geringfügiges widerfuhr, und sie hatte sich doch nicht erinnern können, daß es wirklich so gewesen sei. Da hatten sie der Stuhl mit seiner zerbrochenen Lehne, die Lackbläschen, die im Sonnenschein glitzerten, und der schaukelnde Sommerhut am Nagel mit der herunterhangenden Stechnelke, all diese Dinge hatten sie da ganz unheimlich angemutet, eben weil sie so geheimnisvoll vertraut taten. Aber im Nu war die Empfindung vorübergewesen, und es war von ihr nichts übriggeblieben als eine Falte zwischen den Augenbrauen, und die war auch bald wieder ausgeglättet. Seit geraumer Zeit hatte sich dieser sonderbare Zustand nicht wieder eingestellt, Therese meinte, seit sie sich verheiratet habe. Kam es jetzt wieder über sie, wo die alte bräutliche Sehnsucht wieder ihr Herz übersponnen hatte? Oder war es diesmal ein Stück echter, handfester Erinnerung?

Therese wandte den Kopf. Richtig, da drüben stand der alte Berg mit dem kahlen Scheitel und dem Mauerwerk zwischen den Tannen.

»Wie heißt ihr den Berg da drüben«, fragte sie ein Büblein, das gerade ihr gegenüber auftauchte. Es kam ein Pfädchen herauf, das man nicht sehen konnte und das vor ihr zwischen den beiden Apfelbäumen auf den Feldweg mündete.

Das Kerlchen stellte sich auf seine Beine, drehte sich um und fragte: »Was für ein Berg? Der dort?«

»Ja, der dort.«

»Der heißt Schloßberg.«

»Aber es steht ja kein Schloß drauf.«

»Ha, es ist zusammengefallen.«

»Das ist wohl schon lange her?«

»Ja, schon ziemlich lange.«

»War auch ein Turm bei dem Schloß?«

»Ja, ein hoher Turm.«

»Weißt du, wie die Leute geheißen haben, die oben auf dem Turm wohnten?«

»Jawohl, das waren Hochwarte.«

»Und wie heißt denn du?«

»Hilarius Hochwart.«

»Komm einmal zu mir her«, sagte Therese. Das Büblein kam zutraulich und ließ sich von ihr willig auf ihren Schoß ziehen.

»Aber du hast ja keine blonden Locken, und wo sind denn seine blauen Augen geblieben? Gelt, deine Mutter hat einen schwarzen Krauskopf?«

Das Bübchen schüttelte verlegen den Kopf und wollte vom Schoß herunter.

»Ich laß dich gleich wieder springen. Aber jetzt mußt du noch bei mir bleiben. Wie heißt denn dein Vater?«

»Peter Hochwart.«

»So! Und du hast einen Onkel, der heißt Hilarius Hochwart; gelt?«

»Ja, du!«

»Wie geht's deinem Onkel?«

»Dem geht's gut.«

»Ist er verheiratet?«

»Der ist nicht verheiratet.«

»Nicht? Was ist er denn? Gelt, er ist ein berühmter Schneidermeister geworden?«

»Ja. Er hat die vornehmste Kundschaft.«

»Wieviel Gesellen hat er denn?«

»Gesellen hat er keine mehr, wir haben nicht Platz. Aber er hat drei Lehrbuben, unser Peter ist auch dabei.«

»Wohnt ihr beisammen?«

»Freilich.«

»Wo ist denn das Haus?«

»Ha, gerade da unten liegt's ja. Komm nur herunter, dann kannst du unseren Schweinestall sehen.«

»Habt ihr auch ein Säulein darinnen?«

»Freilich. Vorigen Dienstag hat es der Vater vom Sensenbacher Markt gebracht. An Martini wird's gemetzget. Dann gibt's Wurst.«

»Jetzt will ich dir einmal etwas sagen, Hilarius. Wenn ich nach Hause komme, schicke ich dir einen Schaukelgaul.«

»Aber haarig muß er sein!«

»Natürlich muß er haarig sein. Aber du bekommst ihn nur, wenn du tust, was ich sage.«

Das Büblein stemmte den Arm in die Seite und rief: »Heraus damit!«

»Zuerst will ich aber sehen, ob du auch schweigen kannst. Mach einmal dein Mündchen zu! So! Und jetzt lege dein Fingerlein drauf! So ist's recht! So bleibe, bis ich wieder herschaue.«

Therese wandte sich um und sah hinter sich in das Kornfeld. Sie griff hinein und holte ein Büschel Rittersporn. Als sie wieder auf das Büblein blickte, hielt es immer noch das Fingerlein an die zusammengepreßten Lippen.

