Adolf Schmitthenner
Heidelberger Erzählungen
Adolf Schmitthenner

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Der Seehund

»Birr!« sagte er und legte die Hand darauf. Daß er die Hand darauf legte, ist selbstverständlich, und birr statt mir zu sagen, entsprach seinem Charakter. Birr! war sein Wort.

So sagte er also »Birr!« und legte die Hand darauf.

Dieses Mal auf ein Fünfzigpfennigstück.

Der Vater hatte es stiftenderweise auf den Tisch gelegt, damit er und seine Geschwister den Seehund sähen.

Die Schwester wusch ihm Hände und Gesicht, unbesehen, denn es gehörte zu den festgesetzten Dingen, daß solches an ihm vollbracht wurde, ehe er in der Öffentlichkeit erschien. Dann wanderten sie über den Marktplatz auf die Bude zu, die trübselig zwischen dem Armenhaus und der Gemeindewaage stand.

»Gib's dem Manne!« sagte die Schwester. Er verstand und überantwortete dem Manne das Fünfzigpfennigstück. Der Mann schaute auf die Gruppe, ließ seine Blicke auf ihm ruhen und sagte in vornehmer Lässigkeit: »Kinder unter fünf Jahren zahlen die Hälfte.« Damit legte er ein Fünfpfennigstück auf das krüpplichte Tischchen, dessen einziger gesunder Fuß in der Ablaufrinne des Armenhauses stand. Die Schwester errötete respektvoll ob dieser freundlichen Behandlung; er aber sagte »Birr!« und legte die Hand darauf.

Er machte die Hand langsam zu einer Faust, und als er diese aufhob, war die Münze verschwunden. Er aber streckte aus der anderen Faust einen Finger und deutete auf das Kramlädchen jenseits der Mühlbrücke; und er steuerte lächelnd darauflos, wie ein Mann, der befriedigt seinen Geschäften nachgeht. Die anderen folgten, doch wandte sich die Schwester vorher an den Mann und sagte: »Entschuldigen Sie, wir kommen gleich wieder.«

Vor der Tür des Kramladens ergriff der nächstältere Bruder seine Hand und wollte mit ihm eintreten, denn eine herauskommende Frau hatte offengelassen. Er aber schüttelte mißbilligend den Kopf und schaute in die Höhe. Da zog der Bruder die Tür zu, daß es klingelte, dann öffnete er sie wieder, daß es noch einmal klingelte. Jetzt erst, da sein Kommen in ordnungsmäßiger Weise angekündigt war, trat er ein, und die anderen kamen hinten nach. Er beachtete die freundlich grüßende Witwe Böhm nicht, sondern deutete auf eine bestimmte Schublade; es war die dritte in der zweituntersten Reihe, von rechts nach links gerechnet.

»Für fünf Pfennig Bärendreck!« sagte der Bruder, nahm das Geldstück aus der sich willig öffnenden Faust und legte es auf den Ladentisch.

Mit dem phantasievollen Namen Bärendreck bezeichnet in Wetbachhausen der Bevölkerungsteil, der den Begriff Wohlleben mit drei bis fünf Schubladen der Witwe Böhm verknüpft, die harten, schwarzen Brocken eingekochten Süßholzsaftes, die sich in einer dieser Schubladen befanden.

Frau Böhm holte eine spannenlange Stange von der Dicke eines derben Daumens heraus und legte sie auf den Ladentisch. Dann ergriff sie das Hackmesser, an dessen Eisen noch einige Krümchen Kandiszucker hingen, und hieb die Stange in der Mitte durch. Die Schnittfläche war wundervoll glatt und spiegelblank. Das eine von den beiden Stücken legte sie in die Schublade zurück, das andere wickelte sie in Strohpapier, das, viereckig zugeschnitten, zur rechten Hand bereit lag. Bei all diesen Verrichtungen lächelte die Witwe Böhm, und die beiden Brüder schauten von dem Hackmesser nach ihren Lippen, ob da nicht auch die glänzenden Bröselchen Kandiszucker zu schauen seien.

Als die kunstgerecht zugewickelte Stange, an deren einem Ende ein gelbes Zipfelchen herausstand, auf die abgescheuerte Anrichte des Ladentisches zu liegen kam, sagte er: »Birr!« und legte die Hand darauf. Aber er reichte nur mit zwei Fingerchen bis hinauf; so konnte er die Stange nicht fassen, und sie fiel auf den Boden. Vertrauensvoll sah er zu, wie die Schwester den Erwerb aufhob, und verließ befriedigt den Laden.

Die kleine Schar wandte sich jetzt der Linde zu, links von der Mühlbrücke. Auf dem breiten, gemauerten Gesims, das den Stamm wie ein Kranz umgab, wurden die Rechtsgeschäfte der Wetbachhäuser Kinder vorgenommen. Hier ging denn auch die Verteilung des Bärendrecks vor sich. Die Schwester vollzog sie mit Hilfe eines Taschenmessers und eines großen Steins und legte die fünf Stückchen in gleichen Abständen auf den Sims. Als der jüngste hatte er zuerst zu wählen. »Birr!« sagte er und legte die Hand auf das größte Stück, für die Schwester blieb das kleinste übrig.

