Adolf Schmitthenner
Heidelberger Erzählungen
Adolf Schmitthenner

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Die Entdeckung des Heidelberger Schlosses vor hundert Jahren

Als sie zu steigen begannen, fing das Geläute an, und während sie an den Häuschen hin die schmale Gasse hinaufwanderten, eilten die Kirchgänger an ihnen vorüber in die Stadt hinab; dabei ruhten die Augen der Gesangbuchträger mit Neugier oder mit Wohlgefallen auf den edeln Gestalten. Die Männer schauten die junge Frau an, und wenn die Blicke zu dem hochgewachsenen Gatten hinüberschweiften, so geschah es nur deshalb, weil man schauen wollte, wie der Mann aussehe, dem ein so holdes Geschöpf zu eigen sei. Die Frauen und Mädchen aber betrachteten entzückt den schönen Knaben, der zwischen Vater und Mutter glückselig dahinschritt.

Den Eltern aber wurde es feierlich zumute. Hinter ihnen her und über die Häuser herein rauschte das Geläute. Sie spürten, wie rings um sie der Zug wirksam war hinunter zu den rufenden, sammelnden Glocken; sie aber fühlten sich ausgenommen, frei und sich selbst genug, sie ließen die anderen vorüberziehen und stiegen hinauf und hinaus in die Höhe und in die Einsamkeit.

Unwillkürlich schauten sie einander an und lächelten. In dem Manne schwoll die Sehnsucht. Sie sah es seinen Augen an, und sie lächelte wieder, so, wie überlegene Güte dem Ungestüm lächelt.

»Hast du gewußt, daß heute Sonntag ist?« fragte sie.

»Einen Augenblick dachte ich gestern daran, als das Gewitter am schlimmsten tobte und ich mit dem Kutscher die Pferde hielt. Ich weiß nicht, wie es kam. Als ich den bäumenden Braunen herunterriß und der Boden zitterte unter dem Donner, der uns über den Köpfen hinrollte, dachte ich: Morgen ist Sonntag! Und ich wurde ganz ruhig.«

»Und weißt du, was mir alle Furcht genommen hat? Das stille Pfeifen des Fuhrmanns, mit dem er die Pferde besänftigte, und zwischenhinein aus der Finsternis deine Zurufe, die ich zwar nicht verstand, aber die mir doch sagten: er ist da. Das einzige Wort, das ich verstanden habe, war ›Portugal‹. Portugal? Darüber verwunderte ich mich also, daß ich leicht über den Schrecken hinauskam, als der Blitz nicht weit von uns in den Bergwald schlug. Was wolltest du eigentlich mit Portugal?«

»Ich habe dir zugerufen: Bei diesem Unwetter fahren wir nicht bis Weinheim, sondern bleiben in Heidelberg über Nacht im ›König von Portugal?‹.«

»Oh, unsere Herberge hat einen so stolzen Namen?« rief der Knabe. »Und ich habe sie noch gar nicht einmal recht angesehen!«

»Ich auch nicht, mein Sohn«, sagte die Mutter. »Ich war todmüde und bin ins Bett gesunken und eingeschlafen, ohne recht zu wissen, wo wir sind.«

»War ich auch so müde?« fragte der Knabe.

»Du bist sogar nicht einmal aufgewacht«, sagte der Vater. »Wir haben dich als einen Schlafenden aus der Kutsche ins Bett getragen, der Aufwärter und ich.«

»Ach, der dumme Schlaf!« rief der Knabe. »Wir haben schon so vieles erlebt, und ich habe alles verschlafen: die französischen Sappeurs mit ihren langen Bärten, die von euch Brot und Wein und Geld wollten, dann die Zigeuner, die euch zu ihrer Hochzeit einluden, beim großen Feuer, mitten im Wald, und nun gestern nacht das schöne Gewitter! Wenn ihr wieder ein Abenteuer erlebt, müßt ihr mich aufwecken.«

Unter diesen Reden hatten sie den Hügel erstiegen. Es hatte ausgeläutet. Sie wandten sich um und schauten hinüber und hinab und hinaus.

»O wie schön!« riefen sie eines Mundes.

»Es ist doch gut, daß wir den Berg hinaufgegangen sind«, meinte das Kind.

»Das steckt uns in den Beinen«, sagte der Vater. »Wohin wir auch kommen mögen, wir müssen und müssen den Berg hinauf und von oben hinunterschauen.«

»Aber der Berg da drüben wäre höher gewesen«, rief der Knabe.

