Paul Scheerbart
Das große Licht
Paul Scheerbart

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Flora Mohr

Eine Glasblumen-Novelle in acht Kapiteln

Erstes Kapitel

Der Minister Mikamura warf seinen Zahnstocher in seinen großen Garten und rief alle seine Diener zusammen. Und während sie zusammenkamen, ging im Osten über dem stillen Ozean die Sonne auf, und gleich danach fuhr das Automobil des Barons von Münchhausen in Mikamuras großen Garten hinein.

Es war der 18. November des Jahres 1905 p. Chr. Mikamura hatte alle Damen und Herren der Umgegend eingeladen, Vorträgen des Barons von Münchhausen zuzuhören. Die Gäste warteten auf der großen Dachterrasse, auf der man im Osten den Stillen Ozean mit Sonne sehen konnte. Die Japanerinnen hatten alle seidene bunte Gewänder an, die Japaner trugen Frack und Zylinder.

»Warum sind nur die Damen in Nationaltracht?« fragte der Baron, aber die Gräfin Clarissa vom Rabenstein, die den Baron begleitete, sagte gleich:

»Münch! Rede nichts Überflüssiges! Du wolltest von Mr. Weller in Melbourne erzählen!«

Die ganze Dachterrasse war mit gelben Segeltüchern überspannt, die Gäste des Ministers begrüßten den Baron und bewunderten sein frisches Aussehen, das er trotz seiner hundertundachtzig Jahre zur Schau trug.

»Wie kann man nur so schrecklich alt werden?« fragte die Gattin des Ministers.

Und die Gräfin Clarissa vom Rabenstein erwiderte:

»Man muß nur immer sich Mühe geben, bei guter Laune zu bleiben, dann wird man täglich älter.«

Der Baron setzte sich auf einen amerikanischen Mahagonisessel, die japanischen Damen setzten sich ringsum im Halbkreis auf den mit japanischen Matten bedeckten Fußboden, und die Herren im Frack setzten sich im Hintergrunde ringsum auch im Halbkreis auf weißlackierte Stühle; Alle, die zuhörten, konnten das Meer sehen, der Baron saß mit dem Rücken zum Meere; die Gräfin Clarissa trug japanische Kleider und saß mit den Japanerinnen zusammen in japanischer Manier.

Und der Baron erzählte:

Als ich im vorigen Jahre in Melbourne war, der großen Ausstellung wegen, besuchte ich auch meinen alten Freund Mr. William Weller, der allerdings mehr als hundert Jahre jünger ist als ich – aber doch nicht mehr zu den Jüngsten zählt. Weller hatte in der Nähe von Melbourne palastartige Gebäude, in denen er Glasblumen fabrizierte und in köstlichen Sälen ausstellte. Äußerlich wirkten die Gebäude wie die Anlagen eines großen botanischen Gartens, und im Freien sah man auch viele natürliche Blumen. Doch im Innern dieser Paläste gabs nur Blumen aus Glas – und Früchte aus Glas. Ich hatte viel davon gehört und war sehr neugierig.

In der Vorhalle – einer Rotunde – herrschte eine schwermütige feierliche Dämmerung wie in einer uralten Kirche. Man hörte keinen Laut von der Außenwelt und mußte Filzpantoffeln anziehen und ging auf einem dunkelvioletten sehr dicken und weichen Bodenbelag, der keine Musterung zeigte. In der Mitte der Rotunde wuchsen drei riesige Glaslilien aus dem Boden heraus.

Wenn ich aber von Lilien spreche, so bediene ich mich da nur eines Wortes, das ungefähr der Phantasie eine Richtung geben soll; Weller wollte keineswegs mit seinen Glasblumen eine Nachahmung der natürlichen bieten – nichts lag ihm ferner als dieses.

Diese Lilien hatten schneeweiße Stengel, und diese Stengel ähnelten ein wenig den Eisblumen, die wir im Winter an Fensterscheiben sehen. Die Stengel hatten Faustdicke und viele knollige Auswüchse und armbreite Äste, an denen sich zitronengelbe dütenförmige Blüten befanden; und aus diesen ragten lange perlmutterartig schillernde Staubfäden heraus in Spiralformen und in ganz unregelmäßig gedrehten und gewundenen Formen. Die zitronengelben Blüten waren meterlang, und es waren mehr als drei Blüten – es gingen aber nur drei faustdicke Stengel aus dem Boden heraus, der in der Mitte höher war als im übrigen Saal-Raum, sodaß man diesen Blüten nicht näher kommen konnte.