»Jetzt müssen wir aber zum Seehund«, sagte sie, »der Mann nimmt es uns sonst übel.«

Jedes steckte sein Stück in den Mund, und als sie die Bude erreichten, hatten sich sämtliche Mundwinkel schön schwarzbraun gefärbt.

»Nicht wahr, es tut nichts, daß wir nicht gleich gekommen sind?« fragte die Schwester schüchtern den Mann. Dieser schüttelte gütig den Kopf und hob den Vorhang. Die Kinder traten ein.

In dem dämmerigen Raume war nichts zu sehen als eine Badewanne. Sie stand mitten auf dem schwarzen Erdboden und war fast bis an den Rand mit Wasser gefüllt. In dieser Badewanne saß er, nämlich der Seehund. Die Kinder verteilten sich auf die verschiedenen Seiten der Wanne. »Er« sah ihm gerade ins Gesicht.

Jetzt trat der Mann heran und sprach:

»Der gemeine Seehund, auch Robbe genannt. Er hat die Form eines Kegels. Die Hinterfüße bilden ein Steuerruder. Mit den Vorderfüßen streichelt und putzt er sich. Aber er kann nur schlecht laufen. Das Weibchen bekommt nie mehr als ein Junges auf einmal, das es auf seinen Vorderpfoten trägt wie eine Mutter ihr Kind. Das Junge lernt bald alle Künste seiner Eltern. Dieses Exemplar ist einen halben Meter lang. Der Seehund nährt sich von Fischen und anderen Meertieren. Auch Frösche verschmäht er nicht. Wollen die Herrschaften ein wenig zurücktreten. Sie werden sonst naß.«

Als dieser Vortrag vollendet war, drehte sich der Seehund langsam um und bewegte das Wasser leise mit seinem Steuerruder. »Er« aber griff mit zwei Fingern der rechten Hand in den Mund, holte eine schwarze Masse heraus, näherte sich zutraulich der Badewanne und legte das Geschenk oben auf den Rand.

Im nächsten Augenblick schnellte der Seehund im Kreis umher, das Wasser schwappte hoch auf; an der Stelle, wo das Gastgeschenk lag, schlug es über den Rand und schwemmte die süße Gabe auf den Boden hinab und in den schwarzen Kot.

In tiefer Gemütsbewegung faßte »Er« seine Schwester am Schurz und schüttelte ein Mal ums andere den Kopf. Der Seehund aber legte seine Vorderpfote auf den Rand, stieg mit dem halben Leib über das Wasser empor und schaute ihn aus treuherzigen Augen gefühlvoll an. Ein leises Zittern lief über »Seinen« Körper; er trat einen Schritt zurück, wandte sich verlegen ab und verbarg sein verschämtes Köpfchen in dem Rock der Schwester. Diese beugte sich nieder und fragte: »Wollen wir heim?« Anstatt der Antwort schlang er seine Arme um ihr Kleid.

»Entschuldigen Sie, daß wir schon gehen«, sagte die Schwester zu dem Mann. »Es war wunderschön, und Ihr Vortrag war so interessant! Wir blieben noch gern länger, aber ich fürchte, er tut nicht mehr gut.«

Die Kinder verließen die Bude und gingen über den Marktplatz nach Hause.

Daheim erzählten die Knaben, daß der Seehund sein Junges auf den Pfoten trage, und daß der Birrle, so hieß »Er« in der Familie, dem Seehund seinen Bärendreck verehrt habe; die Schwester erzählte, wie der Mann so freundlich gewesen sei, und fragte den Vater: »Nicht wahr, das ist doch ein besserer Mensch?« »Er« aber war mauderig wie ein Vögelchen vor der Mauser, wollte nicht essen und nicht spielen, und die Mutter argwöhnte, daß eine Krankheit in ihm stecke.

Um fünf Uhr pflegte er Schlaf zu kriegen, und da die Mutter um diese Stunde am wenigsten Zeit hatte, ihn zu Bett zu bringen, war sie gewohnt, ihn im Vorbeigehen auf das Sofa zu legen, wo er in der Regel alsbald einschlief. Die Kinder pflegten ihm dann Worte ins Ohr zu flüstern wie: »Schinken – Wurst! Schinkenbrot mit wenig Brot und viel Schinken! Eine dicke Wurst!« Und sie zauberten dadurch ein holdes Lächeln auf sein Angesicht.

Aber diesmal war der Verlauf ganz anders. Die Mutter legte ihn auf das Sofa, drückte das Köpfchen in den gewohnten Winkel und einen Kuß auf das Köpfchen. Da spürte sie, wie unter ihrem Kuß seine Lippen bebten und ihm ein tiefer Seufzer aus dem Busen quoll.

»Was fehlt meinem Birrle?« fragte sie besorgt.

Es kam ein neuer Seufzer; der Mund verzog sich und tat sich mächtig auf, und: »Seehund!« rief er im Ton des tiefsten Schmerzes.

Dann heulte er gesund und kraftvoll. Die Mutter merkte an Stärke und Tonfall, daß ihrem Birrle keine Krankheit drohe. Darum war sie nicht erschrocken. Aber sie war aufs höchste erstaunt.