»Wo mag denn nur das Kurfürstenschloß stehen?« fragte die Frau. »Unten in der Stadt oder draußen in der Ebene?«

»Es muß auf der Höhe liegen«, erwiderte der Gatte, »denn es ist eine alte Burg, und wo solche Berge sind wie hier, haben die Vorfahren keine Schlösser in die Tiefe gebaut. Ich möchte glauben, daß es hier oben läge; aber das war kein Burgweg und keine Schloßstraße.«

»O Vater, o Mutter, schaut!« rief in diesem Augenblick die Stimme des Knaben. Er war einige Schritte weiter vorgelaufen und stand mit ausgebreiteten Armen da. Die Eltern gingen ihm nach und sahen nun zu ihrer Freude das Schloßtor und den überbuschten Wall mit seiner tiefen Mauer vor sich liegen. Aber dichtes Gebüsch und zwischen hohen Bäumen schimmerten hochragende Wände und verhießen eine geheimnisvolle Welt.

»Wie schade! Ich habe mein Zeichenbuch vergessen!« rief der Vater. »Ich eile zurück in das Gasthaus, es zu holen.«

»O bleibe hier und zeichne mit den Augen«, bat die Frau.

»Wir müssen heute mittag weiterfahren, und das hier ist so schön, das darf in meinem Buche nicht fehlen.«

»So wollen wir mit dir gehen!«

»Wozu? Setzet euch dort auf die Mauer, die Sonne hat die Steine ganz trocken gebrannt. Hier wartet auf mich. Ich bin bald wieder bei euch! Aber verlasset nicht den Platz!«

Und er eilte rasch den Weg zurück, den sie heraufgekommen waren.

Die Mutter hatte sich auf das steinerne Mäuerchen gesetzt, oberhalb der Torbrücke, und sah dem Gatten nach, damit ein etwaiger letzter Gruß nicht verlorengehe. Als sie diesen empfangen und mit der rechten Hand wiedergegeben hatte, schaute sie sich nach ihrem Söhnlein um.

Aber wo war das hingeraten? Sie wandte sich rückwärts und schaute über ihre rechte Achsel und den Schloßgraben durch den Torbogen in eine grüne Wildnis hinein.

»Lothar! Lothar!« rief sie.

»Hier bin ich, Mutter!« antwortete die helle Stimme in nächster Nähe, und alsbald kam der Knabe aus dem Gebüsch heraus und sprang durch das Tor auf die Mutter zu.

Sein Gesichtchen glühte vor Erregung.

»O Mutter, Mutter, komm! Oh, was ich gesehen habe! Himmelhohe Bäume und dickes Gestrüpp und Gebüsch, und Himbeeren, viele, viele! Und mitten drin ein wunderschönes Tor, ohne Haus und ohne Mauer; aber man kann nicht durch, es ist ganz zugewachsen. O komm, Mutter, komm.«

»Wir wollen auf den Vater warten und dann alles zusammen ansehen. Bleibe hier!«

»Nein, wir wollen's zuerst ansehen und es dann dem Vater zeigen.«

»Aber mir gefällt alles am besten, wenn ich's zugleich mit deinem Vater zum erstenmal sehe.«

»Und mir gefällt alles am besten, wenn ich es ganz allein zum erstenmal sehe. Adieu, Mutter!«

»Verirre dich nicht!«

»Ich bin sogleich wieder da.«

Und richtig, ehe noch die Mutter den ersten sorgenden Gedanken hegte, kam er schon aus der Wildnis hervorgesprungen.

»Mutter, Mutter!« rief er und schwang sein blaues Mützchen. »Nun bin ich doch durch das Tor gekommen. Weißt du, was dahinter ist? Ein wilder Garten mit hohen Bäumen, und auf dem Boden bis hoch hinauf ein Gewirr von Dornen und Hecken und hinter einem breiten Graben ein hoher Turm und zerfallene Paläste. Oh, du glaubst nicht, wie schön das alles ist. Aber du mußt kommen, es ist erschrecklich viel zu sehen!«

Die schöne Frau strich dem Knaben die wirren Haare aus der Stirn und sagte lächelnd:

»Der Vater wird bald wieder da sein. Er wird uns alles erklären, dann verstehen wir's viel besser. Er wird zeichnen, und wir werden ihm zuschauen.«

»Laß mich noch einmal hinein! Ich komme gleich wieder.«

»Aber du mußt mir immer antworten.«

»Ja, Mutter. Adieu!«

»Lothar!«

»Mutter!«

»Lothar!«

»Mutterchen, oh!«

»Lothar! – Lothar!«

Es kam keine Antwort, die junge Frau stand auf und ging langsam auf den Torbogen zu und durch das Tor hindurch in den Bezirk hinein.