»Jetzt ist's gut. Du kannst dein Fingerlein wieder wegtun und deinen Mund aufmachen. Ich habe gesehen, daß du schweigen kannst; jetzt gib acht! Heute sagst du deinem Onkel gar nichts von mir, kein Sterbenswörtchen. Aber morgen früh, wenn er ausgeschlafen hat und du auch, dann sagst du ihm – jetzt gib acht: Du Onkel, die Therese ist wieder oben am Rain gesessen und läßt dich schön grüßen. Wie willst du ihm morgen früh sagen?«

»Du, Onkel! Die Therese ist wieder oben am Rain gesessen und läßt dich schön grüßen!«

»So ist's recht, und jetzt geh heim, und ... das Fingerlein auf die Lippen! Warum lachst du denn so?«

»Therese hat seine Bekanntschaft geheißen.«

»Was du nicht weißt! Warum hat er sie denn nicht geheiratet?«

»Sie ist ja gestorben!« Und das Büblein legte die Hände zusammen, machte ein ernstes Gesichtchen und sagte:

»Es hat heut nacht geregnet,
Die Dächer tropfen noch,
Ich hab' einmal ein Schätzlein g'habt,
Ich wollt', ich hätt' es noch.
Jetzt ist mir's aber g'storben
Und schläft in süßer Ruh';
Es hat ein weißes Schürzlein
Und schwarzgewichste Schuh'.«

»Ei wo nicht gar!« rief Therese, und die Augen wurden ihr feucht. »Das hat er auf seine Bekanntschaft gedichtet?«

Der Knabe nickte.

»Woher weiß er denn, daß sie gestorben ist?«

»Ha, sie hat ihm doch versprochen, ihm eine Nähmaschine zu kaufen!«

»Und das hat sie nicht getan, gelt?«

»Natürlich nicht, weil sie gestorben ist.«

»Aber Schneidermeister ist er deswegen doch geworden.«

»Aber wenn seine Bekanntschaft nicht gestorben wär', dann wär' er jetzt was viel Höheres.«

»Was du nicht sagst! Hat er das euch alles erzählt?«

»Das erzählt er oft.«

»Sag einmal, Hilarius, dichtet dein Onkel auch noch?«

»Oh, noch sehr viel!«

In diesem Augenblick kam Theresens Gatte des Weges daher.

»Wir können hier vortrefflich übernachten. Ich habe mich in der Apotheke erkundigt. Komm, Therese!«

»Wir wollen nicht hier bleiben«, erwiderte Therese. »Außen herum, am zarten Rand, so geht es noch; aber tiefer hinein möcht' ich nicht. Dort irgendwo an dem Wege, woher du kommst, liegt der Kleeacker; dort ist das unheimliche geschehen. Und hier hinter den Zwetschgenbäumen wohnt er. Es ist besser, wenn er und ich uns nicht mehr sehen, sondern die Erinnerung so lassen, wie sie ist.«

»Ich verstehe dich kein Wort! Von wem redest du denn?«

»Von Hilarius Hochwart.«

»Ist das ein prächtiger Name!«

»Und ein guter Mensch ist es auch. Ich hab' ihm ein Versprechen nicht gehalten, und weil ihm das unmöglich scheint, meint er, ich sei tot.«

»Aber Therese, davon hast du mir ja –«

»Komm nur, ich erzähle dir heute nacht alles in einem.«

Ernst schwang den Rucksack auf die Schulter, und die Gatten wandten sich zum Gehen. »Behüt dich Gott, Hilarius!« sagte Therese zu dem Büblein. »Also morgen früh richtest du es schön aus. Heute aber ...«

Sie legte den Finger auf die Lippen, und der kleine Mann machte es geradeso. Dabei lachten sie sich an.

»Vergiß den haarigen Schaukelgaul nicht!« rief das Bübchen der Davoneilenden nach.

Therese schaute zurück.

»Gewiß nicht!«


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