»Kinder, Kinder«, rief sie, »der Birrle hat ›Seehund‹ gesagt!«

Die Kinder kamen herbei, und staunend umstanden sie das heulende Brüderchen. Das heulte und heulte und sah durch die strömenden Tränen eines nach dem anderen jammervoll an. »Seehund ... birr!« schluchzte er, die Kinder jubelten, und er verdoppelte sein Geheul. Die Mutter schickte die Kinder hinaus, nahm ihn auf den Schoß, denn sie hatte noch nie erlebt, daß sich eines ihrer Kinder in den Schlaf geweint hätte, und holte die Arche Noah herbei, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.

Sie stellte zuerst die Familie unseres Ahnherrn auf und ließ dann den Zug der Tiere heranmarschieren. Leise weinend sah er zu. Als sie aber so unvorsichtig war, die Geschöpfe zu loben, sauste ein Faustschlag auf die Spitze des Zuges nieder, so daß dem Vater Noah das Genick gebrochen und einem braven Kamel alle vier Beine zermalmt wurden.

»Seehund!« schrie er aus Leibeskräften, und sein Geheul verdreifachte sich.

»Wir wollen den Seehund suchen«, sagte die gute Mutter und wühlte mit der rechten Hand in dem Haufen der übereinander geschütteten Tiere.

Er hörte auf und sah mit Spannung zu.

»Da ist ein Seehund!« rief die Mutter und setzte eine von Noahs Tauben vor ihn auf den Tisch. Er schaute einen Augenblick hin, dann ergriff er die Taube und warf sie über den Tisch an die Wand, daß sie, zurückprallend, auf die Glasglocke der Lampe aufschlug. Dann griff er in den Haufen, faßte Japhet und sein Weib, die doch beide ganz unschuldig waren, und warf sie in das Waschbecken, das neben der Arche auf dem Tische stand.

Jetzt aber wurde die Mutter ernstlich böse. Sie rettete zuerst unsere Erzeltern vor dem geschichtswidrigen Tode des Ertrinkens und stellte sie zum Trocknen auf den Kleiderschrank. Dann legte sie »Ihn« auf ihren Schoß, und zwar so, daß er nach unten schaute, und ein helles Geklatsch gab Zeugnis von der strotzenden Fülle seiner Muskulatur.

Sein Zorn war gebrochen, aber sein Jammer wurde herzzerreißend. »Seehund, Seehund!« schluchzte er zwischen Geschrei und stiller fließenden Tränen. Da half sich die Mutter durch ein Mittel, das jede Pädagogik brandmarkt; sie vertröstete ihn: »Morgen gehen wir zum Seehund; wenn du ausgeschlafen hast, darfst du wieder zum Seehund.«

Er sah die Mutter unter Tränen an. Die küßte ihm die Augen und wischte ihm das Näschen. Endlich beruhigte er sich, trank seine Milch und wurde zu Bett gebracht. Als die Mutter mit ihm gebetet hatte, setzte er auf ihr Amen ein vertrauensvolles »Seehund, birr!« und schloß die Augen. Es gab ihm noch einige Stöße vom Herzen herauf. Wie die Mutter zum drittenmal nach ihm sah, lag er in tiefem Schlaf.

Am anderen Morgen stieß die Mutter den Fensterladen zurück, und der Tag quoll in die Stube. Der Birrle zog die Füßchen in die Höhe, das Körperchen kugelte auf die linke Seite, die Ärmchen stemmten sich in das Kissen, dann richtete sich die Gestalt zu ganzer Lebensgröße auf, die großen runden Augen schauten der Mutter erwartungsvoll in das lachende Gesicht, und über die aufgeworfenen kirschroten Lippen kam der Morgengruß: »Seehund!«

Während er gewaschen und angezogen wurde, zeigten sich Arme und Beine merkwürdig willfährig, so daß die Mutter in der halben Zeit mit ihm fertig war. In musterhafter Bravheit verzehrte er, was ihm sein Löffelchen in den Mund führte. Dann band ihm die Schwester sein neues rotes Schürzchen um, strählte seine Haare und setzte ihm sein Käppchen auf. Er aber ging an den Kleiderrechen, packte sein seidenes Mäntelchen, sah die Schwester an und sagte: »Birr!«

»Mutter, darf der Birrle sein grünes Mäntelchen anziehen?«

»Was fällt dir ein!«

»Aber er möchte es so gern haben!«

Die Mutter fürchtete eine zweite Auflage des gestrigen Geheuls. »Nun denn in Gottes Namen!«

So zog ihm denn die Schwester das grüne Mäntelchen an. Das war sein aller-allerbestes Staatskleid; er kam sich immer ganz ehrwürdig darinnen vor.

Sie stiegen miteinander die Treppe hinunter nach dem unteren Hausgang. Er strebte zur vorderen Haustür hinaus. »Halt, Freund«, sagte die Schwester, »hinten hinaus geht unser Weg!«

Da warf er einen vorwurfsvollen Blick die Stiege hinauf, machte sich los von seiner Schwester und legte die Händchen hinter seinem Rücken aufeinander. So folgte er still und trotzig der vorausgehenden Schwester in das Höfchen hinter dem Hause.