»Lothar!«

Da rauschte es im Gebüsch, und der Knabe kam heraus. Er ging auf den Zehen und war blaß geworden und zitterte in tiefster Bewegung.

»O Mutter, was ich gesehen habe!«

Er schlang seine Ärmchen um die Frau. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte ihn an sich.

»Komm heraus«, flüsterte sie. Sie schaute schüchtern auf in die stille unendliche Wildnis hinein. Ein leiser Schauder kam über sie. Sie führte ihr Kind zum Tor hinaus, an dem steinernen Schildwachthäuschen vorbei, setzte sich auf die Mauer und zog ihren Jungen auf den Schoß.

»Was hast du gesehen?«

»O Mutter, ich kann es nicht sagen.«

»Schau hinaus – wie freundlich und heimelig ist es hier! Siehst du dort die Tauben auf dem Dach? Die sind fast so groß wie die deinen daheim.«

»O Mutter, weißt du, wie es war? Geradeso, wie du mir erzählt hast.«

»Ich weiß nicht, was du meinst, Kind.«

»So, wie du mir erzählt hast, so war es.«

»Aber ich habe dir doch nie von Heidelberg erzählt. Ich war ja noch niemals hier.«

»Ach, so meine ich nicht. Ich meine, wenn wir in der großen Stube sitzen nach dem Weiher hinaus, ehe die Marianne das Licht bringt, wenn wir zwei beide auf dem Sofa sitzen, und der Mond scheint zum Fenster herein, und du erzählst mir: gerade so ist es gewesen.«

»Ach, so meinst du!«

Die Mutter zog ihr Kind näher an die Brust und sagte: »Jetzt mußt du mir erzählen, wie war es?«

»Also! Ich bin geradeaus gegangen durch Gebüsch und Dornen; da sah ich über mir ein Häuschen, mitten in den Baumwipfeln, und darunter ein Tor. Ich ging drauf zu und kam über eine Brücke und durch das Tor und wieder über eine Brücke, eine breite und lange, dann kam ein hoher dicker Turm, durch den ging ich mitten hindurch wie durch eine gewaltig große Höhle, und dann« – der Knabe schöpfte tief Atem – »dann kam ich in einen weiten Hof, der war ganz wild überwachsen. Hohe Bäume sind drinnen und Holundergebüsch und überall und überall Efeu und Efeu. Aber was noch? Mutter, du glaubst es gar nicht! Von allen Seiten hohe Paläste. Die einen sind verfallen, aber die anderen stehen noch, stolz und prächtig. Der blaue Himmel scheint durch die Fenster, und steinerne Männer und Frauen schauen aus dem Efeu. Kein lebendiger Mensch! Aber viele Schmetterlinge stiegen über den grünen Boden, und die Vögel singen in den Bäumen.«

»Da bist du in den Schloßhof geraten. Was sich der Vater freuen wird, wenn wir all dies anschauen. Aber nun bleibst du hier!«

»Oh, nur noch ein einziges Mal! Ich habe noch lange nicht alles gesehen. Das Schloß ist noch viel, viel größer. Ganz hinten steht noch ein gewaltiger Turm. Dort muß es herrlich sein!«

»Aber es ist alles so wild und einsam. Da könntest dich verlaufen im Dickicht oder in ein Loch stürzen.«

»Ich? O nein, Mutter. Ich bin vorsichtig und schaue wohl, wohin ich trete. Und klettern kann ich in die Tiefe und in die Höhe. Verirren werde ich mich sicherlich nicht. Ich weiß, ich muß so gehen, wie jetzt die Sonne scheint, dann komm' ich wieder zu dir.«

Die Frau widerstrebte noch, aber sie war schon im Nachgeben. Lothar bestürmte sie mit Liebkosungen und hatte es bald gewonnen.

»Aber du kommst wieder, sobald ich dich rufe.«

»Jaaa – oder, Mutter, wir wollen es diesmal so halten: ich gehe fünfhundert Schritte weit, dann kehre ich wieder zurück. Bis du auf tausend gezählt hast, bin ich wieder bei dir.«

»Du mutest mir eine lustige Beschäftigung zu«, sagte die Mutter lächelnd. »Nun denn in Gottes Namen, so lauf!«

Sie stand und sah ihrem Knaben mit stolzem Blick nach. Dann spazierte sie langsam vor der Brücke auf und nieder, schaute bald in die Ebene hinaus, bald die Gasse hinunter, bald durch das Schloßtor in die grüne Märchenwelt hinein. Darauf sah sie einer grauen Katze zu, die am Ende des Mäuerchens auf der warmen Steinplatte lag und aufmerksam hinunter in die Brennesseln blinzte.