Jetzt aber, meine Damen und Herren, müssen Sie sich die Seitenwände der Rotunde vorstellen – da waren Rankengewächse vor schwarzen, straff gespannten Sammetwänden – das Astwerk der Ranken weiß und undurchsichtig – die Blüten blau rot und grün und vielfach durchsichtig. Diese Wandblüten waren alle klein – nur wenige hatten Handgröße. Und natürlichen Blüten ähnelten diese Glasblüten fast garnicht.

Als ich mich da zum ersten Male in dieser Rotunde befand, staunte ich wohl eine gute halbe Stunde alles an – das Licht kam von der Kuppel herunter, die auf weißem undurchsichtigen Grunde schwarzes Linienornament zeigte. Und dann kam Mr. William und begrüßte mich.

»Aber Münch«, rief William gleich, »benimm Dich nur nicht so, feierlich; an so was muß man sich schnell gewöhnen. Komm nur gleich hier in diesen Experimentiersaal – da will ich Dir einen künstlichen Eissee zeigen – der ist viel interessanter als diese uralte Rotunde.«

Und danach führte mich William in seinen Experimentiersaal. Ich dachte natürlich, daß da vieles durcheinanderliegen würde, dachte an Atelierstimmung und Ähnliches – doch es war da nur ganz finster.

Aber dann wurde der ganze Fußboden ganz hell – und ich sah, daß ich auf einem großen Glasboden stand, der durchsichtig eine phantastische Glasblumenwelt in der Tiefe unter uns sichtbar machte.

»Künstliches Eis!« sagte William.

Wände und Decke bestanden aus Tropfsteingrotten, und mein alter Freund schob mir zwei dicke Stricke unter die Arme; die Stricke wurden an den Wänden von Dienern gehalten, und ich ging nun gestützt von den Stricken neben meinem Freunde, der sich auch so stützen ließ, auf dem durchsichtigen Glasboden weiter. Und dabei sahen wir in die Tiefe.

Ach ja, meine Herrschaften, was ich da mit zwei Stricken unter den Armen zu sehen bekam, läßt sich leider nicht so leicht beschreiben. Ich sah in eine bunte, ganz fabelhafte Blumen- und Fruchtwelt hinein, und mit jedem langsamen Schritt auf Filzschuhen rutschend veränderte sich das bunte Bild unter uns.

Mr. Weller sprach dabei in einem fort:

»Du darfst nicht glauben«, sagte er, »daß da unten immer alles am selben Platze bleibt. Da unten laß ich täglich alles anders zusammenstellen. Und so hab ich täglich immer etwas anderes da unten zu sehen. Jede Blume sieht ganz anders aus, wenn sie dem Eisboden nahe ist – und anders, wenn sie sich tiefer befindet. Nun kommt noch hinzu, daß der künstliche Eisboden an vielen Stellen Vergrößerungslinsen hat – und auch Stellen, an denen das Glas nicht so dick ist – und auch Stellen, die große Höhlen und Vertiefungen haben. So wird die Glasblumenwelt da unten gar köstlich variiert. Und wenn ich nun Befehl gebe, unten die Blumen ein bischen herumzufahren, so hast Du einen Kaleidoskopeffekt erster Güte. Paß mal auf!«

Und dann kams, wie er sagte.

Und das müssen Sie sich nun mal vorstellen; Sie können ihre Phantasie anstrengen, wie Sie wollen, die Wirklichkeit werden Sie nicht übertrumpfen.

Lange hielt ich natürlich diesen Farben-, Formen- und Funkenzauber nicht aus.

Als mein Freund merkte, daß es mich angriff, ließ er plötzlich unten alles dunkel machen – und da atmete ich auf, Sie können mirs glauben.