In dem Höfchen war ein leerer Entenstall, ein leerer Schweinestall, ein leerer Holzschuppen und eine kahle Scheunenwand. Auf dem sauberen, sonnigen Pflaster lagen allerhand hölzerne und blecherne Geschirrchen. Hier war sein Vormittagsreich.

Die Schwester überzeugte sich, daß die Tür, die aus dem Höfchen auf die Gasse führte, geschlossen sei, und dachte, als sie nach dem Hause zurückkehrte: Er sieht doch herzig aus in dem roten Schürzchen und dem grünen Mäntelchen! »Gib mir einen Kuß, Spatz!« sagte sie. Er aber drehte ihr den Rücken und schaute die leere Scheunenmauer an. Da holte sie sich ihren Kuß und eilte ins Haus zurück, um der Mutter bei der Morgenarbeit zu helfen.

Er stand eine Weile in der Mitte des Höfchens, dann setzte er sich auf die warmen Pflastersteine, griff nach einem Holztellerchen, legte es gleichgültig auf die Seite und wartete der Dinge, die da kommen sollten.

Und es kam des Nachbars schläfriger Hermann, um aus dem Keller, der an den Nachbar verpachtet war, einen Krug Birnenmost zum Zehnuhrbrot zu holen. Er ließ die Tür hinter sich sperrangelweit auf und verschwand im Keller. Da stand »Er« auf und ging wie einer, der entschlossenen Sinnes ist, auf die offene Tür zu. »Seehund!« sagte er vor sich hin und verschwand auf die Gasse. Gleich darauf kam der Nachbarsohn aus dem Keller, schloß hinter sich zu, verließ den Hof, zog die Hoftür hinter sich in die Falle und ging schläfrig seines Weges.

Kurz vor zwölf Uhr wollte »Ihn« seine Schwester holen, aber das Höfchen war leer. Weder die Mutter, noch der Vater, noch die Magd, noch die Brüder wußten etwas von ihm. Der Vater suchte im gegenüberliegenden Schloßgarten, die Brüder durchstöberten die Scheunen, die Höfe und die Ställe der Nachbarschaft, die Magd fragte in den Häusern hin und her, die Schwester durchkroch die Winkel hinter dem Marktplatz. Die Mutter blieb daheim, damit jemand da sei, wenn er selber zurückkehre oder ihn jemand brächte. Sie trug ihr schweres Herz treppauf treppab, stubenein stubenaus, schaute zu den Fenstern hinaus auf die Gassen und seufzte und flehte in jedem Winkel.

Der Marktplatz, die Hauptstraße, die Gassen waren menschenleer, denn die Leute von Wetbachhausen hatten rasch Mittag gemacht und waren wieder hinaus zur Heuet gegangen. Nur der blinde Eisenbärle stand auf dem Marktplatz an seinem gewohnten Eck.

Der Eisenbärle war ein steinalter Jude, der viele Jahre lang das alte Eisen in Wetbachhausen gesammelt und es in Sensenbach verkauft hatte. Er hieß Abraham Bär und wurde zum unterschied von den anderen Bären des Städtchens der Eisenbärle genannt. Jetzt war er blind, und solange der Tag schien, stand er an seiner Ecke, die er mit dem Rücken blank gescheuert hatte, und sonnte sich. Hut oder Mütze trug er nie. Seine schneeweißen Haare fielen ihm auf den ehrwürdigen schwarzen Rock, den er auch am Werktag trug, da ihm die reichen Glaubensgenossen von Wetbachhausen ihre abgelegten Sabbatröcke verehrten.

Er war ein guter Mensch und hatte alle Kinder lieb. Die Kinder pflegten ein Liedlein hinter ihm her zu singen, das fing an: »Eisenbärle, kreideweiß!« Die zweite Verszeile gab einen unreinen Reim auf diese erste und sprach einen wohl nicht ganz unbegründeten Verdacht aus gegen Eisenbärles Ehrenkrone, seine kreideweißen Haare. Aber der Eisenbärle nahm das Liedlein nicht übel, und es war auch gar nicht böse gemeint.

Das war der einzige Mensch gewesen, der auf dem Marktplatz gestanden hatte, als Birrle auszog, den Seehund zu suchen.

Birrles Schwester stand mit dem Eisenbärle auf sehr gutem Fuß. Sie hatten beide etwas miteinander erlebt, was ihnen tief zu Herzen gegangen war. Es war schon mehrere Jahre her. Sie hatte damals Besuch von einer Freundin aus der Stadt, und die beiden Mädchen lagen miteinander im offenen Fenster. Vor ihnen stand ein Glas voll Seifenwasser, denn sie hatten Seifenblasen zum Fenster hinausgeschickt und waren des Spiels müde geworden. Da kam der Eisenbärle den Bürgersteig daher. Er ging wie immer barhäuptig, mit vornübergebeugtem Kopf, dicht an den Käufern hin und tastete mit dem Stock nach der Rinne zur rechten Hand.