Da fiel ihr auf einmal ein, daß ihr Gatte schon lange hätte zurück sein müssen. Er wird etwas gefunden haben, was er zeichnen muß. – Aber Lothar! – –

Sie trat unter das Tor und schaute in die Wildnis. Das sind die Falter, von denen er gesprochen hat, und das sind seine Vögel; aber wo ist er selbst?

Ich soll auf tausend zählen; warum hab' ich's denn nicht getan?

Und nun fing sie an, das Versäumte nachzuholen.

Ehe ich bei hundert bin, ist er da, sagte sie sich, als sie über die dreißig war. Und sie zählte getrost weiter, aber das Herz schlug ihr immer höher hinauf.

Sie ging zählend bis zu ihrem Sitz zurück, ließ sich nieder, schloß die Augen und zählte und zählte, bis hundert; – und nun war sie bei zweihundert, bei dreihundert – und er war noch nicht da. Weiter, weiter. Ehe ich bei fünfhundert bin, habe ich ihn wieder. Fünfhundert – und sechshundert und weiter hundert – und hundert. Als sie neunhundertneunundneunzig gezählt hatte, hielt sie eine Weile inne. Dann sagte sie laut vor sich hin: »Tausend.« Und nun war es, als ob alle Geister der Furcht wie auf ein Losungswort auf sie einstürzten.

Sie sprang auf, eilte durch das Tor in das Dickicht hinein und rief: »Lothar!«

Eine Amsel flog erschreckt aus dem Gebüsch und flatterte mit schwerem Flügelschlag in die Wildnis hinein. Es raschelte auf dem Boden. Aber keine Antwort.

»Lothar! – Lothar!« rief sie in kurzen Unterbrechungen. Und mit jedem vergeblichen Ruf wuchs ihre Angst.

Da hörte sie hinter sich die Tritte ihres Gatten.

»Er kommt, und ich habe das Kind verloren«, sagte sie zu sich. »Ich muß ihm das Kind bringen, wenn er mir entgegenkommt.«

»Lothar! Lothar!« und sie lief, ohne des Rufes ihres Gatten zu achten, mitten durch das Gestrüpp zwischen den Ruinen hin, die rechts und links durch die Bäume und über die Büsche auf sie niederblickten.

»Hier geht es in den Schloßhof«, sagte sie zu sich. »Hier ist er nicht hinein. Er wollte zu dem hohen Turm, von dem er erzählte.«

Und sie arbeitete sich weiter durch Brombeerhecken und Efeugewirr und eine grüne Welt aller Gesträuche und alles Laubwerks auf das rotschimmernde Gemäuer zu.

Ihr Gatte ging ihr langsam nach. Er ahnte nichts von ihrer Angst. Sie geht dem Kleinen nach, der ihr den Weg zeigt, dachte er und ging schauend und staunend in die Märchenpracht hinein.

Da hörte er vor sich einen leisen Schrei. Es war die Stimme seines Weibes. Er schaute hin und sah die helle Gestalt vor seinen Augen verschwinden.

War es Traum oder Wirklichkeit? Er schloß die Augen und öffnete sie wieder. Die Käfer summten und eine Waldtaube gurrte; grüngoldener Sonnenschein flutete über die stillen Zweige hin.

Er legte sich die Hand vor die Stirne. War sie es, oder war sie es nicht? Sie war es gewesen, ihre Gestalt, ihr Kleid, ihr braungelocktes Haar. Aber sie war so wundersam vor ihm hergeschwebt, ohne seiner zu achten, und doch so lockend und ziehend, wie wenn sie hier ihre Heimat hätte in diesen Trümmern; und sie war vor ihm verschwunden, als ob sie der Boden verschlungen hätte. »Karoline!« rief er, aber nur mit halber Stimme.

Das war sie. Er hatte sie deutlich rufen hören, aber aus der Ferne und aus der Tiefe. »Lothar!« hatte sie gerufen. Also sucht sie den Knaben, der sich in der Ruine verirrt hat.

Er ging vorsichtig der Stimme nach. Aus dem Gestrüpp wurde dichtes Gebüsch, Ahorn und Birken, Hainbuchen und Akazien. Er bog die Zweige auseinander und wollte vorwärtsschreiten. Da folgten seine Augen dem einbrechenden Sonnenlicht, und er sah, daß der Boden aufhörte. Jenes Gebüsch, durch das er schlüpfen wollte, waren die Wipfel hoher Bäume, die aus der Tiefe wuchsen.