Dann frühstückten wir in einem großen Fruchtzimmer. Das erinnerte so an die Märchen von Tausend und Einer Nacht. Die Früchte bestanden aber nicht einfach aus Rubinen und Smaragden – diese Wellerfrüchte sahen noch köstlicher aus, obschon die Farben nicht so brannten wie bei den Brillanten.

Weller wollte die Kugelform in seinen Früchten überwinden und gab nun alle möglichen Formen, die anders als Kugeln sind – gleichzeitig vermied er das Krystallinische, sodaß man auch nicht an Brillanten erinnert wurde.

Das Innere dieser Kunstfrüchte wirkte zumeist noch interessanter als die äußere Form.

Ganz unbeschreiblich leuchteten aber die Farben. Die Farben, die im Glase hervorgebracht werden, sind ja viel herrlicher als alle anderen Farben; ein Farbenfreund muß eigentlich ganz naturgemäß zum Glasfanatiker werden.

Und so wars dem lieben William Weller auch gegangen; die Glasmalerei hatte ihn zu den Glasblumen und Glasfrüchten geführt.

Jedoch wir frühstückten nicht allein zusammen; eine junge Dame leistete uns Gesellschaft.

Wenn Sie sich aber denken, daß diese Dame sehr freundlich zu uns gewesen wäre – so täuschen Sie sich gewaltig.

Weller stellt die Dame folgendermaßen vor:

»Hier, Herr Baron, haben Sie das Vergnügen, meine Großnichte, Fräulein Flora Mohr aus Graudenz, kennen zu lernen. Wenn Sie glauben, daß diesem Fräulein meine Paläste sehr großen Spaß machen, so sind Sie auf dem Holzwege.«

»Lieber Großonkel«, sagte darauf Fräulein Flora, »ich kann mich nicht anders geben, als ich bin. Mich erfreuen die natürlichen Blumen mehr als Deine künstlichen.«

»Sehen Sie«, rief nun lachend mein alter Freund, »hab ich nicht Recht? Das ist doch mal eine ehrliche Natur. Die paßt hierher, sag ich Dir, mein lieber Münch! Die paßt hierher – so wie die Faust aufs Auge. Oh – wie ich die Kontraste zu schätzen weiß!«

Genau so waren die Worte meines Freundes gesetzt – ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, sonst könnte ich ja garnicht so viele Geschichten erzählen; William sagte immer, wenn er erregt wurde, mal Sie und mal Du zu mir.

Ich aber bekam von seiner Erregung nichts ab, ich wurde nur neugierig und wollte wissen, wie denn diese Großnichte in diese Glasblumenpaläste hineingeraten wäre, und ich fragte danach, und sie sagte:

»Ich bin ja die Großnichte meines Großonkels.«

Diese Antwort machte mich natürlich nicht klüger.

Fräulein Flora Mohr kam mir nicht sehr interessant vor, und ich fragte nach dem Frühstück den lieben William, als ich ihm wieder allein gegenübersaß, weswegen diese Dame bei ihm sei.

»Mensch«, rief er da lachend, »sie will Geld von mir haben.«

»So gibs ihr doch«, erwiderte ich, »dann bist du sie los. Wenn sie die Glasblumen nicht leiden kann, so ist ihr hier doch nicht zu helfen.«

Da sagte William:

»Liebster Münch, so gutmütig, wie Du denkst, bin ich leider nicht; ich werde doch nicht einer Großnichte Geld geben, die mir in Gegenwart aller anderen Leute immer wieder versichert, daß sie die Naturblumen lieber hat als meine Kunstblumen.«

Darauf konnte ich natürlich nichts erwidern, ich glaubte jedoch, daß hier noch ein andrer Haken dahinter sein müsse, und beschloß, mich mal mit dieser merkwürdigen Angelegenheit näher zu befassen.

Ich sehe jedoch, daß wir den Morgenkaffee bekommen sollen. Und so werde ich Ihnen das Weitere nach dem Kaffee erzählen.

 

Nach diesen Worten hörte der Baron zu erzählen auf; die Herren schmunzelten, und die Damen erklärten dem Baron, daß sie jetzt auch sehr neugierig seien.

Und dann tranken alle ihren Morgenkaffee und blickten dabei in die blauen. Fluten des stillen Ozeans.

Die Sonne stieg derweil langsam höher.


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