Eine Kinderschar zog hinter ihm her und sang:

»Eisenbärle, kreideweiß ...«

»Du, dem schütten wir das Wasser auf den Kopf!« sagte die böse Gefährtin, und ehe es die andere hatte wehren können, war der Unfug schon verübt. Die Täterin fuhr vom Fenster zurück und versteckte sich unter dem Sims. Die Genossin aber sah, wie der Eisenbärle stehenblieb und mit seinen ausgelöschten Augen heraufschaute. Das ging ihr ins Herz. Im Nu stand sie unten und wischte ihm mit einem Handtuch das Wasser aus den Haaren und vom Rock und sagte ihm, was ihr gutes Herz ihr eingab. In dieser Stunde verlor sie eine Freundin und gewann einen Freund.

Auf diesen ihren alten Freund fielen ihre Blicke, als sie auf den Marktplatz zurückgekehrt war. Sie sprang zu ihm hin und fragte: »Eisenbärle, hast du mein kleines Brüderchen nicht fortgehen hören? Es ist aus unserem Höfchen entwischt, und wir wissen nicht, wohin. Er hat sein grünes Mäntelchen an. Ja so ...«

Der Eisenbärte neigte sein Haupt und sagte: »Dein Brüderchen ist nicht dahin gegangen, und dein Brüderchen ist nicht dorthin gegangen. Es ist Schule gegangen.«

»Ach, was sollte es Schule gehen!« rief das Mädchen und sah in die kurze Gasse hinein, die zur Synagoge führte. »Da müßten wir's schon lang wiederhaben. Dort kann es ja nirgends hinaus. Du hast gewiß geschlafen, Eisenbärle. Weißt du, wo der Seehund hingegangen ist? Ich fürchte, er ist dem Seehund nachgezogen.«

»Der Mann mit dem Seehund ist zum Hinterstädtchen hinaus«, antwortete der Eisenbärle.

»Danke!« rief das Kind und sprang über die Mühlbrücke dem Roten Reisig zu.

»Er hat sein grünes Mäntelchen an!« sagte sie sich zum Trost. Es war ihr, als könne ihrem Brüderchen nichts Böses widerfahren, wenn er sein grünes Mäntelchen anhabe.

»Sie ist ein gutes Kind!« murmelte der Eisenbärle vor sich hin und wandelte langsam zur Schule.

Vor seiner Erblindung war er Synagogendiener gewesen. Er hatte das Gärtchen rings um die Schule angelegt, das den Abschluß der Sackgasse bildete. Ehe er zum Nachtmahl in das Judenhaus ging, das gerade an der Reihe war, saß er noch gern ein Weilchen auf der sonnigen Bank mitten im Schulgärtchen, roch den Jasmin, den er gepflanzt hatte, und hörte dem Pfeifen der Vögel zu.

So tat er auch heute. Aber er mußte an das gute Kind denken und an dessen verlorengegangenes Brüderchen, und er hob das Gesicht und lauschte. – Wie war es denn all die Weile her dem Birrle ergangen?

»Seehund!« sagte er, als er in dem Gäßchen stand, und er ging seinem Näschen nach, bis er mitten im Judengärtchen angelangt war. Hier setzte er sich auf den Boden und spielte eine Weile mit den Kieseln und Blumen, bis ihn ein Bienchen vertrieb. Dann ging er um die Synagoge herum, bis sie hinter ihm lag, und stand zwischen dem weißen Gemäuer und dem lebendigen Hag. Da kam eine Katze hergejagt und sprang über die Hecke. Hinter ihr kam ein kläffender Köter daher. Der schaute den Hag hinauf, aber er war ihm zu hoch, dann suchte er ein Loch und fand endlich eins. Er drängte sich durch, und fröhlich bellte er einer Taubenschar nach, die er aufgescheucht hatte.

Der Birrle sah das Loch an, durch das der Spitz geschlüpft war, dann legte er sich auf den Bauch und machte es wie jener. Aber es ging mühsam und langsam, und als er sein Köpflein und die beiden Arme durchgezwängt hatte, war er müde geworden und schlief ein.

Ein roter Schneck fing an, unter seinem Hälslein durchzukriechen, ein Haselmäuschen schnüffelte in sein Öhrchen hinein, ein Falter sog an seinem Odem; und der Schneck kam wohlbehalten auf der anderen Seite heraus. Da wachte Birrle auf, rieb sich die Augen und schaute nach rechts und nach links.

»Seehund!« sagte er, kroch vollends zur Hecke hinaus, richtete sich auf und ging strebsam weiter quer über die Wiese auf den Mühlbach zu.

Als er das Wieschen durchwandelt hatte, stieg er einen kurzen Rain hinab, schlüpfte durch ein Weidengebüsch und stand vor dem klaren, stillen Spiegel des Baches.

Das Wasser hatte sich hier tief in das weiche Ufer gefressen, und so war eine stille, grünüberhangene Bucht entstanden; anderthalb Klafter weiter rauschte die Strömung des Mühlbachs.