»Hier ist mein Weib hinuntergestürzt«, sagte er zu sich, trat in das Gezweige eines Vogelbeerbaumes, hielt sich mit den Händen fest und kletterte hinunter. Vom untersten Ast sprang er in die Tiefe und fiel auf weiches Moos. Ringsum Moos und Farnkraut und Efeubüschel, und dazwischen wuchsen die dichtzweigigen Stämme in die Höhe.

»Auch sie wird weich gefallen sein«, sagte er und rief: »Karoline, Karoline!«

Von ferne, ganz leise, kaum hörbar, kam Antwort. Es schien ihm, als ob es Lothar gerufen hätte.

Er wand sich zwischen den Stämmen hindurch, ging dem Tone eines Wassergeriesels nach und kam an einen gemauerten Brunnen, der mitten in der grünen Wildnis lag, von Zweigen überwölbt. Aus zwei eisernen Röhren sprudelte das Wasser. Er stieg die Stufen hinab, beugte sich hinüber und trank. Das Wasser war köstlich.

»Ob wohl mein Weib hier getrunken hat?« fragte er sich. Da sah er etwas aus dem Kieselgrunde blinken. Er griff hinein und hielt einen wohlbekannten Kamm in der Hand.

»Sie hat hier ihren Durst gelöscht«, sagte er und streichelte mit der rechten Hand das dunkle Wasser; »dabei ist ihr der Kamm aus den Locken gefallen.«

»Karoline!« rief er, »Karoline!«

Aber diesmal bekam er keine Antwort.

Er stieg die Stufen hinauf und suchte einen Ausgang aus dem Zwinger. Da kam er an ein rundes, aus gewaltigen Quadern errichtetes Bollwerk. Er ging daran hin und gelangte an einen Trümmerhaufen. Er stieg hinauf über geborstene Quader und Geröll und kam an viel klafterdickem, zerrissenem Mauerwerk vorbei in das Innere eines Turmes, der von dem grünen Wachstum, das ihn erfüllte, auseinandergesprengt schien. Durch einen schmalen Ritz schaute der blaue Himmel. Aber ihm hing drohend ein ungeheurer Mauerklotz, wie festgebannt mitten im Sturz, und zur Seite und rechts und links schossen schlanke Stämme in die Höhe, und die grünen Laubkronen schmiegten sich an die fürchterlichen Mauern.

Mit Schauder und Freude schaute der Mann in die Höhe und um sich. Das Skizzenbuch flog aus der Tasche, und während er zeichnete, sagte er: »Ich bin in einen Turm geraten, den Giganten auseinandergerissen haben. Sie konnten ihr Werk nicht vollenden. Der letzte von ihnen wandte sich noch einmal um und brach diesen Brocken vom Gipfel und warf ihn in die dampfenden Trümmer. Aber wie komme ich heraus, wie komme ich in die Höhe? Dort oben steht noch eine Säule, die das Gewölbe trägt. Dort hinauf!«

Er begann über die Trümmer durch die Haselbüsche emporzusteigen und griff nach zottigem Lärchengezweig, um sich daran in die Höhe zu ziehen. –

Während er sich kletternd mühte, schweifte sein Weib in der weiten Trümmerwelt umher und rief von Zeit zu Zeit nach ihrem Sohne. Auch sie war in den Schloßgraben hinuntergeglitten, ohne Schaden zu nehmen. Sie hielt sich im Fallen an den hängenden Efeuzweigen und fiel in ein dichtes Nest von hochgewachsenem Farnkraut. Die Stengel waren so stark und die Blätter so breit, daß die Frau über dem Boden in der Schwebe gehalten wurde. Sie stellte sich auf die Füße und schaute umher und dann in die Höhe voll bangenden Entzückens.

Ist er hier heruntergefallen, so hat er keinen Schaden genommen, dachte sie und arbeitete sich aus der Wildnis nach einer lichteren Stelle. So kam sie an den ummauerten Brunnen; sie stieg die Stufen hinab und trank; dann ging sie weiter im Graben, der Sonne entgegen. Sie hatte zur Rechten eine hohe Wand, zur Linken und vor sich wunderlich gestaltete Bollwerke und Mauergänge. Sie kletterte über Trümmer durch eine Bresche und schaute rechts und links in die schwarzen Höhlen hinein. Dann trat sie hinaus in einen freieren Raum. Hohe Bäume wiegten ihre Wipfel in der blauen Luft, üppiges Unkraut bedeckte den Boden. Von der hohen Mauer zur Rechten strömte der Efeu hernieder, und links hoch oben wuchsen die Türme des Schlosses über dem dunkeln Mauerteppich durch die Wipfel der Bäume gen Himmel empor.

An einer düsteren Bastei vorüber, die sich wie ein Wurzelknorren des steinernen Geästes an den Boden schmiegte, trat sie hinaus in eine Waldschlucht. Der Weg neigte sich rasch zur Tiefe. Durch die Zweige der Akazien und Maronen schimmerte eine Waldwiese, die sich über den gegenüberliegenden Abhang breitete und über deren oberem Rand hochgewölbte Steinbogen sich wider die Last des Berges leicht und anmutig stemmten.

Die junge Frau erkannte, daß sie sich vom Schlosse entfernte. Sie hemmte ihren Fuß, und nachdem sie Umschau gehalten hatte, stieg sie die Schlucht hinan, an dem Zwinger vorüber zur Höhe des Schlosses zurück.

Als sie in einen verwilderten Garten eingebogen war, der in den Busen der Schlucht auf einer von Mauern umschlossenen Terrasse gebettet lag, hörte sie rasche Schritte den Berg heraufkommen. Sie spähte hinunter und sah einen Mann in werktäglicher Kleidung. Er trug ein Stemmeisen auf der linken Schulter und stieg eilfertig wie einer, der ein Geschäft vorhat, mit langen Schritten. Dicht unter der lauschenden Frau bog er in den Hain, in den der Graben mündete.

Gott sei Dank, dachte die junge Frau, daß ich nicht mehr dort unten bin. Wäre mir dieser Mensch im Dickicht begegnet, ich wäre erschrocken. Er zeigt kein gutes Gesicht und hat wohl auch nichts Löbliches im Sinn. Gott behüte mein Kind, daß es ihm nicht in den Weg läuft.

Und sie beschleunigte ihren Gang und rief »Lothar! Lothar!« zu der Ruine hinüber. –

Zu der gleichen Zeit, wo der Vater aus dem Geäste der Lärche auf das Gesims des geborstenen Turmes kletterte und die Mutter aus dem verwilderten Garten in das Dornengestrüpp hineinstieg, das sich um den oberen Rand des Grabens legte, saß der Knabe in der Krönung eines Renaissancekamines zwischen zwei pausbäckigen Putten und verzehrte einen Apfel.

Warum er auf diesem sonderbaren und hohen Sitze saß, das hätte er erzählen können, nicht aber, wie er in dies Gemach gelangt war. Er war durch ein Fensterloch aus dem Graben in den Palast gestiegen und von Saal zu Saal gegangen, durch zertrümmerte Türen, an Pfeilern ohne Gewölbe vorbei, über die Neste verkohlter Balken hinweg. So kam er in das Prunkgemach, von dessen dereinstiger Pracht die steinernen Fensterverkleidungen, der Türschmuck und vor allem der Kamin Zeugnis gaben.

Als der Knabe in dies Gemach getreten war, ging er zweifellosen Schrittes auf das Kamin los, hob ein Brett hinweg, das die alte Feuerstätte zudeckte, und stieß einen Ruf des Entzückens aus. Der wohlbekannte Duft, der ihn beim Eintreten begrüßt hatte, hatte ihn nicht betrogen, und mit sicherem Blick hatten die Augen alsbald den Hort gefunden. Auf Stroh gelagert leuchteten ihm die schönsten Äpfel entgegen, große dunkelgelbe mit mattroten Flecken, reif und mürb, alle noch vom vorigen Jahr, ein köstlicher Schatz. Ohne Bedenken suchte sich der Knabe die drei schönsten aus, steckte sie in sein Wämslein und dachte: Einen für mich, einen für die Mutter und einen für den Vater. Dann griff er nach zwei weiteren, um sie auf der Stelle zu verzehren.

Nun sah er sich nach einem Ruheplatz um, damit er in Behaglichkeit schmausen könne. Aber da war weder Stuhl noch Bank, weder Gesims noch Schemel. Hätte er sich auf das Brett gesetzt, so hätte er die köstlichen Früchte zerdrückt, denn das Brett lag nicht auf den Rändern der Feuerstätte auf. Da sah er in die Höhe und schaute einem lustigen Knaben aus weißem Sandstein ins derbe Angesicht, und daneben, hinter breitem Laubwerk, lugte ein anderer hervor.