Als der Birrle am Rande des Wassers angekommen war, beugte er sich vor und schaute in den Spiegel. Da sah ihm ein Gesicht entgegen, das er schon gesehen hatte. »Seehund?« rief er überrascht, halb freudig, halb fragend. Als sich aber das Bild freundlich zu ihm herneigte, war aller Zweifel vorbei. »Seehund birr!« rief er entzückt, beugte sich nieder, um seinen Freund zu streicheln, und fiel in den Bach.

Als er wieder auftauchte, hatte ihn das ziehende Wasser aus dem Gumpen hinaus in den freien Lauf geschoben, die Strömung faßte ihn und riß ihn gegen die Mühle zu. Das grüne Mäntelchen bauschte sich über ihm wie ein Segel, und als er unter dem schmalen Steg hindurchtrieb, verfing sich die wehende Seide in die Zähne des eisernen Rechens, der unter dem Stege angebracht war, damit er das weggeschwemmte Wiesenheu aufhalte. Der Rechen faßte das Mäntelchen unter den Ärmchen und an der Brust und hielt es fest.

Das Seidenzeug war gut, und so hing er wie der Dieb am Galgen. Das Gesichtchen war über dem Wasser, aber die Gliederchen wurden vom rauschenden Bächlein überspült und geschwenkt, und wenn das grüne Mäntelchen unter der Last des zappelnden Bübleins schliß, dann trieb ihn die Strömung unter dem Rechen durch ins Verderben. Sein Zetergeschrei drang in kein menschliches Ohr. Bald wurde aus dem Geschrei ein leises Wimmern, und endlich verstummte das auch. Nur dann und wann, wenn eine hochaufspritzende Welle in seine Ohrmuschel schlug, oder wenn ein vorüberschwimmender Enterich nach seinem Fingerlein schnappte, wimmerte er wieder auf. So kam es, daß sein Vater ahnungslos um das Synagogengärtchen herumlief und, da die Welt dort ein Ende hat, wieder zum Gäßchen hinausging, während sein Söhnchen einige Schritte davon in Lebensgefahr schwebte.

Aber als der blinde Eisenbärle in demselben Gärtchen auf seiner Bank saß und den Jasminduft roch und auf das Pfeifen der Vögel horchte, hob er mit einem Male sein Gesicht hoch und lauschte. Dann stand er auf, ging um die Synagoge herum in den hinteren Teil des Gärtchens und horchte über den Hag hinüber. Seine lichtlosen Augen wandten sich dem Stege zu.

»Gott der Gerechte!« murmelte er vor sich hin und stützte die zitternden Hände auf seinen Stab.

Aber nur einen Augenblick hielt er still. Er wußte einen Schlupf, dort hinaus zu kommen: durch das Haus des jetzigen Synagogendieners. Der Mann war auf dem Handel, aber seine Tochter, die Sara, mußte zu Hause sein. Machte sie nicht der Frau Aaron Meyer ein neues seidenes Kleid auf der Maschine?

Das Eisenbärle verließ das Gärtchen, tastete sich nach dem Nachbarhause, die steinerne Treppe hinauf, in den Hausflur hinein. Die Stube war verschlossen, Daniel Hirsch war auf dem Handel. Aber oben rasselte die Maschine der Sara. Sollte er hinauf und die Sara holen? Aber die Treppe war steil, halsbrecherisch; einmal ist er hinaufgestiegen, vor sieben Jahren, und wie er halbwegs oben war, ist er hinuntergefallen. Zudem, was sollen die Weiber? Was können die Weiber? Sie können schreien, sonst nichts.

So ging er denn an der Stiege vorbei, die hintere Haustür hinaus durch ein Höfchen und durch ein Gärtchen und durch ein Pförtchen der Stadtmauer auf die Wiese hinaus.

Als er draußen stand, fiel ihm ein, daß er ein alter, blinder, schwacher Mann sei. Sollte er nicht zurückgehen in das Städtchen und Hilfe holen? Aber Gott hat mich nicht hergeführt, daß ich soll weglaufen, Gott hat mich hergeführt, daß ich soll retten.

Und er tastete sich mit seinem Stab über die Wiese dem Steg zu.

Jetzt ging es bergab. Er mußte sich niedersetzen und hinunterkriechen. »Sie ist ein gutes Kind, sie ist ein gutes Kind!« murmelte er, während ihn die Todesangst schüttelte. Jetzt hatte er wieder festen Boden. Er stand auf und tastete mit dem Stab. Dicht vor ihm ging es ins Wasser hinein. Wo war der Steg, oben oder unten? Er lauschte und hörte das Rauschen des Bachs weiter aufwärts, und von dorther klang jetzt wieder ein leises Gewimmer.

Vorsichtig ging er das Ufer entlang auf das Rauschen zu, indem er mit dem Stock jeden Schritt vortastete und sich des festen Bodens versicherte. Jetzt stieß er mit dem Stab an einen Stein, mit dem Fuß an eine Stufe. Hier ging es zum Steg hinauf.

Er kauerte nieder, legte den Stock in seinen Schoß und griff mit den Händen. Es waren eine, zwei, drei Stufen, und hier war das Brett.

Er richtete sich auf, setzte den Fuß auf die erste Stufe und zog den Körper nach. Ebenso auf die zweite, dann auf die dritte, und jetzt stand er oben auf dem Brett.