Das ist gute Kameradschaft! dachte Lothar; dort hinauf komme ich leicht. Aber er dachte auch an seine Mutter und wie diese schelten würde, wenn er sein schönes Wämslein schmutzig brächte. So zog er es aus und legte es in einen gesäuberten Winkel neben den Kamin. Dann streifte er die Ärmel seines Hemdchens zurück, steckte die beiden Äpfel, die er zu verzehren gedachte, in seine Hosentaschen und kletterte an dem steinernen Geranke der Kaminwand hinauf, und im Nu war er auf dem vorspringenden Dach. Allerdings, es war hier über die Maßen staubig; der Staub eines Jahrhunderts lag dort oben. Wenn ich mich da hineinsetze, sind meine blauen Samthöschen verdorben, dachte der Knabe. Was tun? Er holte seine Äpfel aus der Tasche und legte sie in ein steinernes Füllhorn, dann streifte er seine Höschen von den Beinen, warf es zu seinem Wämschen hinunter, schwang sich auf das Gesimse und setzte sich rittlings über ein hervorquellendes Traubengehänge. Rechts und links vor ihm saßen zwei andere Knaben, geradeso pausbäckig wie er, mit geradeso drallen Gliederchen, wie die seinen waren. So saßen sie schon seit dritthalbhundert Jahren und hatten auf Liebliches und Grausiges heruntergeschaut, aber was sie heute erlebten, das war etwas ganz Neues. Einer ihresgleichen saß zwischen ihnen und verzehrte mit beißenden Zähnen wirkliche Äpfel.

Nun aber geschah noch etwas ganz Merkwürdiges.

Als der eine Apfel verzehrt und der andere angebissen war und dem kleinen Lothar gerade einfiel, es möchte jetzt die Mutter bis auf tausend gezählt haben und für ihn die Zeit zur Rückkehr gekommen sein, da trat ein Mann mit einem langen Eisen in den Saal, und ohne sich weiter umzuschauen, ging er in eine Fensternische und fing an, an einem Eisenstück zu zerren, das in der Mauer stak. Als er es nicht herausbrachte, nahm er die Eisenstange und stieß damit in die Mauer, daß Wand und Boden zitterten. Bald sprangen Stücke des Quaders davon und auch von der schönen Fensterumrahmung ein spannenlanger Streifen. Unbekümmert fuhr er in seinem Werke fort, und obgleich das Eisen, um das es ihm zu tun war, auf den Boden gefallen war, stieß er erbarmungslos ein Mal über das andere in die Steinwunde hinein.

»Halt, mein Freund!« rief eine bittende Stimme. Sie hatte einen fremdländischen Klang, und der hochgewachsene Mann, der in das Gemach eintrat, sah aus wie eine Gestalt aus vergangener Zeit. Er hatte etwas Gebietendes und zugleich Bescheidenes in seinem Wesen und trug sich, wie sich die Kavaliere getragen hatten, deren Zeit damals vorüber war. Er mochte in den Fünfzigern sein, hatte aber einen leichten Gang und die aufrechte Haltung des Soldaten.

Bittend trat er auf den Mann zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte:

»Euer Eisen ist ja schon da, so steckt es ein und geht Eures Wegs. Was verderbt Ihr die unschuldigen Zieraten?«

»Weil es mir Spaß macht«, lachte der Geselle und schlug ein steinernes Fensterkreuz in Trümmer. »Und weil es niemand etwas angeht, was ich hier treibe, und weil es den hergelaufenen Franzosen ärgert, darum schlag ich zusammen, was ich mag.«

Er holte aus, um den zarten Schmuck, der sich um das Fenster schmiegte, völlig zu zerstören.

Da faßte ihn der Kavalier am Kragen und zog ihn vom Fenster weg.

Der Geselle riß sich wütend los und holte mit seiner Eisenstange zu einem Schlag aus.

In diesem Augenblick fuhr ihm etwas wie ein Faustschlag mitten auf die Nase, daß das Blut herausspritzte. Es war der Apfel, den der Knabe von seinem hohen Sitz herab in wohlgezieltem Wurfe dem Burschen mitten ins Gesicht geschleudert hatte. Zugleich fing der Kleine an zu schreien mit gellendem Ton, der wie Trompetenklang die Luft durchschnitt: »Vater! Mutter! Vater! Mutter!«

Die Wirkung war wunderbar. Der Getroffene wischte sich mit der Hand das Blut aus dem Gesicht und sah schreckensbleich in die Höhe. Siehe! Einer von den Knaben dort oben war lebendig geworden; er ballte beide Fäuste wider den frechen Zerstörer und rief in gellendem Geschrei unausgesetzt: »Vater! Mutter! Vater! Mutter!«

Der Mann taumelte zurück, warf das Eisen aus der Sand, flüchtete aus dem Saal, und bald hörte man, wie er heulend den Abhang der Schlucht hinuntersprang. –

Als der Kleine in seinem Geschrei eine Pause machte, sagte zu ihm der wunderliche Fremde:

»Du hast mir das Leben gerettet; aber du hast, was mehr wert ist, vielleicht auch das Schloß gerettet. Was bei diesem Volke Gefühl und Einsicht nicht vermögen, das vermag vielleicht die Furcht des Aberglaubens. Aber nun steige herunter, du Äpfeldieb – du bist hinter meine Äpfel geraten – und wenn du unten bist, dann erzähle, wie du hinaufgekommen. Tritt sachte auf, daß du nichts beschädigst; so! Und nun sage, pflegst du im bloßen Hemdlein die Äpfel zu stehlen? Geht es so besser?«

»Nein, aber die Mutter ist betrübt, wenn meine Kleider gar zu schmutzig sind.«

»Wie heißest du?«

»Lothar! Und mein Vater und meine Mutter sind auch da.«

»Hier ist die Mutter«, sagte eine sanfte, süße Stimme. Der Kavalier verneigte sich tief. Die schöne Frau schloß den Knaben, der sich gerade die Hosen gürtete, an ihr Herz.

Dann stand sie auf, neigte sich anmutsvoll und sagte: »Ich grüße den Herrn und Gebieter dieses Märchenschlosses.«

»Ach, nicht sein Herr bin ich, sondern des Schlosses unwürdiger Diener, der seine Herrlichkeiten hütet, damit sie von einem stumpfsinnigen Volk nicht zerschlagen werden. Und Gebieter? Zu gebieten habe ich hier gar nichts, sondern demütig zu bitten, daß man mir erlauben möge, das schönste Kleinod Deutschlands vor der Zerstörungssucht der Deutschen zu schützen. So suche ich gutzumachen, was meine Vorfahren hier gesündigt haben. Vielleicht kommt einmal die Zeit, wo ihr Volk erkennen wird, welch einen Schatz es in diesen Trümmern besitzt.«

»Gewiß, sie wird kommen«, rief der Vater, der unbemerkt eingetreten war und dem Gespräch gelauscht hatte; »und dann wird man sich dankbar des treuen Fremdlings erinnern, der unseren Schatz gehütet hat.«

»Oh, nun sind wir alle da!« rief die Mutter voller Freuden. »Wo bist du so lange? Wie kommst du hierher?«

»Ich habe manches gezeichnet; hierher bin ich gelangt auf wunderlichen Wegen, aus dem geborstenen Turm durch mancherlei Gemächer und Gänge. Als ich in den Schloßhof trat, hörte ich des Knaben Hilferuf. Aber nun erzählt, was ist denn geschehen?« »Ja, da gibt's zu erzählen«, sagte der Kavalier. »Aber nicht an dieser Stätte.« Er hob die Eisenstange vom Boden und wies auf den Ausgang.

Sie waren aus dem Saal und aus dem Palast geschritten und gingen gerade die Treppe hinunter in den Schloßhof.

»Ich bitte Sie, mit mir zu kommen. Dort hinter der Sonnenuhr hause ich mit meinem Diener. Von dort beobachte ich die Eintretenden und spähe in ihren Mienen, was sie im Sinne haben. Die feigen Räuber brechen deswegen jetzt von hinten herein.

»Vor sieben Jahren kam ich hierher, ein heimatloser Flüchtling, gescheucht von der Raserei seines Vaterlandes. Ziellos wandernd fand ich das Schloß.«

»Wie wir«, rief die schöne Frau.

»Ich wußte nichts von ihm, als daß mein Ahnherr dabei war, als die Unerbittlichkeit des Krieges seine Zerstörung verlangte. Als ich im Schloßhofe stand und das alles schaute, was Sie hier sehen, da hatte ich für den Rest meines Lebens einen Zweck gefunden.«

»Dort wohnen Sie beide ganz allein? Fürchten Sie sich nicht in dem weiten Schloß?« fragte der Knabe.

»Wie kann man fürchten, wo man liebt? – Aber nun kommen Sie, treten Sie ein! Es sitzt sich droben bequem am eichenen Tisch, und etwas, den Hunger zu stillen, wird auch vorhanden sein.«

»Hier hab' ich drei Äpfel, meinen Teil hab' ich schon gegessen!«

Der alte Herr hob lächelnd den Finger. Dann schaute er sich nach den Eltern um, die zurückgeblieben waren und entzückt im Schloßhof sich umschauten.

»Es wird nicht lange währen«, rief der Vater, »so werden die Menschen von allen Enden der Erde hierher wallen, damit ihre Seelen erhoben werden durch dies einzige Werk, das Kunst und Natur, Wachstum und Zerfall im fruchtbaren Wettkampf miteinander geschaffen haben.«

»Die Zeit ist schon da«, rief der Kavalier, »und ihr, meine lieben Gäste, seid die ersten Pilger. Tretet ein!«


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