Er wußte, daß das Brett sehr schmal war. Als er noch sah, war er als ängstlicher Mann niemals darüber gegangen. Und jetzt sollte er sich darauf wagen, da er in der Finsternis ging und hier eine Tiefe und dort eine Tiefe brauste.

Sie ist ein gutes Kind!

Mit seinem getreuen Stock vorwärts fühlend und nach den beiden Rändern des Brettes tastend, schob er seine Füße langsam vor und kam so endlich bis nahe an das andere Ufer.

Da stand er still, unmittelbar unter sich, ein klein wenig weiter zurück, hatte er's gehört, ein schwaches Ächzen.

Er drehte sich vorsichtig um und schob sich ein wenig nach der Seite zurück, von der er gekommen war, dann ließ er sich in die Knie nieder, legte seinen Stab zwischen die Beine und griff mit beiden Händen, rechts und links an dem Brette vorbei, hinunter in die Tiefe.

Da hörte er wieder das Gewimmer, gerade unter sich zur rechten Hand, aber weiter unten, als seine Finger reichen konnten. Darum legte er sich auf den Rücken, streckte sich aus, daß er der Länge nach auf dem Brette lag, schob sich links hinüber, damit er sich ungefährdet auf die rechte Seite legen könne, drehte sich langsam um, bis sein Rücken oben war, und streckte seinen linken Arm hinunter, so weit es ging.

»Was für ein feines Seidenzeug!« murmelte er.

Jetzt hatte er das Mäntelchen gepackt, und jetzt griff er in einen Ruschelkopf, und jetzt faßte er ein Ärmchen, und jetzt hielt er das Kind frei in der Luft, denn das Mäntelchen war völlig durchgeschlissen. Aber er konnte das Kind nicht zu sich auf das Brett lüpfen, dazu war sein Arm zu schwach. Er wollte die Knie zur Brust ziehen und aufstehen und das Kind so zu sich aus der Tiefe nehmen, aber seine Knie zitterten, und bei dem ersten Versuch, sich aufzurichten, glitten sie kraftlos zurück. Er griff mit der rechten Hand nach dem Stock, aber stieß mit dem Ellbogen an seinen getreuen Freund, und der fiel in den Bach.

Da blieb ihm denn nichts anderes übrig, als um Hilfe zu schreien. Das tat er denn auch erbärmlich genug, und Birrle stand ihm bei, so gut sein ausgeschrienes Kehlchen es vermochte. Fräulein Sara Hirsch hörte die Hilferufe nicht, denn sie nähte gerade eine Rüsche. Aber Birrles Vater hörte das klägliche Geschrei.

Auf seiner verzweiflungsvollen Suche war er seiner Tochter begegnet, die hatte ihm erzählt, der Eisenbärle habe gesagt, das Kind sei Schule gegangen. Darauf war er umgekehrt, war in das Städtchen zurück und in das Judengärtchen geeilt. Sein Töchterchen war ihm vorausgesprungen. Sie kam ihm mit dem Mützchen entgegen, das sie an der Hecke gefunden hatte; jetzt bemerkten sie auch das Loch, durch das der Birrle geschlüpft war, und im gleichen Augenblick hörten sie das Geschrei des Eisenbärle und das wohlbekannte Wimmern des verlorenen Kindes.

Ach, wie erschrak und wie jubelte ihnen das Herz, als sie, über die Wiese laufend, den Eisenbärle in seiner jammervollen Lage erschauten und gleich darauf auch das Kind, wie es über dem Wasser schwebte!

Der Vater sprang in den Bach, der über dem Steg nicht tief war, und nahm dem Eisenbärle sein Söhnchen aus der Hand. Er drückte es flugs an das Herz und reichte es seinem Töchterchen, dann half er dem alten Mann auf die Beine und führte den Zitternden über den Steg und in sein Stübchen beim Samuel Bär am alten Turm.

Der Birrle wurde daheim ausgezogen und untersucht vom Wirbel bis zur Sohle. Aber es fehlte ihm nichts, auch nicht das allergeringste. Ein Schühlein mit samt dem Strumpf war fort, und das grüne Mäntelchen war in zwei Teile gespalten wie der Mantel des heiligen Martinus.

Tiefe Atemzüge, häufige Seufzer und verdutzter Blick waren die einzigen Merkzeichen davon, daß etwas Außerordentliches mit ihm vorgegangen war, und da er sich an dem Rest des Tages überaus sanftmütig betrug, so erhoffte die Mutter von dem Ereignis einen günstigen Einfluß für seinen werdenden Charakter.

Als ihn die Mutter in tiefer Bewegung aus dem Abendbade nahm, hing sie die beiden Hälften des grünen Mäntelchens um das dralle, nackte Körperlein. Es sollte sich noch einmal um die bewahrten Gliederchen schmiegen und dann bei den Reliquien der Familie aufbewahrt werden. Die Mutter küßte ihr Birrle auf das gerettete Herzchen, auf das von dem Griff Eisenbärles aufgeschwollene Ärmchen, und dann hob sie ihr Kerlchen hoch zum Spiegel empor, damit es sich noch einmal im grünen Mäntelchen schaue. Als er aber sein Bild im Spiegel erblickte, wandte er sein Auge voll Entsetzen weg und klammerte sich um der Mutter Hals.

»Was hast du denn, Liebling? Schau doch, wer ist denn das?«

Da warf er einen ängstlichen Blick nach dem Spiegel und hauchte: »Seehund!«

Die Mutter ahnte den Zusammenhang. Sie tanzte mit ihrem Kindchen im Schlafzimmer auf und nieder, damit es den Eindruck vergessen habe, wenn es sich zum Schlafen lege. Das war denn auch der Fall; und er überwand bald die Furcht vor sich selber, fing an, sich zuzulächeln, und endlich wagte er es auch, festgehalten von der Mutter und sich festklammernd an deren Hemdenpreis, sein Bild im Spiegel zu »eien«.

Und ein merkwürdiger Vorgang vollzog sich in seinem Inneren. Das Bild von seiner eigenen Persönlichkeit verschmolz mit dem Bilde des Seehunds zu einer Vorstellung, mit der er sich selber meinte, und zugleich ein erhabenes Wesen, das von ihm und mehr noch von anderen Ehrfurcht erheischte. Wenn man ihn fragte: »Wer bist du?« oder: »Wie heißest du?« dann antwortete er voll Selbstgefühl: »Birr Seehund!« – Und wenn er etwas in Beschlag nahm und zum Zeichen dessen die Hand darauf legte, dann sagte er: »Seehund birr!« Das bedeutete: Dies gehört dem Seehund, nämlich mir.

Auch der Eisenbärle nahm von dem Abenteuer keinen Schaden. Er lebte noch siebzehn Jahre lang frisch und gesund und trug sich sogar noch einmal mit Freiersgedanken. Und warum denn nicht? Hieß er nicht Abraham wie sein großer Vorfahr?

Seine Heldentat verbreitete einen sonnigen Glanz über den Rest seines Lebens. Er wurde verehrt und geliebt, und eine Weile hindurch verstummte sogar der Kindergesang: Eisenbärle, kreideweiß ..., weil die Sänger von Birrles Brüdern gehauen wurden. Aber das Eisenbärle sagte zu seiner Freundin: »Das andere ist mir lieber als das Wehegeschrei. Ich bin's gewöhnt; es tut mir wohl.«

Da wurden Birrles Brüder und später auch der Birrle selbst die Vorsänger, und der Kantus erscholl mit ungeschwächter Kraft, bis der Eisenbärle, nahe an die Hundert alt, mit Tod abging.

Was dankbare Liebe für den blinden Juden erdenken konnte, ward ihm zuteil. Am wohlsten tat ihm der Zuspruch seiner Freundin; besonders in den Tagen, wo ihm seine Glaubensgenossen abhold waren, in den Tagen seiner Freierei, war ihm ihr Trostwort eine gute Gabe. Und als endlich der Tod auch an ihn herankam, tat es ihm sanft wie ein warmes Streicheln, wenn er zwischen den zitternden Stimmen seiner ehrwürdigen Brudersöhne und den Judenbässen seiner Schwesterenkel die milde Stimme seiner Freundin vernahm. Sie war schon Gattin und Mutter und kam von ihrem Landgut herüber, so oft sie konnte.

In seinen Fieberphantasien erlebte er noch einmal all das Grauen seiner großen Stunde, und es kam ihm vor, als ob er darinnen umgekommen wäre. Mit halb klagender, halb erhabener Stimme sang er vor sich hin:

»Ich bin hinuntergestiegen in die Fluten der Finsternis, Ich habe das Kind gerettet aus dem Rachen des Todes: Mein Tod war Simsons Tod, Wie ein Held bin ich gestorben.«

Da reichte ihm seine Freundin den Eierpunsch. Sie hob seinen Kopf mit dem Kissen in die Höhe und sagte: »Eisenbärle, trink einmal!«

Er schlürfte den süßen Trank, dann legte er seine Hand auf ihren braunen Scheitel und sagte: »Du bist ein gutes Kind!«

Seit Menschengedenken war keine solche Judenleiche wie die des Eisenbärle gewesen. Die Leiche des reichen Aaron Meyer war nichts dagegen gewesen. Von weitem kamen die Leute, um dem Patriarchen der Gegend das letzte Geleit zu geben. Seine Freundin ging mit den Judenweibern bis zum ersten fließenden Wasser, der Birrle aber, der von der Hochschule herübergekommen war, half den Judenmännern das Grab zuschütten droben auf dem Judenfriedhof im weiten, schweigenden Walde.

Er ist später ein braver Mann geworden, und seine Füße laufen noch rüstig in einer deutschen Stadt herum. Wenn er sich einem Fremden vorstellt, sagt er nicht mehr: »Birr Seehund!« Aber wenn im Kampf des Lebens die tapfere Stimmung über ihn kommt, die der Deutsche sonst in die Worte kleidet: »Dies ist unser; so laß uns sagen, und so es behaupten!« sagt er heute noch: »Seehund birr!« und legt die Hand darauf.


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